Ernest Galpert

Ernest Galpert

Ernest Galpert
Uschhord, Ukraine

Ernest Galpert ist ein großer, schlanker Mann, der sich schnell bewegen kann. Obwohl er bald 80 wird, kann man ihn keinen alten Mann nennen. Er sitzt aufrecht und hat die Figur eines jüngeren Mannes. Dazu hat er dicke Haare, helle Augen und ein schönes Lächeln. Auf offiziellen Dokumentationen steht der Name Ernest, aber er wird Ari genannt – ein Spitzname für Archnut. Seine Kinder und der Rest der Familie nennen ihn Ari-bacsi [„Onkel“ auf Ungarisch]. Er spricht fließend Russisch mit einem leichten ungarischen Akzent. Das Paar Galpert ist sehr herzlich und offen. Sie haben über 40 Jahre in dieser Wohnung, in einem Gebäude gewohnt, das mitten in Uschhord in den 1920er unter tschechoslowakischer Herrschaft gebaut wurde. In der Wohnung, die sie sehr sauber halten, haben sie alte, schwere Möbelstücke. Ernests Frau Tilda kümmert sich gut um den Haushalt. Zusammen bilden sie ein liebevolles Paar. Sie sind immer zusammen und zwischen ihnen gibt es viel Liebe.

Familienhintergrund

Mein Großvater und meine Großmutter Galpert väterlicherseits wohnten im Dorf Nishnije Worota [60km von Uschhorod], in der Region Wolowez im Karpatenvorland. Ich kannte meine Großeltern sehr gut. Mein Großvater, Pinchas Galpert, wurde in den 1860ern in Nishnije Worota geboren. Meine Großmutter Laya wurde in den 1870ern geboren. Ich weiß weder ihren Geburtsort noch ihren Mädchennamen. Ich habe nie Verwandte von ihnen kennengelernt. Mein Großvater absolvierte die Jeschiwa, doch weiß ich nicht, wo sie war. Ihre Kinder wurden in Nishnije Worota geboren. Mein Großvater und Großmutter hatten acht Kinder. Mein Vater, Eschje Galpert, in 1896 geboren, sein jüngerer Bruder, Idl, und seiner Schwester, deren Name ich vergessen habe, wohnten bei den Eltern. Die Schwester meines Vaters zog bei ihrem Mann ein, als sie heiratete. Ich kann mich nicht an sie erinnern. Der restlichen Kinder unserer Großeltern zogen auch weg, als sie älter wurden. Ein Bruder meines Vaters, an dessen Name ich mich auch nicht mehr erinnern kann, zog nach Bogota, Kolumbien. Sein anderer Bruder, Moische Galpert, wohnte in Michalovce in der Slowakei. Die ältere Schwester meines Vaters wanderte in die Schweiz ein. Die Brüder meines Vaters Jankel und Berl zogen in den 20ern nach Palästina, nachdem sie vor dem 1. Weltkrieg ihre Vorbereitung auf den Hachschara-Gütern gemacht hatten. Sie waren in einem Trainingslager für junge Menschen, wo jüdische Jugendliche auf das Leben in Palästina vorbereitet wurden.

Zu Beginn von 1934 zog die Familie meines Vaters nach Mukatschewo. Eigentlich wuchs mein Vater in Mukatschewo auf. Nachdem sie dahinzogen, arbeitete mein Großvater bei der jüdischen Beerdigungsgesellschaft [Chewra Kadischa]. Sein jüngerer Bruder Idl war sein Assistent. Idl wohnte bei seinen Eltern vor seiner Ehe. Mein Großvater war Chassid. Ich kann mich an ihn als alten Mann erinnern. Er hatte einen grauen Bart und Pejes [Schläfenlocken]. Unter der Woche trug er einen schwarzen Anzug und einen großen schwarzen Hut und samstags trug er einen langen schwarzen Kaftan und eine Kippa mit 13 Eichhörnchen-Schwänzen, die die Chassidim samstags und zu jüdischen Feiertagen trugen. [Anm. d. Ü.: Der Hut, den die Chassidim normalerweise zu Feiertagen tragen, heiß Streimel.] Meine Großmutter war eine Hausfrau. Sie trug schwarze Kleider und ein schwarzes Tuch. Sie war sehr nett und warmherzig und liebte ihre vielen Enkelkinder. Sie starb in 1937, im Alter von 60. Jetzt, im Alter von 80, verstehe ich, dass sie nicht sehr alt war, aber damals schien sie mir sehr alt zu sein. Vielleicht wurde sie vorzeitig alt, weil ihr ihre Kinder fehlten, die weit weg von zuhause wohnten.

Die Familie meines Vaters war sehr gläubig. In einer chassidischen Familie hätte es nicht anders sein können. Mein Großvater ging jeden Tag in die Synagoge – so wie seine Söhne nach ihren Bar-Mizwoth. Zuhause nahmen sie Sabbat und die jüdischen Feiertage wahr und sprachen Jiddisch. Mein Vater und dann sein jüngerer Bruder Idl absolvierten den Cheder und gingen danach zur Jeschiwa in dem Ort Nitra in der Slowakei. Dieser Teil der Slowakei gehörte damals Österreich-Ungarn. Mein Vater erzählte mir ein bisschen von der Jeschiwa. Dort waren meistens junge Männer aus ärmeren Familien, die zum Studieren aus anderen Dörfer dahinfuhren. Studenten aus wohlhabenderen Familien aßen im Restaurant. Diejenigen, die das nicht leisten konnten, aßen bei jüdischen Familien. Mein Vater erzählte mir lustige Geschichten über solche Mahlzeiten. An einem Tag war er bei einer Familie, am anderen Tag wurde er von einer anderen Familie eingeladen. Manche Familie behandelten ihn mit Arroganz, andere freundlich und andere mit Respekt. Als Kind luden wir auch Studenten von der Mukatschewo-Jeschiwa zum Essen ein. Jeden Dienstag aß Chaim, ein armer jüdischer Student, bei uns und Mutter versuchte immer was Besonders zu kochen, so dass Chaim sich heimisch fühlen würde.

Während des Ersten Weltkrieges wurde mein Vater zu den österreichisch-ungarischen Landstreitkräften, der sogenannte KuK-Armee, eingezogen. Damals spielte Religion eine wichtige Rolle in der Armee sowie im Leben überhaupt. Militärangehörige durften in die religiösen Einrichtungen ihrer jeweiligen Konfessionen – wenn es die Zeit dafür gab, natürlich. Die Juden ging samstags in die Synagoge und die Christen durften sonntags in ihre Kirche. Manchmal luden die einheimischen jüdischen Familien die jüdischen Soldaten zum Sabbat oder anderen jüdischen Feiertagen zu sich ein. Bei den Militäreinheiten konnte man sogar koscheres Essen bekommen. Mein Vater wurde von den Russen eingefangen und in die russische Region Twer gebracht. Er erzählte mir von seiner Gefangenschaft. Er redete liebevoll von den Russen. Die Kriegsgefangene arbeiteten für die Gutsherren. Sie erhielten gute Unterkünfte und Essen. Mein Vater arbeitete bei einem Gutsherrn als 1917 die russische Revolution stattfand. Dann gab es Bürgerkrieg. Als der Krieg 1918 vorbei war, entließen die Bolschewiki alle Kriegsgefangene, die von der zaristischen Armee eingefangen wurden und mein Vater kehrte nach Mukatschewo zurück. Kurz danach heiratete er meine Mutter.

Der Vater meiner Mutter, Aron Kalusch, starb vor meiner Geburt. Die Juden aus dem Karpatenvorland kamen in der Regel aus Galizien in der westlichen Ukraine. Viele ihrer Nachnamen stammten von den Namen der Dörfer oder Orte aus denen sie herkamen. Viele Juden hießen Debelzer oder Bolechover mit Nachname – Ortsnamen in Galizien. Ich glaube der Name Galpert vom Ortsnamen Galpert stammt. Es gibt niemand anderen mit dem Nachnamen Galpert in der Ukraine. Nur von Galperin habe ich gehört. Ich nehme an, wenn ihre Ahnen nach Österreich-Ungarn zogen, wurden ihren Familiennamen in die deutsche oder ungarische Version geändert. Die Familie von Großvaters Aron zogen wohl aus Kalusch weg, das ist meine einzige Vermutung. Ich weiß nicht, wo mein Großvater genau geboren wurde. Er wurde in den 1860ern geboren und war Glasschleifer.

Meine Großmutter, Laja Kalusch, wurde in den 1870ern im Karpatenvorland geboren. Ich weiß auch nicht, wo sie geboren wurde. Oder wie sie mit Mädchenname hieß. Sie war Hausfrau. Meine Mutter und ihre Schwestern und Brüder wurden in Mukatschewo geboren. Meine Mutter war die älteste der Familie. Sie wurde 1894 geboren und hieß Perl. Der Rest der Kinder wurde im Abstand von einem oder zwei Jahren geboren. Ghinde, die Schwester meiner Mutter, war das zweite Kind. Das dritte war Jankel und das jüngste war Nuchim. Meine Mutters Familie war nicht so gläubig wie die chassidischen Familien, aber sie gingen zum Sabbat und zu den jüdischen Feiertagen in die Synagoge. Jeden Tag beteten die Männer zuhause und natürlich nahmen sie den Kaschrut [die jüdischen Speisegesetze] wahr. Alle Kinder wurden jüdisch erzogen. Zuhause sprach die Familie Jiddisch und mit ihrem nicht-jüdischen Nachbaren Ungarisch.

Während des Ersten Weltkriegs war im Karpatenvorland eine Epidemie der sogenannten Spanischen Grippe. Viele starben in Mukatschewo von dieser Grippe. Um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, wurden die Leichen im jüdischen Friedhof in Gräbern begraben, die mit flüssigem Chlorid gefüllt waren. Menschen wurden auch lebendig begraben, wenn sie als hoffnungslos krank galten. So starb der jüngere Bruder meiner Mutter, Nuchim. Mein Großvater starb von der Grippe und Nuchim war noch am Leben als sie ihn 1914 zum Friedhof brachten.

Nach dem Tod meines Großvaters Aron und nachdem die Trauerperiode vorbei war, heiratete meine Großmutter wieder. Ihr zweiter Mann war jüdischer Witwer aus Michalovce, Slowakei, wo der Bruder meines Vaters, Moische, lebte. Das einzige, was ich vom zweiten Mann meiner Großmutter wusste, war, dass er Schochet [jüdischer Metzger] war. Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Ab und zu besuchte uns meine Großmutter für ein paar Tage. Ich erinnere mich daran, dass sie eine alte Frau im schwarzen Kleid und mit schwarzem Tuch war. Meine Großmutter und ihr Mann starben 1941 im Zweiten Weltkrieg. Die Juden aus der Slowakei wurden nach Auschwitz gebracht. In 1939 griffen die Faschisten [Deutschland] Polen an und bauten dort Konzentrationslager. Es gab nur Gerüchte, dass die Juden aus der Slowakei nach Auschwitz transportiert wurden. Meine Eltern wussten, dass meine Großmutter und ihr Mann ins Konzentrationslager gebracht wurden, doch teilten sie ihr Wissen mit uns nicht. Allerdings wussten wir Kinder, dass etwas Schlimmes passiert war. Meine Mutter weinte und weinte und fragte wiederholt, „wie ist Mutter? Wie ist Mutter?“ 1944, als die Juden aus dem Karpatenvorland nach Auschwitz gebracht wurde, hatten wir keine Ahnung davon, was dort passiert. Wir dachten, es wäre ein normales Arbeitslager, obwohl Gefangene auch vor Krankheiten und Hunger in den Arbeitslagern starben. Niemand wusste, dass es ein Todeslager war. Meine Mutter schrieb immer wieder Briefe an Großmutter, aber wir hörten nichts von ihr und meine Mutter war sehr bekümmert. Endlich bekam sie einen Brief von den Nachbaren von Großmutter. Sie schrieb, dass meine Großmutter und ihr Mann in Auschwitz ums Leben kamen.

Ich erinnere mich nur dunkel an den Bruder meiner Mutter, Jankel. Er starb im Zweiten Weltkrieg, aber bevor die Deutschen damit anfingen, die Juden in die Konzentrationslager zu schicken. Ihre Schwester Ghinda heiratete und zog zum Ort ihres Mannes, Wynohradiw [80km von Uschhorod]. Ich kann mich noch gut an sie erinnern, weil wir oft Urlaub mit ihrer Familie verbrachten. Ghindas Ehemann war Schneider und nach der Ehe war sie Hausfrau. Sie hatten sechs Kinder. Eine Tochter starb schon im Säuglingsalter. Ghindas Kinder waren ungefähr in meinem Alter. Ihre älteste Tochter hieß Surah. Eine ihrer Töchter, meine Nichte Olga, starb vor kurzem in Israel und ihre zweite Tochter, Perl, lebt in Kanada. Ghidas Söhne Aron und Jankel waren im Konzentrationslager. Nach der Befreiung zogen sie nach Israel. Sie lebten auf einem Kibbuz. Aron starb Ende der 1980er und mit Jankel habe ich den Kontakt verloren. Ghindas andere Tochter, dessen Namen ich vergaß, lebte in Budapest, Ungarn. Sie starb in den 1970ern. Ghinda hatte Diabetes und starb 1940. Ihre Familie war religiös. Meine Mutter war die einzige Überlebende von ihren Brüdern und Schwestern, nachdem die Deutschen anfingen, die Menschen in die Konzentrationslager zu deportieren.

Ich glaube meine Eltern hatte eine arrangierte Hochzeit, da es unter jüdischen Familien üblich war, diesbezüglich Ehevermittler- Schadchanim – anzusprechen. Meine Eltern hatten 1919 eine traditionelle jüdische Hochzeit, als das Karpatenvorland noch zur Tschechoslowakei gehörte. Meine Eltern erzählten mir davon, wie viele Gänse geschlachtet wurden und wer ihre Gäste waren, aber an andere Details erinnere ich mich nicht mehr. Ich war damals ein Junge und interessierte mich nicht für sowas. Sie hatten zuhause eine Chuppa im Hof und den Rabbiner von der Synagoge meines Vaters. Der Rabbi führte eine traditionelle Hochzeitszeremonie durch und das Brautpaar musste einen Teller mit ihren Füßen zerbrechen. Jetzt ist es Glas, aber damals war es ein Teller. Als der Teller zerbrach riefen die Gäste „Masel Tov!“ [Glückwunsch] und sangen Hochzeitslieder. Dann wurde getanzt. Zum ersten Tanz tanzte das Brautpaar, dann kamen Mizwa-Tänze, bei denen die Gäste nacheinander mit der Braut tanzten. Jeder Gast bezahlte dafür, mit der Braut tanzen zu dürfen. Die Reichen zeigten immer, wie viel Geld sie auf den Teller stecken, während die Armen das Geld sehr schnell losließen, so dass niemand wusste, wie viel. Das erzählte mir meine Mutter.

Nach der Hochzeit halfen die Verwandten meiner Eltern ihnen, ein Haus zu kaufen. Die Juden in Mukatschewo wohnten im Ortszentrum. Dort war eine jüdische Gegend in Jidischgas [„jüdische Straße“ auf Jiddisch]; es gab auch jüdische Haushalte in andern Vierteln. Meine zukünftige Ehefrau, Tilda Akerman, wohnte auch im Jidischgas und wir wohnten in der Straße nebenan, wo jüdische Häuser und nicht-jüdische Häuser sich benachbarten. Es gab keinen Platz für einen Garten. Land war teuer im Zentrum. Die Bauer wohnten und bauten ihre Produkte am Stadtrand auf. Meine Großeltern väterlicherseits wohnten bei uns in der Nähe in der Danko-Straße.

Im größten Zimmer unseres Hauses hatte mein Vater einen kleinen Laden mit Eingang durch die Haustür. Es gab drei Zimmer und eine Küche im Haus. Wir betraten die Wohnräume durch den Laden. Mein Vater verkaufte im Laden Lebensmittel. Er arbeitete alleine in Laden und es gab keine weitere Angestellten. Er machte den Laden früh morgens auf und schloss ihn früh nachmittags, um in die Synagoge zu gehen. Nachdem er wiederkam, machte er den Laden bis zum Abend auf. Manchmal kamen Kunden, auch wenn der Laden schon zu hatte, und mein Vater bediente sie trotzdem. Er hatte jüdischen und nicht-jüdische Kunden, die in unserer Straße wohnten. Wir Kinder halfen ihm auch im Laden. Mein Vater verdiente genug, um über die Runden zu kommen. Wir waren weder reich noch arm. Wir verhungerten nicht und konnten es uns leisten, am Donnerstag die Armen zu unterstützen, so dass sie den Sabbat feiern konnten. Den Armen zu helfen wurde als heilige Aufgabe – eine Mizwa – betrachtet. Donnerstags wurde in der Synagoge für die Bedürftigen gesammelt und mein Vater gab immer einen Beitrag.

Es gab in der Familie drei Kinder. Meine Schwester Olga wurde 1920 geboren. Ihr jüdischer Name war Friema. Ich wurde am 20. Juni 1932 geboren. Der Namen Arnucht wurde auf meiner tschechoslowakischen Geburtsurkunde geschrieben. Ich wurde nach meinem Großvater mütterlicherseits, Aron, genannt. Während der ungarischen Herrschaft [1939-1945] wurde ich Erno genannt und während der sowjetischen Herrschaft [1945-1991] wurde ich Ernest, aber ich wurde immer von engen Freunden Ari genannt. Meine jüngere Schwester, Toby, wurde 1925 geboren. In Israel heißt sie Jona. Auf jiddisch Tojb für Toby heißt „Traube,“ und „Traube“ heißt „Jona“ auf hebräisch.

Mukatschewo war ein jüdischer Ort. Es hieß sogar „kleines Jerusalem“ und war Zentrum des Chassidismus. Juden machten über die Hälfte der Bevölkerung in Mukatschewo aus. Es gab über 15.000 Juden im Ort. In jeder jüdischen Familie gab es fünf bis sechs Kinder. Die österreich-ungarische Behörden waren den Juden gegenüber tolerant. Juden genossen die Gleichberechtigung und, als das Karpatenvorland 1918 Teil der Tschechoslowakei wurde, wurde das Leben noch besser. Die Präsidenten der Tschechoslowakei, Masaryk und dann später Benes, erlaubten den Juden, ein öffentliches Amt zu führen. Religion wurde immer gewürdigt. Samstags gingen die Juden in die Synagoge und alle Läden machten zu. Die Ladenbesitzer und Handwerker waren alle Juden. Die Nichtjuden passten sich an. Sie wussten schon, dass sie am Schabbes nichts kaufen konnten und erledigten also alles am Donnerstag und Freitag.

Viele Juden hatten Werkstätten und Fabriken. Handel wurden meistens von Juden betrieben. Juden handelte auch das Holzfällern und Holzverkauf. Es gab reiche jüdische Familien, aber die Mehrheit war natürlich arm. Es gab jüdische Handwerker: Schneider, Schuster, Zimmerer und Schreiner. Die Friseure und Herrenfriseure waren auch Juden. Die Ärzte und Anwälte in Mukatschewo waren meistens Juden. Die Nicht-Juden waren zumeist mit Landwirtschaft beschäftig und bekleideten Ämter.

Es gab eine Beschäftigung, die nur von Jüdinnen gemacht wurde. Jede verheiratete jüdische Frau trug Perücke [Anm. Der Kopf der Braut wird rasiert und sie zieht die Perücke an, bevor sie zur Chuppa geht]. Deswegen stellten viele Frauen in Mukatschewo Perücken her. Sie verkauften ihre Perücke im Karpatenvorland und nahmen Bestellungen aus der Tschechoslowakei und Ungarn entgegen. Diese Beschäftigung benötigte besondere Fähigkeiten und Mütter fingen an, ihre Töchter vom frühen Alter an auszubilden.

Die meisten Juden lebten von einem Gehalt von der Gemeinde; sie arbeiteten für die Gemeinde. Es gab ungefähr 20 Synagogen und Betstuben in Mukatschewo. In jeder Synagoge war ein Rabbi und Schammasch. Es gab viele Cheders, wo Melamdim [Lehrer] und ihre Behelfer, ihre Gehilfen, arbeiteten. Ab drei gingen Kinder zum Cheder. Die Mohels waren für die Beschneidungen zuständig. Manche verkauften religiösen Bücher und Betartikel für die Feiertage.

Es gab in Mukatschewo zwei Schochtim. Sie arbeiteten in einem Gebäude in der Nähe der Synagoge. Die Juden aßen größtenteils Geflügel. Sie brachten ihr Geflügel zum Schochet um es schlachten zu lassen. Das Gebäude hieß Schlobrik [Anm. d. Ü.: Ernest erklärt, dass das Wort „Schlobrik“ vom Dialekt der Mukatschewo-Region kommt und ist wohl eine Mischung aus den jiddischen Wörtern „schecht“ für „Schlacht“ und „recht“ für Recht.]. Es gab einen großen Raum, in den die Juden am Abend vor dem Feiertag gingen. Sie standen in Schlangen für die zwei Schochtim. An der Theke waren mehrere Haken, worauf die Schochtim die von den Kunden mitgebrachten Hühner mit Kopf nach unten hingen. Der Schochet mussten alle Regel streng wahrnehmen. Um ein Hähnchen zu schächten, musste er sofort den Hals durchschneiden. Die Hühner bewegten sich dann immer noch und überall spritzte Blut. Der Schochet nahm das Hähnchen vom Haken runter und gab es dem Besitzer wieder. Das Blut floss noch und es sah furchtbar aus. Die jüdische Familie schickten oft die Kinder zum Schochet. Wir gingen gerne vor den Feiertagen in die Schlobrik, da es viele andere Kinder gab und wir amüsierten uns beim Quatschen. Die Kinder nahmen manchmal ein Hähnchen von jemand anders! Die Mütter dachten, sie binden bunte Bände an den Hühnerbeine, so dass die Kinder sehen können, welches Hähnchen ihnen gehörte.

Im Cheder lernte man vorwiegend Religion. Es gab auch eine jüdische Grundschule, von den Zionisten finanziert. Die Lehrkraft dort gehörte zionistischen Organisationen an. Der Rektor der Schule hieß Kugel. Er war ein großer, gutaussehender Mann. Die Schüler lernten Iwrit [hebräisch], wie es heute in Israel gesprochen wird. Es gab Lehrer aus Palästina an dieser Schule. Diese Schule gefiel den Chassidim nicht so sehr, da ihr Schwerpunkt nicht die Religion war. Das Haus steht noch und ist heute die Berufsschule.

In Mukatschewo war eine Jeschiwa – eine jüdische Hochschule. Der Hauptrabbi der Jeschiwa war der populäre chassidische Rabbi Chaim Spira. Unser Chesed in Uschhorod war nach ihm benannt: Chesed Spira. Spira war ein sehr bedeutender Chasid und war überall bekannt. Ich kann mich noch sehr gut an ihn erinnern, da mein Vater und ich Schirajem – Essensreste – bekamen. Traditionell lädt samstags ein Rabbi Chassidim zum Abendessen ein. Der Rabbi verteilt die Reste der Gerichte. Saraim bringen einem Segnungen. Chassidim nahmen jedes Stück aus den Händen der Rabbi. Manchmal kämpften sie sich dafür. Ich weiß noch, dass, als ich vier oder fünf war, ich auf Händen und Füßen krabbelte, um Schirajem vom Rabbis Tisch zu holen. Mein Vater besuchte nicht jeden Samstag den Rabbi, aber ich versuchte es. Samstagmorgens ging mein Vater in die Synagoge und als er wiederkam, saßen wir uns zum Essen hin und ich rannte zu dem Rabbi, um rechtzeitig die Schirajem zu bekommen. Einmal war ich verwirrt und, statt am Tisch mit dem Rabbi zu sitzen, saß ich am Tisch für die Arme, die sich ein Schabbes-Essen nicht leisten konnten. Sie hatten Tscholent, ein Eintopf mit Bohnen und Fleisch. Ich aß, aber einer der Chassidim fragte meinen Vater ganz böse, ob er so arm war, dass er seinen Sohn zum Armenessen beim Rabbi schicken musste. Mein Vater fragte, ob das stimme und erklärte mir den Unterschied zwischen Schirajem und dem Essen für die Arme.

Es gab ein bisschen Konkurrenz in Mukatschewo zwischen zwei Rabbiner. Außer Rabbi Spira war auch der Belzer Rebbe, auch ein populärer chassidischer Rabbi. Er baute in Mukatschewo eine Synagoge und die Gemeinde wurden in Befürworter oder Gegner der beiden Rabbis geteilt. Die Synagogen von Spira und Belze waren nah aneinander. Ich weiß nicht, wie es bei den Erwachsenen war, aber die Junge, deren Eltern unterschiedliche Synagogen besuchten, bewarfen sich gegenseitig mit Steine. Es gab auch Konflikte zwischen dem Amt der Rabbiner und den Zionisten. Ein Grund dafür, war die jüdische Grundschule. Die Grundschule beschäftigte sich nicht sehr viel mit religiösen Fächern. Wegen so einer Abwendung machten die Rabbis sich Sorgen. Es ging auch um unterschiedliche Überzeugungen. Chassidim meinten es war nicht nötig, nach Palästina einzuwandern. Sie glaubten, der Messias wird kommen und alle Juden zum Ahnenland Palästina bringen. Sie hätten nur auf ihn zu warten, während die Zionisten frühzeitig Menschen dabei halfen, nach Palästina zu ziehen. Rabbi Spira hielt oft wütende Reden gegen die Zionisten und beschimpfte sie sogar.

Es gibt ein bekanntes jüdisches Fluchwort: jemandes Namen zu löschen, so dass niemand sich an ihn erinnert. Dieses Fluchwort wird zum Purimfest ausgesprochen, wenn jemand den Namen Haman sagt. Jedes Mal, wenn Haman erwähnt wird, wird gebuht und man stampft die Füße. Kinder und Erwachsene machen krach, um Hamans Namen aus der Geschichte auszulöschen. Es gibt der Ausdruck, den Namen oder Erinnerung gewisser Menschen „auszulöschen.“ Diesen Ausdruck benutzte Rabbi Spira oft in Bezug auf die Zionisten. Manchmal eskalierte es. Während ihr diese Rede hielt, warfen ab und zu Schüler der Grundschule Eier auf Rabbi Spira. Jetzt verstehe ich, dass das alles falsch war. Aber damals nicht: Der Rabbi sprach gegen die Zionisten und sie agierten gegen den Rabbi.

Es waren zahlreiche zionistische Parteien in Mukatschewo. Es gab die Misrachi, eine orthodoxe zionistische Partei. Im Alter von 13 war ich kurz bei einem Club der Misrachi. Es gab auch ein Tanz-Club, wo Jungs und Mädels zusammen tanzten. Es war meinen Eltern schon bewusst, dass ich dahinging. Ich war sehr schüchtern und meine Eltern wollten, dass ich mit anderen Jugendlichen sozialisierte. Meine Mutter nähte mir sogar ein Shirt zum Tanzen. Ich war zu schüchtern, um mit Mädels zu tanzen und gab auf. Es gab auch andere zionistische Parteien. Es gab auch eine, die Betar hieß. Ich nannte sie Faschisten. Diese Zionisten glaubten, sie können ihre Ziele mit Waffen und Gewalt erreichen. Es gab die Hashomer Hatzair [eine sozialistische-zionistische Jugendorganisation]. Sie waren chauvinistische Juden, aber sie waren Kommunisten. Die gibt es in Israel noch und mit demselben Namen. Sie sind Zionisten und sprechen im Namen des Staates Israel, aber sie glauben, dieser Staat hat kommunistisch oder zumindest sozialistisch zu sein. Alle zionistischen Parteien waren mehr oder weniger religiös und gegeneinander. Es gab ein aktives und interessantes Leben in Mukatschewo.
Rabbi Chaim Spira starb 1937. Chassidim aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Rumänien und Polen kamen zu seiner Beerdigung. Obwohl meine Mutter dagegen war, brachte mein Vater mich mit. Sie hatte Angst davor, dass ich von der Menge getrampelt wurde. Ich kann mich noch sehr gut an Spiras Beerdigung erinnern. Der ganze Ort trauerte. Es wurden schwarze Tücher an die Häuser gehangen und die Menschen waren schwarz bekleidet. Es sah aus, als ob es plötzlich dunkel wurde. Nicht-jüdische Einwohner kamen auch zur Beerdigung. Die Polizei patrouillierten die Straßen und trugen Schutzhelme, falls es Unruhe gab. Die Menschen trugen abwechselnd den Sarg von dem Haus, wo Rabbi Spira wohnte, durch den Ort bis zum jüdischem Friedhof auf der anderen Seite der Stadt. Jede fünf oder zehn Meter wurde den Sarg einer anderen Männergruppe übergeben. So viele Menschen waren dazu bereit, dass der Sarg von Mukatschewo bis Uschhorod hätte ausgehändigt werden können. Männer trugen ihn auf ihren Schultern, um Rabbi Spira zu ehren. Manche weinten. Egal wie jung ich war, erinnere ich mich noch an diese überfordernde Trauer. So viele kamen zum Friedhof, dass kein Zentimeter Platz blieb.

Mein Vater, Eschje Galpert, war Chassid und war dementsprechend angezogen. Er trug einen langen schwarzen Kaftan und schwarze Kippa, sowie einen schwarzen Hut und Streimel zu den Feiertagen. Er hatte einen großen Bart und Pejes. Meine Mutter trug eine Perücke und dunkle Kleider. Zuhause sprachen wir nur Jiddisch. Wir, die Kinder, sprachen fließend tschechisch und gingen zu einer tschechischen Schule. Doch unsere Eltern sprachen kein tschechisch, da sie in Österreich-Ungarn geboren wurden. Die ältere Generation, so wie meine Eltern, sprachen mit ihren nicht-jüdischen Bekanntschaften auf ungarisch.

Das Aufwachsen

Mein Vater hatte eine schöne Stimme und ein musikalisches Gehör. Er sang im Chor als er in der Jeschiwa war. Vater mochte das Singen und die Musik. Onkel Idl hatte ein Grammofon. Es hatte einen Griff, den man aufziehen musste, um die Platte zu hören. Onkel Idl brachte sein Grammofon immer mit und mein Vater hörte Musik. Doch er wollte mehr hören. Die Chassidim durften nicht ins Kino oder Theater gehen. Bei uns im Kino in Dorf waren Musik-Filme mit Caruso, Mario Lanza, und Schaljapin. [Anm.: Mario Lanza (1921-1959): geboren Alfredo Arnold Cocozza, Opernsänger in Filmen, ab 1942 trug er den Künstlername Mario Lanza; Enrico Caruso (1873-1921): bekannter italienischer Opersänger; Fjodor Iwanowitsch Schaljapin (1873-1921): einer den berühmtesten russischen Sänger.] Mein Vater ging ins Kino und stand hinten an der Tür, wo niemand ihn sehen konnte. Was hätten die anderen Chassidim über die Interessen meines Vaters gesagt! Einmal kam ein berühmter Chasan [Anm. Kantor – Vorbeter in der Synagoge] in den Ort und trat in der Hauptsynagoge auf. Dahin gingen mein Vater und ich, obwohl wir schon weit weg von der Hauptsynagoge wohnten. Mein Vater sang und war Chasan in der Synagoge, in die wir jeden Schabbat und zu jüdischen Feiertagen gingen.

Alle Jungen gingen ab 3 Jahren in den Cheder. Unterricht fing um halb 7 und meine Mutter weckte mich jeden Tag um halb 6. Es war im Winter umso schwieriger aufzustehen, da es noch dunkel und kalt war. Der Cheder war ein kleines, weiß-bemaltes Zimmer in dem Haus, das im Hof der Synagoge stand und wo der Melamed wohnte. Ich weiß nicht, wie viel die Eltern für ihre Kinder bezahlen mussten, aber es war bestimmt nicht viel. Im Winter musste jeder Schüler einen Holzklotz für den Ofen mitbringen. Der Rabbi war sehr arm und wir mussten seiner Frau im Haus helfen: Wir fällten und holten Holz. Wir lernten bis Mittag und hatten dann eine Stunde Pause. Wir liefen schnell nach Hause, für ein zügiges Mittagessen, und dann liefen zurück in den Cheder. Wir durften auch spielen. Die meisten von uns kamen aus ärmeren Verhältnissen und die Eltern konnten es sich nicht leisten, Spielzeuge für ihre Kinder zu kaufen. Wir spielten Fußball mit einem Ball, den wir aus Socken zusammenbastelten.

In der ersten Klasse lernten wir das hebräische Alphabet. In der 2. Klasse, mit vier Jahren, kannten wir Jungen schon das Aleph-Beth und konnten die Gebete lesen. In der 3. Klasse, im Alter von fünf oder sechs, studierten wir Thora. Die Sprache war die selbe wie in den Gebeten, nur wurden die Nikudim [Anm. Vokalzeichen] hinzugefügt. Wir hatten in jeder Klasse einen anderen Rabbi als Lehrer, der die entsprechenden Kenntnisse für die jeweilige Klasse hatte. Ab der 3. Klasse benutzten die Lehrer einen Bambusstock. Jeden Donnerstag wurden wir geprüft und wenn ein Schüler durchgefallen war, schlug ihn der Rabbiner mit dem Bambusstock so oft wie er es angemessen fand. Jeden Donnerstag stand ich auf und meiner Mutter sagte, dass ich Kopfschmerzen habe und zuhause bleiben sollte. Mein Vater verstand schon den Grund meiner Kopfschmerzen, da er auch als Junge im Cheder war. Meine Mutter fragte Vater, ob ich nicht zuhause bleiben darf, weil sie dachte ich wäre ein schwaches Kind. Einmal dachten die Ärzte ich hätte Anämie; das tat meiner Mutter leid, doch mein Vater bestand immer darauf, dass ich in den Cheder gehe. Ehrlich gesagt, nachdem ich zurück vom Cheder nachhause kam, hatte ich nie Kopfschmerzen und konnte draußen spielen!

Ab sechs Jahren ging ich in die Grundschule. Jüdische Kinder gingen in die tschechische Grundschule für Jungen und Mädchen. Wir mussten gleichzeitig an der Grundschule und im Cheder lernen. Die Schule fing 9 Uhr morgens an. Ich frühstückte und ging normalerweise um 6:30 in den Cheder. Wir beteten um 8:30 dann ging ich in die Grundschule. Nach dem Unterricht ging ich nachhause zum Mittagessen und danach züruck in den Cheder, wo wir bis zum Abend lernten. Doch, unsere Lehrer wussten, dass wir im Cheder viel zu tun hatten und gaben uns deswegen nicht so viele Hausaufgaben.
Als ich zur Grundschule gehen sollte, schnitt mir mein Vater mein Pejes ab. Er wollte nicht, dass ich anders als die anderen Kinder bin, weil er dachte, sie würden mich hänseln. Die Jungen in der Oberstufe im Cheder hatten langen Pejes, sowie mein Vater und Großvater, und ich wollte wie sie sein. Ich weinte als er meine Pejes abschnitt. Er sagte mir, solang ich ein Kind bin, war die Länge meiner Pejes seine Entscheidung – als Erwachsene dürfte ich die Länge meiner Pejes selber bestimmen. Mit 14 oder 15 schnitt ich heimlich meine Pejes, da ich zu schüchtern dafür war, sie zu tragen. Mein Vater erinnerte mich daran, wie ich damals weinte, als er sie abschnitt. Ich trug dazu Zitzit [Anm. Schaufaden; verknotete Fäden, an dem rituellen Gebetsmantel Tallit gebunden]. Das versteckte ich in der Schule unter meinem Hemd, aber ich zog es nie aus.

In der Schule und im Cheder wurden uns unterschiedlichen Sachen erzählt und ich war oft verwirrt. Einmal kam ich nachhause mit Tränen in meinen Augen nach einer Stunde Naturwissenschaft. Ich sagte: „Unser Rabbi hat uns erzählt, dass Gott die Welt in sechs Tage schöpfte, aber die Lehrer an der Schule haben was Anderes gesagt. Wen soll ich vertrauen? Den Rabbi oder unseren Lehrer?“ Obwohl mein Vater Chasid war, war er ein sympathischer und kluger Mann und verstand, dass das ein Zusammenbrechen meines Verständnisses dieser Welt und deshalb mir eine Katastrophe bedeutete. Also sagte er mir Folgendes: „Du hörst beiden zu. Was der Rabbi sagt, lernst du für Cheder und in der Schule, sagst du das, wonach dein Lehrer fragt. Wenn du älter bist, wirst du herausfinden, was für dich richtig ist.“ Daraufhin hatte ich in der Schule gute Noten und keine Probleme im Cheder. Samstags besuchte ich meinen Großvater und er prüfte, was ich unter der Woche im Cheder lernte. Wenn er sich darüber freute, gab er mir immer Süßigkeiten. Meine Oma gab uns dagegen bedingungslos Süßigkeiten. Ich besuchte sie auch manchmal nach der Schule.

Mädchen gingen in die Beit-Jaakov-Schulen, wo sie das Schreiben und Lesen auf Hebräisch lernten. Unterricht hatten sie ein paar Stunden, einmal der Woche. Meine Schwestern gingen nicht hin, weil sie das Lesen zuhause mit unseren Eltern lernten. Meine Mutter konnte auf Hebräisch lesen und mein Vater konnte lesen und schreiben. Eigentlich lernten die Mädchen das Schreiben nicht. Sie mussten die Gebete lesen können. Die Sprache kannten sie nicht und deswegen verstanden sie nicht, was sie lesen. Im Cheder lernten wir auf Hebräisch zu lesen und das ins Jiddische zu übersetzen. Doch manche chassidischen Familien brachten ihren Töchtern das Lesen und Übersetzen bei, aber wenige von ihnen. Es gab auch Gebetsbücher übersetzt auf Ungarisch.

Vier Jahre waren wir an der Grundschule und dann waren wir vier Jahre an der sogenannten Mittelschule. Nach dieser Schule durfte man zur Oberschule. Meine Schwestern und ich absolvierten eine Mittelschule.

Wir feierten zuhause den Sabbatabend und alle jüdischen Feiertage. Freitag morgen fing meine Mutter an, für den Sabbat zu kochen. Sie kochten für zwei Tage, da sie am Samstag gar keine Arbeit machen durfte. Sie kaufte vom jüdischen Bäcker die Challa und vom Markt das Gemüse und Milchprodukte. Vor dem Sabbat gingen mein Vater und ich in die Synagoge. Danach kamen wir nachhause und meine Mutter zündete die Kerzen an und betete. Dann kam das Abendessen. Nach dem Gemeingebet sagte mein Vater eine Bracha, ein Segen, über das Essen. Danach sagen wir Zmires. Samstagmorgens gingen meine Eltern in die Synagoge. Mein Vater brachte mich mit. Nach dem Gebet gingen wir zurück nachhause und mein Vater saß sich hin, um religiöse Bücher zu lesen. Er las oft für meine Schwestern und mich vor. Damit meine Schwestern verstehen konnten, übersetzte er von Hebräisch auf Jiddisch. Er erzählte uns über die Geschichte des jüdischen Volkes und wiederholte die Geschichten aus der Thora. Danach gingen wir meine Großeltern besuchen.

Während des Monats Adar bereiteten wir uns auf Pessach vor. Mein Vater hatte viele religiöse Bücher: das gesamte Talmud, den Tanach und viele mehr. Einmal im Jahr, vor Pessach, mussten wir die Bücher lüften. Wir nahmen eine Leiter in den Garten und stellten besondere Sperrholzbretter darauf. Dann setzten wir die Bücher auf diese Bretter und mischten die Seiten durcheinander. So fingen die Vorbereitungen für Pessach an. Es gab eine Liste von Aufgaben, die jeden Tag zu erledigen waren. Meine Mutter räumte die Küche auf und meine Schwestern und ich die anderen Räumlichkeiten. Wir mussten alle Krümel entfernen und alle Brotreste an die nicht-jüdischen Nachbaren geben. Am Abend vor Pessach kontrollierten wir, dass alles richtiggemacht wurde. Wenn wir nicht geglaubt haben, dass alles sauber genug war, führten wir das Ritual Bedikas Chamez durch, ein symbolisches Aufräumen [Anm. Dieses Ritual wird obligatorisch vor jedem Pessach durchgeführt.]. Am Abend davor steckte meine Mutter ein Paar Brotstücke irgendwo hinter einen Kleiderschrank, unter den Tisch oder auf einen Regal. Mein Vater prüfte das Haus mit einer Kerze in der Hand, um zu bestimmen, ob es noch Chamez gab. Er hatte auch eine Gansfeder und Schaufel bei. Er fegte das gefundene Chamez in die Schaufel und suchte weiter durch das Haus. Das Chamez wickelte er in einem Stück Stoff ein – dieses Paket stellte er meinem Holzlöffel auf, um zu zeigen, dass es kein Chamez mehr gab. Am Vorabend kamen die Nachbaren zusammen, um ihr Chamez zu verbrennen. Jeder hatte Chamez im Stoff eingewickelt, eine Feder und einen Holzlöffel, was verbrannt wurde. Dann beteten sie. Danach durfte ich kein Brot essen. Ich durfte Kartoffel essen, aber kein Brot.

Zuhause nutzten wir nur koscheres Geschirr. Es gab Geschirr für Fleisch- und Milchprodukte, die nicht zu mischen waren. Dazu hatten wir auch besondere Utensilien und Geschirr für Pessach. Dafür packten wir das Alltagsgeschirr in einem Korb im Keller oder Dachboden weg und nahmen das besondere Geschirr mit runter. Wir Kinder konnten kaum darauf warten, bis die Eltern die Gläser auspackten. Dem Brauch nach sollte jeder Jude vier Gläser Wein am ersten Sederabend trinken. Es gab für unsere Eltern große Gläser und kleinere für uns Kinder. Jeder hatte sein eigenes Glas. Wie wir uns über das besondere Geschirr im Haus freuten! Zum Pessach hatten wir schicke Gläser. Das größte war für Elias, den Propheten.

Zum Sederabend wurde der Tisch mit einer weißen Tischdecke bedeckt. Wir waren in guter Stimmung. Es gab Servietten, mit Sprüchen aus der Thora bestickt. Die wurden für das Decken der Matzen benutzt. Im Mukatschewo gab es eine jüdische Bäckerei, die die Matzen herstellte. Die Bäckerei wurde davor von Chamez gereinigt. Der Rabbi bestätigte dann, dass die Bäckerei sauber ist und gab seine Genehmigung für das Backen von Matzen. Jede Familie bestellte so viel wie sie brauchte und die fertigen Matzen wurde zuhause in großen Weidenkörben geliefert. Die Bäckerei blieb den ganzen Monat auf. Die ganze jüdische Gemeinde stellte armen jüdischen Familien Mazzen zur Verfügung, doch es gab sehr wenig davon und diese Familien hungerten während des Pessach, da sie Brot – ihre Haupternährung – nicht essen durften. Am Tag vor Pessach gingen die meisten religiösen Chassidim in die Bäckerei, um ihre eigenen Matzen machen, da sie dem Bäcker nicht vertrauten. Schmura Matze war sehr teuer. [Anm. Matze schmura ist eine Matze aus Weizen, die seit der Ernte und Mahlen unter Beobachtung steht.] Jeder kaufte die Art Matze, die er sich leisten konnte – aber jeder kaufte Matze. Da mein Vater kein Fanatiker war, kauften wir normale Matze. Jetzt gibt es Geräte für die Herstellung von Matzen, aber damals wurden sie handgemacht. Der Teig war aus Weizen, den von Juden angebaut wurde. Es gab jüdische Bauern dafür. Das Getreide wurde in von Juden getriebenen Mühlen gemahlen. Keine nicht-jüdische Hand fasste die Matze an. Wir waren keine wohlhabende Familie und wir Kinder hatten immer Hunger zum Pessach. Wir wollten von morgens bis abends Matze kauen, aber davon gab es nicht genug.

Zehn Tage vor Pessach bereitete meine Mutter die Rote Beeten für Borschtsch in einer großen Schüssel vor. Sie schälten die Beeten und steckte sie ins Wasser; zum Pessach wurden die Roten Beeten zum Beete-Kwass [ein Brot-Getränk mit Hefe] zubereitet. Im Karpatenvorland heißt dieses Gericht Borschtsch. Vor Pessach schickte mich meine Mutter zum Schochet, zum Metzger mit den Hühnern. Sie kochte Hühnerbrei und Nudeln. Ich koche immer noch Nudeln zum Pessach. Sie kochte auch Tscholent: ein Eintopf mit Fleisch, Kartoffeln und Bohnen. Für jeden Feiertag backte sie außerdem Kuchen. Als Kinder mochten wir Matzen mit Milch. Ich erinnere mich noch an Stücke Matze in meiner kleinen blauen Emaille-Schüssel.

Am Sederabend zündete meine Mutter die Kerzen an. Dann wurden die Gebete rezitiert. Die Männer gingen danach in die Synagoge. Als wir zurückkamen, war der Tisch schon mit einer weißen Tischdecke und Essen gedeckt. Da herrschte schon eine feierliche Stimmung. Der Seder war ein Familienfeiertag. Das Wort „Seder“ heißt „Ordnung.“ Dafür gibt es ein strenges Vorfahren, was man durchführen muss. Die Beteiligten mussten sich zurücklehnen: die Sitze waren mit Kissen ausgestattet, so dass man sich darauf zurücklehnen konnte, um Freie und Adliger nachzuahmen. Nur mein Vater lehnte sich auf dem Kissen zurück. Der Meister des Hauses trägt ein weißes Gewand, das man Kittel nennt. Es wird nur zum Sederabend und in der Synagoge zum Jom-Kippur getragen [Anm. Männer werden auch damit begraben].

Mein Vater saß zum Sederabend immer am oberen Ende des Tisches. In der Haggada wird das Vorfahren für den Sederabend beschrieben. Am Anfang fragt der jüngere Sohn vier traditionelle Fragen [die ma nischtana]: „Weshalb ist dieser Abend anders als alle anderen?“ „Warum nur eine Matze, während wir an anderen Abenden Brot und Matze essen?“ „Warum an diesem Abend vier Gläser, während wir zu anderen Feiertagen nur ein Glas Wein trinken?“ „Wozu die bitteren Kräuter, während wir an allen anderen Abenden andere Kräuter essen?“ „Warum entspannen wir uns und essen so, während wir an anderen Abenden aufrecht sitzen?“ Weil ich der einzige Sohn war, stellte ich diese Fragen, die ich im Cheder lernte. Für meine Schwestern übersetzten wir dieses Gespräch ins Jiddisch. Nach Beantwortung der Fragen führte mein Vater im Singen fort: „Wir waren in Ägypten die Sklaven Pharaos...“ Dann tranken den Wein in gewissen Zeitabstand. Vater zählte die Plagen auf, die Gott in Ägypten anrichtete – die 10 symbolischen Plagen, die auf Hebräisch Makkot heißen. Bei jeder Nennung einer der Plagen, tropften wir Wein auf einem Unterteller.

Dann kam der interessante Teil, wo mein Vater eine Matze in zwei Stücken zerbrach und den größeren Teil in einer Serviette einwickelte, den er dann unter einem Kissen steckte. Das heißt der Afikoman und den wird nach dem Essen gegessen [Anm.: ohne das Essen des Afikomans ist der Sederabend nicht zu Ende]. Den Afikoman klauten wir auch für Lösegeldzahlung ab und zu.

Das größte Glas Weil in der Mitte des Tisches war für Elias vorgesehen. Wir machten die Haustür auf, so dass er reinkommt. Doch wollten wir nicht unbedingt die Haustür offenlassen, da es auch nicht-jüdische Nachbaren in der Gegend gab. Es war aber in Mukatschewo sehr ruhig: die nicht-jüdischen Nachbarn respektierten die jüdischen Bräuche und Traditionen und dazu waren wir auch an ihre gewöhnt. Als Kinder konnten wir kaum darauf warten, bis Elias reinkam und seinen Wein trank. Wir erwarteten, ein Rühren des Weins zu sehen. Manchmal sagte einer von uns, „ich sehe es!“ Danach sangen wir Lieder. Am folgenden Tag wiederholten wir den Sederabend. In Israel wird Pessach sieben Tage lang gefeiert. In der Galut [jüdischen Diaspora] dauerte es acht Tage mit zwei Sederabenden hintereinander.

Die Feiertage waren alle in ihrer eigenen Art und Weise nett. Zu Rosch ha-Schana gingen wir in die Synagogen beim Läuten des Schofars [Halljahrpousane]. An diesem Tag gingen meine Schwestern mit Mutter in die Synagoge. In manchen chassidischen Familien gingen die Töchter regelmäßig in die Synagoge. Waren waren aber keine Fanatiker. Meine Schwestern saßen im oberen Stockwerk mit der Mutter und ich blieb bei Vater. Als wir wieder nachhause kamen, stellte meine Mutter Äpfel und Honig auf dem Tisch, um damit ein süßes neues Jahr zu symbolisieren. Wir tauchten die Äpfel in den Honig und aßen sie.

Zum Jom Kippur betete mein Vater und ich den ganzen Tag in der Synagoge. Meine Mutter ging auch in die Synagoge. Am Abend davor aßen wir ganz viel, da wir den ganzen Tag fasten mussten. Vor meiner Bar Mitzwa gab mir meine Mutter immer Kekse oder Kuchen, um sie mit in die Synagoge zu nehmen. Nach meiner Bar Mitzwa musste ich auch fasten. Jom Kippur war ein schwieriger Tag, da den in der Synagoge verbracht wurde. Jede Familie nahm eine oder zwei Kerzen mit. Die waren groß genug, um 24 Stunden zu brennen. Sie waren am Vorabend angezündet und brennte, bis am folgenden Abend drei Sterne im Himmel erschienen. Diese Kerzen rauchten ganz viel, also verstehe ich nicht, wie man in dieser stickigen Luft beten konnte. Ihre religiösen Geister halfen ihnen bestimmt. Am Ende Jom Kippurs war dann ein feierliches Essen. Die Juden gingen meist in die ihnen nächstgelegene Synagoge. Wir gingen in eine kleine Synagoge in der Duchnowitsch-Straße. Das ist der alte Name der Straße, der bis heute erhalten blieb. Man sieht sofort, dass das Gebäude früher mal eine Synagoge war. Die architektonischen Traditionen wurden miteinbezogen. Dazu wurde sie auch gut instandgehalten. Jeder Besucher hatte einen Stuhl mit einem Brett zum Torah-Lesen. Solche Stühle hießen Schtender. Es gab ein Aaron haKodesch, in dem die Torah-Rollen aufbewahrt werden. Nach Gesetz gab es eine getrennte Abteilung für Frauen im zweiten Stock. Es gab eine Mikwe in der Jiddischgas [Jüdische Gasse] in Mukatschewo.

Zwischen Jom Kippur und Sukkot [Laubhüttenfest] liegen vier Tage, um die Sukka [Laubhütte] zu errichten und verzieren. Nach dem Abendessen ging die Familie in den Hof, um mit dem Bau der Sukka anzufangen. Kinder mochten vor allem diese Zeit sehr. Die armen Juden machten eine Sukka aus dem, was sie zur Hand hatten. Wir hatten eine vorgefertigte Sukka aus kleinen Bretter und Haken. Diese errichteten wir an einem Abend. Wohlhabendere Juden hatten permanente Bände auf dem Dauch, worauf sie die Riede stellen konnten. Zigeuner im Dorf verkauften sogar Riede dafür. Sukka findet im Herbst statt, wenn es oft regnet. Wenn es regnete, lief es in die Sukka, so dass drinnen zu essen unmöglich wurde. Die Religiösesten schafften es, in der Sukka eine Mahlzeit zu verbringen. Manchmal war es so, dass es, obwohl der Regen schon vorbei war, noch in die Suppenschüssel tropfte. Die wohlhabenderen Familien breiteten ihre permanenten Dächer aus, um sich vor dem Regen zu schützen.

Die Kinder freuten sich darüber, die Sukka zu schmücken. Wir schmückten sie wie einen Weihnachtsbaum. Wir machten Dekorationen aus Buntpapier und bestimmten, wessen Dekorationen am besten waren. Ich war sehr gut Dekorationen machen und brachten es den anderen Kindern bei.
Das Purimfest war ganz fröhlich. Am Tag davor bekamen die Kinder Ratschen aus Holz und Flöten. Als das Buch Ester in der Synagoge vorgelesen wurde, kam der Name Haman oft vor und währenddessen versuchten die Kinder in der Synagoge, so viele Geräusche wie möglich zu machen. Die Süßigkeiten zum Purimfest – Schlachmones – brachten wir zu Nachbaren und Bekannten. Kinder brachten diese Süßigkeiten von Haus zu Haus. Dazu bekamen wir auch Leckereien und kleine Münzen als Geschenke. Am wichtigsten waren die Purimshpilen: Kinder oder Erwachsene bereiteten ein Lied, ein Gedicht, ein Tanz oder sonst kleine Vorführung zum Purimfest vor. Was wir spielten, hielten wir vorher geheim. Dann bildeten wir kleine Gruppen von ein paar Jungen oder einem Mädchen, und traten bei den reicheren Familien auf. Dafür bekamen wir Münzen und Leckereien. Meine Schwestern und ich nahmen auch an solchen Auftritten teil. An einem Tag sammelten wir viel ziemlich viel Geld.

Jeder Feiertag hatte seine Symbole. Das Symbol des Purimfestes war die Ratsche. Zum Simchat Tora hatten die Kinder Äpfel mit kleinen Fähnchen. Zum Chanukka spielten die Kinder mit einem kleinen Kreiseln [auch Dreidel genannt] – wir spielten um Geld, weil es gewöhnlich ist, zum Chanukka Geld zu schenken. Die Dreidel schnitten wir aus Holz. Das lernten wir im Cheder. Meine Mutter zündete jeden Tag eine Kerze in der Chanukkia an.

In 1935 wurde Benes Präsident der Tschechoslowakei. Nach den Wahlen besuchte er Mukatschewo. Da gab es ein Kongress im Hof der Militärbarracken und alle Einwohner Mukatschewos gingen hin. Dort war auch unsere Schule und alle Schüler hielten Fahnen, um den Präsident zu begrüßen. Benes hatte dieselbe Politik gegenüber Menschenrechten wie sein Vorgänger Masaryk.

1936 wurde ich 13. Reb Alter, unser Gemara-Lehrer im Cheder, wo ich jeden Nachmittag nach der Grundschule war, bereite mich auf meine Bar Mitzwa vor. Ich musste dafür einen Vortag zum einen Teil der Tora halten. Ich weiß nicht mehr, welcher Teil es war. Das hieß Drosche. Ich hatte meine Bar Mitzwa an einem Sonntag. Das war das erste Mal, dass ich in der Synagoge in meinem Tallit an der Tora stand. Ich las das Gebet vor, das man dafür vorlesen muss, wenn man zur Tora abgerufen wird. Es gab am Abend ein Essen, zu dem unsere Verwandtschaft, sowie Freunde von mir und von meinem Vater eingeladen wurden. Ich musste vor ihnen die Drosche lesen. Die Gäste saßen alle am Tisch. Ich weiß noch, dass es Bier und paprizierte gelbe Bohnen in großen Schüsseln gab. Die Gäste tranken das Bier und aßen die Bohnen mit ihren Händen. Ich las die Drosche und dann stellte mir ein älterer Chasid Fragen, die ich nicht beantworten konnte. Ich brache in Tränen aus und verließ den Raum. Hinter der Tür lauschte ich wie die anderen Chassidim ihn dafür ausschimpften, dass er mir meine Feier verdarb. Es war nicht einfach, zurück in den Raum zu gehen. Ich weinte noch ein bisschen weiter, dann überredeten mich meine Eltern und Gäste, zurück zu kommen.

Der Großvater Pinchas starb in 1936. Er war um 65 Jahre alt. Er wurde nach jüdischen Tradition im jüdischen Friedhof in Mukatschewo begraben. Meine Großmutter saß für ihn Schiwe. Nachdem er starb, übernahm der jüngere Bruder meines Vaters, Idl, die Chewra Kadischa. Ich erinnere mich nicht mehr an die Beerdigung meines Großvaters, aber ich erinnere mich daran, als meine Großmutter 1937 starb. Natürlich war die Familie darüber sehr, sehr traurig, doch ich dachte, dass das Sterben älterer Menschen die Naturordnung war. Meine Großmutter war auf dem Boden in einem Raum. Ihr Körper wurde mit einem schwarzen Tuch gedeckt. An ihrem Kopf leuchtete eine Kerze. Um sie herum saßen Frauen ohne Schuhe. Sie weinten. Der ältere Bruder meines Vaters, Berl, kam aus Palästina zur Beerdigung. Berl war sehr gut darin, Zeremonien zu leiten. Aber diesmal kam Berl in den Hof rein und rief, „Mama, Mama!“ Dann fingen alle Anwesenden an zu weinen. Ich spürte Angst und es war das erste Mal, dass mir die Endlichkeit des Todes bewusstwurde. Großmutter Laya wurde neben meinem Großvater im jüdischen Friedhof in Mukatschewo begraben. Mein Vater las Kaddisch über ihr Grab und saß Schiwe.

Ein Jahr nach dem Tod meiner Großmutter heiratete Idl, der Bruder meines Vaters. Er hatte bei einem Schadchan [Hereitsvermittler] nachgefragt, der für ihn ein Mädchen aus Chust [60km von Uschhorod] im Karpatenvorland. Ihr Vater, Herr Katz, war ein wohlhabenderer Jude. Er hatte einige Töchter. Weil Idls Vater tot war, musste mein Vater, sein älterer Bruder, die Verantwortung über die Hochzeitsvorbereitungen nehmen. Die Verhandlungen fanden bei uns statt und wir Kinder interessierten uns sehr dafür. Wir mussten in der Küche bleiben, aber wir lauschten von hinter der Tür. Da waren der Vater des Mädchens, mein Vater und der Schadchan. Mein Vater und Herr Katz diskutierten die Mitgift. Mein Vater erzählte ihm von der wichtigen Stelle seines Bruders bei der Chewra Kadischa, und dass er ein anständiger und gottesfürchtiger Mann war. Er hörte sich wie der beste und begehrteste Verlobte überhaupt an. Herr Katz sagte, seine Tochter sei eine Schönheit. Der Schadchan meinte, dass das Mädchen keine Mitgift braucht, weil sie selber wie Gold sei. Ich hatte es so verstanden, dass weder mein Vater noch Idl das Mädchen gesehen hatte. Sie verhandelten lange bevor sie eine Vereinbarung erreichen konnten. Sie machten aus, dass Herr Katz die abgesprochene Geldsumme in einer Bank einbezahlen wird und die Bestätigungsscheine an Herrn Rot, der angesehene Besitzer des Schreibwarenladens in Mukatschewo. Wenn es eine Hochzeit gab, musste Herr Rot diese Dokumente Idl überreichen und wenn nicht, zurück an Herrn Katz schicken. Idls Hochzeit fand ungefähr drei Monate nach der Verhandlung statt. Es war eine traditionelle Hochzeit, mit einer Chuppa bei uns zuhause. Meine Mutter und die Nachbaren kochten das Essen. Es war eine freudige Hochzeit.

1938 wurde ich 15 und musste arbeiten gehen. Ich wurde Lehrling bei einem Mechaniker, dem jüdischen Besitzer einer Gerätewerkstatt. Ich lernte das Reparieren von Fahrrädern, Nähmaschinen, Grammofonen und Kinderwagen. Meine Ausbildung hätte zwei Jahre dauern sollen. Eigentlich fing ich ein Jahr später mit der Arbeit an, aber mein Meister bezahlte mir mein Lohn nicht. Ich reparierte und er bekam das ganze Geld. Er gab nur ein bisschen Taschengeld.

1938 eroberten die Deutschen die Tschechoslowakei und gaben das ehemalige ungarische Territorium samt Karpatenvorland an die Ungarn wieder [Anm.: die Deutschen eroberten nur die tschechischen Gebiete und die Slowakei wurde zum unabhängigen Staat, doch wurde dieser Teil, der meistens von Ungarn bevölkert wurde, tatsächlich nach dem Ersten Wiener Schiedsspruch 1938 an Ungarn zurückgegeben]. Es gab damals unterschiedliche Meinungen dazu. Die Ungarn freuten sich und die älteren Juden erinnerten sich, dass es unter des ungarisch-österreichischen Regimes keine Judenverfolgung gab und hofften auf Besseres. Dagegen empfanden die jüngere jüdische Bevölkerung die Ungarn als Besetzungsmacht, und sprachen tschechisch als Protest gegen die Besetzung. Im Laufe der Zeit wurde klar, dass es um ein faschistisches Ungarn ging und die Behörden fingen an, antijüdische Gesetze einzuführen. Die Juden durften nicht mehr Fabriken, Läden oder Geschäften besitzen. Sie mussten ihr Vermögen an nicht-jüdischen Besitzer abgeben, sonst wurde alles vom Staat enteignet. Nur wenige reiche Juden konnten ihr Vermögen verkaufen, während die anderen ihre Lizenzen verloren und dazu auch die Möglichkeit, für ihre Familien zu sorgen. Mein Vater verlor seinen Gewerbeschein. Mein Meister verlor auch seine Lizenz für die Werkstatt und sie wurde 1940 zugemacht. Mein Vater und ich waren auf der Suche nach Arbeit. Nun arbeiteten wir bei der Schreibwarenfabrik von Herrn Rot, die noch im Betrieb war. Ich wurde Mechaniker und mein Vater wurde als Arbeiter angestellt.

Meine ältere Schwester, Olga, hatte Erfolg in der Schule. Sie absolvierte mit guten Noten und wollte zur Oberschule, aber mein Vater war dagegen. Es gab in der Mittelschule jüdische Kurse und sie machte samstags zu, während an der Oberschule die Schüler sonntags lernten. Als er allerdings seine Lizenz verlor, musste Olga arbeiten gehen. Sie brauchte gute Kleidung, die mein Vater sich nicht leisten konnte. Mein Vater redete mit Herrn Rot darüber, Olga in seinem Büro anzustellen. Er erklärte Herrn Rot, dass Olga zu Oberschule wollte, aber er konnte sie nicht unterstützen. Aus religiöser Sicht sah mein Vater es nicht ein, dass ein jüdisches Mädchen zur Schule mit Atheisten geht. Mein Vater bat Herrn Rot darum, Olga eine Chance in seinem Büro zu geben, um zu lernen. Er könnte später darüber entscheiden, ob er sie als Angestellte haben möchte. Herr Rot war religiös und stimmte meinem Vater zu, dass es nicht angemessen ist, dass ein jüdisches Mädchen aus einer anständigen Familie zur Oberschule geht. Also nahm er Olga in seinem Büro auf. Seine Fabrik hatte Geschäftsbeziehungen mit Papierzulieferer in Deutschland und Böhmen. Olga konnte tschechisch und war für Herr Rots Briefwechsel zuständig. Herr Rot stellte auch Stenografie- und Deutschlehrer an, die zu uns kamen, um sie zu unterrichten. Olga wurde seine Sekretärin. Herr Rot diktierte seine Briefe auf Jiddisch oder Ungarisch und diese übersetzte Olga ins Deutsche und Tschechische. Diese Kenntnisse nutzte sie später im Leben viel aus.

Wir wuchsen weniger religiös als unsere Eltern auf. Ich traf mich mit anderen Arbeitern, die Kommunisten waren, was mich prägte. Natürlich wurden wir keine Atheisten, doch sicherlich waren wir nicht so religiös wie unsere Eltern. Das ärgerte meine Mutter sehr, wogegen mein Vater viel herablassender war und mir Vieles verzieh. Als Teenager wollte ich nicht bis zum Ende der Gebete in der Synagoge bleiben. Als ich die Synagoge verließ, um mich mit Freunde zu treffen, bat mein Vater mich nur darum, nachhause zu kommen, wenn er nachhause kommt, um meiner Mutter keine zusätzlichen Sorgen zu bereiten. Einmal als sie aus irgendeinem Grund mit mir wütend war, sagte sie, „Wir holen dich zurück zur Religion, wenn du älter bist.“ Wir behandelten die Eltern mit Respekt, doch diesmal verlor ich die Fassung und erwiderte, „nur, wenn ich den Verstand verliere.“ Dafür kann ich mir selbst nicht verzeihen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie meine Mutter sich wohl fühlte, als sie das von mir hörte. Es tut mir sehr leid, dass ich nicht um ihre Verzeihung bat.

In Herr Rots Fabrik lernte ich meine zukünftige Frau, Tilda Akerman, kennen. Damals wurde sie Toby genannt. Tilda und ich waren im selben Alter. Sie kam aus Mukatschewo. Sie erzählte mir, dass wir zusammen in der Grundschule waren, aber ich sie ignoriert hatte. Tilda arbeitete in der Fabrik. Dort gab es auch andere Mädels. Wenn irgendwas mit den Geräten nicht ging, riefen sie mich, um es zu reparieren. So lernte ich Tilda kennen. Wir hatten jüdische Freunde. Tildas Freundin Frieda und mein Freund Woita arbeitete in der Fabrik. Frieda und Woita wollten heiraten, nachdem der Krieg vorbei war. Tilda und ich verliebten uns auch ineinander. Wir trafen uns nach der Arbeit und gingen spazieren. Tilda besuchte mich zuhause und ich war auch bei ihr zuhause. Meine Eltern mochten sie. Wenn es den Krieg nicht gegeben hätte, hätten wir geheiratet. Doch wegen des Krieges wussten wir nicht, was uns passieren wird.

Tilda wurde in eine religiöse jüdische Familie geboren. Ihr Vater, Aizik Akerman, produzierte und verkaufte Wein und ihre Mutter, Ghinda Akerman, geboren Weiss, war Hausfrau. Es gab insgesamt acht Kinder in deren Familie. Tilda war das siebte Kind. Ihre ältere Schwester, Margarita, absolvierte die Handelsakademie in Mukatschewo. Sie heiratete ihren Cousin Weiss. Sie waren beide Sympathisanten der Kommunisten. Margaritas Mann zog 1938 in die UdSSR und sie sollte nachkommen, doch als das Karpatenvorland Teil von Ungarn wurde, hatte sie keine Chance mehr. Sie hatte einen Sohn namens Alexandr. Sie musste sich dann allein um die Familie kümmern. Sie arbeitete als Anwalt und Übersetzerin und nahm alle Arbeit auf, die sie finden konnte. Wir erfuhren nichts über ihren Mann. Tildas Bruder, David, war Winzer wie sein Vater. Philip und Serena, Tildas ältere Schwester und Bruder, absolvierten auch die Handelsakademie.

Serena war auch Sympathisantin der Kommunisten und war an die Veröffentlichung einer kommunistischen Zeitung beteiligt. Sie heiratete einen Kommunisten namens Borkanjuk, ein Abgeordneter aus der Kommunistischen Partei im tschechischen Parlament. Für ihre Eltern, war es eine Schande, einen Nicht-Juden zu heiraten. Tildas Mutter lehnte ihre Tochter ab. Serenas Ehe sorgte für Empörung unter den Juden in Mukatschewo. Das führte auch zum Tod von Tildas Vater in der Synagoge 1937, als er von irgendwelchen Verrückten ermordet wurde, indem sie ihn mit einem Holzklotz an den Kopf schlugen. Weil eine seiner Töchter mit einem Nicht-Juden verheiratet war. Tilda musste arbeiten gehen und Serena und ihr Mann zogen in die UdSSR.

Als die Faschisten in Ungarn an die Macht kamen, zog Tildas Bruder von dort nach Polen und von dort aus nach England. Während des Zweiten Weltkriegs war Philip im tschechischen Korps an der westlichen Front. Nach dem Krieg lebte er in Uschhorod, wo er 1987 starb. Sein Bruder Aron arbeitete in einem Glaswerk. Hugo war auch Arbeiter. Tildas jüngerer Bruder, Schmil, studierte. Bis auf Margarita und Serena waren alle anderen Kinder in der Familie religiös.

Während des Krieges

Anfang 1941 wurde mein Vater zur ungarischen Zwangsarbeit in der Region Welykyj Beresnyj rekrutiert. Dort war die sogenannte Árpád-Linie im Bau [Anm. Die Árpád-Linie war eine Militärfestung in den Ost-Karpaten. Die Bauarbeiten dafür begannen 1940]. Das war eine Art Arbeitslager. Juden wurden nicht in die ungarische Armee aufgenommen, dafür mussten sie aber beim Arbeitsbataillon am Bau von Verteidigungslinien, Barracken und anderen Projekten an der Front arbeiten. Sie hatten keine Waffen und starben oft unter Abschuss. Mein Vater war Zwangsarbeiter bis 1942, als er wegen seines Alters entlassen wurde.

Die Juden hatten es schwer, vor allem mit dem Ausbruch des Krieges mit der Sowjetunion 1941. Es gab viele Einschränkungen. Juden erhielten Brot mit Essensmarken. Die wohlhabenderen Juden konnten Essen im Markt kaufen, währen der Lage für die armen Juden noch schlimm war. 1943 wurde allen Juden befohlen, runde gelbe Stoffstücke, die später durch Sterne ersetzt wurden, zu tragen. Doch zumindest brachten die Ungarn die Juden nicht um und es gab keine Pogrome.

1943 heiratete meine Schwester Nuchim Weingarten, einen jüdischen Mann aus Mukatschewo. Unsere Eltern bereiteten Olga eine jüdische Hochzeit vor. Sie hatten eine Chuppa in der Synagoge und die Hochzeitszeremonie führte der Rabbi durch. Olgas Mann wurde zum Arbeitsbataillon rekrutiert und von da aus ging er zur Front. Zu dieser Zeit wussten wir nichts über ihn.

In April 1944 wurde ich zur Zwangsarbeit nach Ungarn gebracht. Tilda und ich wussten nicht, was uns bevorstand. Wir machten aus, dass wir den Kontakt durch die Schwester vom Vater, die in der Schweiz wohnte, erhalten würden. Wir lernten ihre Adresse auswendig: Lugano, Bella Visari, 10. Zuerst arbeitete ich in Budapest und danach an anderen Orten. Wir gruben Schützengräben und bauten Verteidigungslinien. Wir wohnten in einer großen Baracke ohne Heizung und mit kaum was zu essen, um am Leben zu bleiben. Mein Freund Woita und mein Cousin Aron, der Sohn der Schwester meiner Mutter, waren mit mir im Lager. Wir arbeiteten von 6 Uhr morgens bis es dunkel wurde. Es gab am Nachmittag eine Pause für das Mittagessen. Als wir abends in die Baracken wiederkamen, schliefen wir sofort ein. Es gab Aufseher im Lager, aber es war nicht so schlimm wie ein Konzentrationslager generell. Wir konnten mit den Einheimischen auf Ungarisch reden und sie erzählten uns von den Geschehnissen.

Im Sommer 1944 wurden die Juden aus ungarischen Städten und Dörfern langsam in die Konzentrationslager geschleppt. Wir wussten, dass alle Verwandten in Mukatschewo ins Konzentrationslager transportiert wurden, aber wir wussten noch nichts von den Gaskammern oder der Vernichtung der Juden in den Lagern. Fälle kamen schon vor, in den Häftlingen in unserem Lager vor Hunger oder Krankheiten starben, aber es war kein Todeslager. Mein Cousin Aron erfuhr über Lokführer, die Züge nach Auschwitz fuhren, dass es sich dort um ein Todeslager handelte, doch konnten wir es nicht glauben, dass Menschen in die Gaskammern verschickt werden könnten. Wir konnten es einfach nicht fassen. Erst nach dem Krieg lernten wir, was in Auschwitz stattfand und, dass dort unsere Verwandtschaft ums Leben kam und wie das passierte. Beide meiner Eltern, mein Vater und meine Mutter, wurden sofort in die Gaskammer verschickt.

Als sowjetische Truppen in Januar 1945 Ungarn erreichten, wurden wir an die Deutschen abgeliefert. Wir waren unter ungarischen Herrschaft, aber nachdem wir den Deutschen übergeben wurden, schickten sie uns in ein deutsches Konzentrationslager in Zachersdorf, in der Nähe der österreichischen Grenze. Das war allerdings auch ein Arbeitslager. Wir waren in Gruppen von 100 Häftlingen verteilt und arbeiteten zusammen an den Verteidigungslinien und Panzergraben für die Deutschen. Das war in März als der Schnee schmolz und wir knietief im Matsch arbeiten mussten. Das war schwere Arbeit, aber zum Glück dauerte es nur zwei Monate. In unserer Gruppe von 100 Menschen gab es nur sechs Überlebende.

Ende März 1945 kamen die sowjetischen Truppen in Österreich an. Ich hatte Typhus und war im Delirium. In unserer Baracke waren zweistöckige Hochbetten. Ich war auf dem Bett unten. An meinem letzten Arbeitstag gruben wir einen Schutzgraben und in der Nähe bildeten die Deutschen Jungen im Schießen aus. Ich kann mich noch daran erinnern wie ein Offizier rief, „Die Russen kommen bald. Reißen Sie sich einfach zusammen!“ Die Kanonade konnten wir schon hören. Ich wusste nicht mehr, was um mich herum passiert oder wie lange ich im Delirium war. Ich weiß noch, dass mein Cousin Aron sich auf meinem Bett setzte und mir sagte, dass das Langer bald evakuiert wird und dass wir flüchten müssen, weil sie das Lager niederbrennen werden. Ich war überhaupt nicht in der Lage zu laufen. Ich sagte ihm, dass er mich dalassen und weitermachen sollte – dann hörten wir wie jemand schrie, „Die Russen sind da!“ Irgendwie verdrängten diese Wörter jedes Zeichen von Krankheit in mir. Wir sechs gingen über die Front. Schüsse fliegen an uns vorbei. Wir hatten Angst davor, von einer deutschen oder sowjetischen Gewehrkugel zu sterben. Endlich trafen wir auf sowjetische Kommunikationstechniker, die ein Telefonkabel legten. Sie versuchten uns mit Gesten zu zeigen, dass wir uns hinlegen sollten, aber wir gingen einfach weiter. Einer von uns hatte eine Wunde an der Hand. Wir legten 16 Kilometer zurück. Jetzt, wo ich an diese Zeit zurückdenke, kann ich mir gar nicht vorstellen, wie wir es schafften, nach Szombathely in Ungarn zu kommen [ungefähr 20km von der österreichischen Grenze]. Dieser Ort wurde von Faschisten befreit.

Später, im März 1945, wurden wir in ein sowjetisches Lager für Kriegsgefangene gebracht. Die sowjetischen Truppen schickten alle, die hinter der Front waren, in Lager für Kriegsgefangene. Wir kamen aus den Konzentrationslager und hatten keine Papiere und wurden zu Kriegsgefangene neben den Faschisten, die versucht hatten, uns zu vernichten. Wir hatten keine Dokumente und wurden für deutsche oder ungarische Faschisten gehalten. Wir trugen alte Lappen. Alle Gefangenen waren auf einem Feld. Unter uns waren Faschisten. Es regnete und war sehr kalt. Wir kannten kein Russisch. Wir wurden von Wächtern mit Maschinengewehr überwacht. Wir versuchten uns zu erklären und sagten wir waren „zide,“ was „Jude“ auf Tschechisch heißt, aber dadurch wurde es nur schlimmer. Der Wächter dachte, wir beschimpfen Juden und fing an mit uns zu reden. Das einzige was wir verstanden war, „Ich werde sie erschießen!“

Am nächsten Tag standen wir in Schlangen und marschierten zum Bahnhof. Wir kamen in Uschhorod an. Nochmal befohlen sie uns in Reihen zu stehen und wir marschierten mit einem Wächter irgendwohin. Wir kamen in eine enge Gasse im Zentrum Uschhorods. Wir entschlossen uns zu flüchten, als wir ein Tor erreichten, was zu einem Hof führte. Komme, was mag, dachten wir. Als wir das Tor näherten, fingen wir an zu laufen. Die Wächter kamen uns nicht hinterher. Wir gingen in ein verlassenes Haus und fanden dort was zu essen. Wir blieben zwei Tage in diesem Haus. Wir wollten nur nachhause. Wir hatten keinerlei Information über zuhause. Aron, Woita und ich schafften es, nach Mukatschewo zu kommen. Wir gingen meistens zu Fuß. Ab und zu wurden wir auf einer Pferdekutsche gefahren. Auf dem Weg bekamen wir Essen von den Bauern. Als wir nachhause kamen, war niemand da.

Wir wussten nichts über die Situation. Wir erholten uns ein bisschen und entschieden uns, in die sowjetische Armee zu gehen. Wir wollten, dass die Faschisten für ihre Taten bezahlen. Wir wollten unsere Verwandten befreien. Wir gingen zum Registratur, um uns für die Armee freiwillig zu melden. Als die Offiziere uns anschauten, sagten sie, wir sollten eher ins Krankenhaus als in die Armee gehen. Ich war extrem dünn und meine Genossen sahen nicht viel besser aus. Der Offizier, der mit uns sprach, lehnte Woita ab, aber Aron und ich flehten ihn an, uns zuzulassen. Wir wurden zum Übungsbataillon in Polen geschickt. Der Krieg war schon vorbei. Ich diente also in der Armee, nur nicht an der Front. Das Karpatenvorland gehörte der Sowjetunion und ich war verpflichtet, Militärdienst zu leisten. Ich war ungefähr ein Jahr in Polen und danach wurde ich nach Chmelnyzkyj in der Region Winnyzja, Ukraine, geschickt. 1947 wurde ich entlassen.

Tilda und ich waren dafür bestimmt, uns wieder zu sehen. Sie kehrte nach Mukatschewo zurück, während ich noch beim Militär war. In 1944 wurden Tilda und ihre Familie nach Auschwitz transportiert, wo jüngere Juden zum Arbeitsdienst verschickt und ältere Juden und Kinder vernichtet wurden. Die Deutschen brauchten Arbeitskraft. Tildas Familie kam in Auschwitz um. Ihre ältere Schwester Margarita und ihr Sohn waren auch da. Margarita hatte die Wahl, nicht mit ihrem Sohn zu gehen, doch sie entschied sich dafür, mit ihm zu bleiben und sie gingen zusammen in die Gaskammer. Tildas Eltern und ihr jüngerer Bruder, Schmil, kamen auch in der Gaskammer ums Leben. David und Hugo starben bei der Zwangsarbeit und ihr Bruder Aron ging über die Grenze in die UdSSR und kam im Gulag um. Tilda, ihre Schwester Serena, die während des Zweiten Weltkriegs in der UdSSR war, und ihr Bruder Philip waren die einzigen Überlebende der Familie. Serena kam 1945 zurück ins Karpatenvorland. Philip ging 1946 von England nach Uschhorod zurück.

Tilda und ihre Freundin Frieda wurden von Auschwitz in ein Arbeitslager in dem Ort Reichenbach geschickt. Meine Schwestern Olga und Toby waren auch dort. Dieses Lager war in der Nähe einer Militärfabrik für Radiogeräte. Die Lagerinsassen bauten Radiogeräte zusammen. Tilda und meine Schwester waren bis ihrer Befreiung in diesem Lager. Meine Schwestern erzählten Tilda, dass meine Verwandten in Auschwitz ums Leben gekommen waren. Nach der Befreiung gingen Tilda und ihre Freundin nach Mukatschewo.

Nach dem Krieg

Meine Schwestern kamen nicht zurück nachhause. Olga hatte keine Information über ihren Mann, der drei Tage nach ihrer Hochzeit in die Armee abgerufen wurde. Manchmal bietet das Leben unglaubliche Überraschungen an: Auf dem Weg zurück nach Mukatschewo über die Tschechoslowakei traf Olga ihren Mann wieder. Er wurde mit anderen aus dem Arbeitsbataillon bei Oskol, ein Ort in der Ukraine, gefangen. Er wurde zum Kriegsgefangengenlager gebracht und von dort aus zu einem Gulag. Damals gehörte das Karpatenvorland noch zur Tschechoslowakei. Als die tschechische Armee gegründet wurde, alle tschechische Bürger im Gulag waren zur Armee geschickt. Sie wurden vom Gulag entlassen um in der tschechisch-slowakischen Armee zu dienen. Nuchim wurde zur tschechisch-slowakischen Armee rekrutiert und ging fast bis zum Karlovy Vary, ungefähr 300km von unserem Haus. Dann wurde er entlassen. Er hatte viele Ehrenmedaillen und eine Wohnung als Dankeschön für seine Leistung erhalten. Er ging jeden Tag zum Bahnhof um die Züge zu treffen, die jeden Tag Menschen aus den Konzentrationslager nachhause brachten, und hoffte, dass ihn jemand über Olga und unsere Familie informierten könnte. Dann traf er Olga am Bahnhof.

Meine Schwestern blieben in der Tschechoslowakei und etwas später, in den 1950ern, zogen sie nach Israel. Meine jüngere Schwester Jona heiratete in Israel. Er hieß Stein. Olga arbeitete als Buchhalterin bis zu ihrer Pensionierung. Ihr Sohn Schua wurde in 1947 geboren. Er handelt in Informatik und ist Professur an der Universität von Tel Aviv. Jona war Hausfrau nachdem sie heiratete. Sie hat zwei Töchter: Margalit, 1950 geboren, und Erit, 1953 geboren. Jonas Töchter sind verheiratet und haben Kinder. Ich erinnere mich nicht an ihren Familiennamen.
Tilda ging zurück nach Mukatschewo. Ich war mit Woita in Kontakt. Er gab Tilda die Adresse meiner Feldpost. Als ich einen Brief von Tilda bekam, war ich sehr, sehr glücklich. Ich schrieb ihr zurück und so entstand einen Briefwechsel zwischen uns. Mit ihrem nächsten Brief schickte sie mir Foto. Auf der Rückseite hatte sie es mit „An meinen liebsten Ari“ unterschrieben. Ich hatte dieses Foto bei mir und jetzt steht es im Familienalbum.

Tilda blieb bei ihrer Schwester Serene in Uschhorod. Sie ging arbeiten. Ich wurde 1947 von der Armee entlassen und kam nach Uschhorod. Tilda arbeitete bei dem Handelsbüro im Ort. Als wir uns trafen trug ich ein verblasstes Soldatenhemd und Soldatenstiefel. Tilda und Serena gaben mir Marken, um Kleidungen zu kaufen, da alles mit Marken verkauft wurde. Ich fing als Mechaniker in einer kleinen Werkstatt an. Wir wohnten alle zusammen in Serenas kleiner Wohnung. Sie teilte mit uns ihre Möbel und Geschirr. Ich hatte keinen Pass, nur einen Militärausweis. Tilda und ich wohnten zusammen, ohne über das Heiraten zu reden. Ihre Schwester war unsere einzige Verwandtschaft, also was für eine Hochzeit wäre das?

Am 30. April 1948 gingen Tilda und ich spazieren. Es war ein schöner Tag. Bis dahin hatte ich schon einen Pass. Wir gingen draußen und einer von uns sagte, „lass uns zum Standesamt gehen.“ Damals war alles so einfach. Bewerbungsunterlagen waren nicht nötig. Wir gingen zum Standesamt, zeigten unsere Dokumente und der Leiter des Standesamtes schrieb unsere Namen auf und stellten uns die Heiratsurkunde aus. Es war wie sonst jeder andere Tag. Ich kaufte eine Flasche Champagner und Pralinen und lud den Leiter des Standesamtes ein, mit uns auf unser Glück zu trinken. Er gab uns einige Gläser und wir machten die Flasche Champagner auf. Dann wurden wir im Fotoladen, im selben Gebäude wie das Standesamt, fotografiert. Wir gingen nach draußen und Tilda sagte, sie muss zur Arbeit, da ihre Kollegen die Feierlichkeiten zum 1. Mai vorbereiten wollten. Meine Kollegen bereiteten auch eine Feier vor und luden mich dazu ein. Also trennten wir uns und jeder ging zu seiner jeweiligen Arbeit. Das war unser Hochzeitstag. Kurz danach heirateten auch mein Freund Woita und Tildas Freundin Frieda. Sie wohnten bis in die 70er in Uschhorod und wir blieben miteinander befreundet.
Auf der Arbeit erfuhr ich keinen Antisemitismus oder sonstige Vorurteile. Ganz im Gegenteil fing die Leitung an, mich zu befördern, weil ich Russisch spreche. Ich lernte es in der Armee. Damals konnten nur wenige in dem Karpatenvorland Russisch verstehen. Später lernten Kinder Russisch in der Schule, aber damals war ich der einzige, der Russisch konnte. Mein Freund und ich machten eine kleine Reparaturwerkstatt für Geräte auf. Es gab in dieser Werkstatt viele jüdische Angestellte. Der Vorstand war Herr Tamper, ein Jude. Ich verdiente gut, da ich schon guter Mechaniker war. Einmal bat mir Tamper an, nach Kiew zu fahren, wo ich an einem Ausbildungskurs zum Geschäftsführer der Qualitätssicherung machte. Ich war der einzige Kollege, der Russisch sprach. Ich sprach mit Tilda darüber und wir stimmten überein, dass ich hingehen sollte. Ich war einen Monat dort und absolvierte den Kurs mit guten Resultaten.

Als ich wieder zuhause war, erfuhr ich, dass der Vorstand die Werkstatt aufgelöst hatte. Er wollte mich als Geschäftsführer in der Metallwaren-Werkstatt. Das Geschäftsführer-Gehalt war niedriger als bei meiner vorherigen Stelle, aber ich hatte keine Wahl, da die Werkstatt zugemacht wurde. Diese Werkstatt wurde zum Bolschewik-Werk, wo ich Geschäftsführer einer Werkstatt war. Ich leistete meine Arbeit gut und fing an, Veränderungen einzuführen. Ich mag neue Entwicklungen und dafür erhielt ich Zusatzgeld, was meinen Gehaltsverlust ausglich. Die Leitung schätze meine Leistung und schlug mir vor, an einer Hochschule zu studieren. Um an der Hochschule studieren zu dürfen, muss man Absolvent einer Oberschule sein. Weder Tilda noch ich waren an einer Oberschule. Sie und ich entschieden uns als dafür, an einer Oberschule zu studieren.

Unser Sohn Pjotr wurde 1951 geboren. Sein jüdischer Name war Pinchas, nach meinem Großvater väterlicherseits. Unser zweiter Sohn Juri wurde 1955 geboren; er trägt den jüdischen Namen Eschje, nach meinem Vater.

Um zur Schule gehen zu können, stellen wir für Pjotr ein Kindermädchen an. Meine Frau und ich studierten sonntags an einer Schule. Am Sonntag hatten wir den ganzen Tag Unterricht und unter der Woche Hausaufgaben. Wir absolvierten diese Schule und erhielten ein Abschlusszeugnis. Jetzt durften wir unser Studium fortsetzen. Ich absolvierte die kommunale Abteilung der Maschinenbau-Fakultät der Hochschule für Maschinenbau in Odessa und verteidigte meinen Abschluss mit Auszeichnungen. Währenddessen wuchs das Werk einfach weiter. Als in anfing dort zu arbeiten, gab es ungefähr 30 Angestellte in der Werkstatt, aber als ich absolvierte waren es schon 80 Angestellte. Ich wurde zum Leiter der Technik im Werk. Ich war zufrieden mit dieser Stelle. Ich war kein berufsorientierter Mann und war mit dem, was ich hatte, zufrieden.

Als ich zum Leiter der Technik angestellt wurde, überzeugte mich die Leitung, in die Kommunistische Partei überzutreten, weil es mir beim Berufsaufstieg helfen würde. Nur Parteimitglieder erhielten die Schlüsselpositionen in der ehemaligen UdSSR. Ich bekam Empfehlungen und wartete auf die Genehmigung vom Büro der kommunalen Parteikommission. Jeder wusste, dass ich den Ruf eines begabten Ingenieurs hatte und es gab keine Einsprüche gegen meine Parteimitgliedschaft.

Meine Frau ging auch zur Kommunistischen Partei. Wir hatten keine Ahnung von Kommunismus. Wir wussten gar nichts davon, was vor dem Großen Vaterländischen Krieg in der UdSSR geschieht. Außerdem tat dieses Land uns nichts Böses. Wir waren dankbar für ein gutes Leben und eine Gelegenheit zu studieren und arbeiten. Um der Partei beizutreten, mussten wir Formulare ausfüllen, in der wir schrieben, dass wir im Konzentrationslager gewesen waren. Diejenigen, die seit 1917 in der UdSSR lebten, verbargen die Wahrheit über ihrer Internierung im Konzentrationslager. Die Menschen, die im Konzentrationslager waren, wurden mit Verdacht behandelt. Man hätte sie vielleicht fragen könnten, „wenn Sie im Konzentrationslager gewesen sind, warum sind Sie nicht ums Leben gekommen?“ Tilda und ich machten uns Sorgen darum, diese Tatsache auf dem Formular anzudeuten, aber schließlich entschieden wir uns: wenn wir die Partei beitreten werden, wollen wir die Wahrheit erzählen und wir werden die Wahrheit über uns schreiben. Am Ende kam nichts dabei daraus.

Als ich der Partei beitrat, wurde die Stelle des Chef-Ingenieurs im Werk etabliert. Ich wurde dafür angestellt und arbeitete in dieser Position für 20 Jahre. Am Ende meiner Beschäftigung gab es schon 800 Angestellte im Werk. Nach sowjetischen Verhältnissen war es kein besonders großes Werk, doch für Uschhord war das Bolschewik-Werk ein riesiges Unternehmen. Wir bekamen oft Zusatzgeld und lebten gut. Ich erhielt den Orden „Zeichen der Ehre“ und eine Reihe von anderen „Metallwaren“. Ich bekam auch die Auszeichnung „Bester Beteiligter am Sozialistischen Wettbewerb“. Neben der Leistung meiner direkten Aufgaben entwickelte ich auch innovative Ideen. Ich entwarf eine sehr interessante Schleifmaschine für die Möbel-Industrie. Dadurch wurde der Schleifprozess mechanisch. Davor war es ein manueller Prozess. Dafür erhielt ich ein Patent und eine mit Geld dotierte Auszeichnung.

Antisemitismus erlebte ich so gut wie nicht. Meine Kollegen wussten, dass ich Jude war. Tilda und ich schrieben immer auf allen Formularen, dass wir Juden waren und, dass Jiddisch unsere Muttersprache war. Ich schämte mich nie dafür. Ich habe eine jüdische Seele. Meine Kollegen behandelten mich gut. Es gab im Werk nur einige jüdische Angestellten. Mit ihnen sprach ich auf Jiddisch. Zigeuner gab es auch, da das Werk sich einer Gegend mit vielen Zigeunern befand. Im Werk gab es auch Ungarn, Slowaken und Ukrainer. Mit allen verstand ich mich gut. Es ist einfach: behandelst du jeden mit Respekt, dann wird er versuchen, deine Erwartungen zu erfüllen.

Nur einmal erlebte ich einen Fall Antisemitismus. Es war wohl nur ein kleiner Vorfall. Außerdem erfuhr ich erst später davon. Unser Direktor wurde zu einem neuen Werk versetzt, das sich noch im Bau befand. Ich blieb weiterhin Chef-Ingenieur und wurde stellvertretender Direktor. Es war nicht mein Vorhaben, Direktor zu werden, da ich mit meiner Stelle zufrieden war. Als der neue Direktor ins Werk kam, half ich ihm bei der Einführung im Betrieb und dafür war er mir sehr dankbar. Viele Jahre später erzählte mir mein jüdischer Bekannter, dass, als es im Büro des kommunalen Parteikomitees um die Anstellung eines neuen Direktors ging, jemand sagte, „warum suchen wir einen neuen Direktor, wenn es Galpert gibt?“ Und daraufhin sagte der Sekretär des kommunalen Parteikomitees, mein guter Bekannter, „Aber er ist Jude.“ Das ist der einzige Fall wovon ich weiß, dass meine jüdische Identität meine Karriere behinderte. Wenn ich ehemalige Kollegen auf der Straße treffe, freuen sie sich darüber, mich zu sehen, und wir grüßen einander.

Es ging Tilda gut. Sie absolvierte eine neunmonatige Partei-Ausbildung. Sie war gut in Sprachen und lernte recht schnell Russisch. Sie arbeitete beim Handelsbüro des kommunalen Exekutivkomitees [Ispolkom]. Sie leiste dort gute Arbeit und wurde zur Assistentin des stellvertretenden Vorstandes der Lokalverwaltung befördert, wo sie jahrelang arbeitete. Tilda verbarg nie, dass sie Jüdin ist. Tilda eignete sich auch schnell Ukrainisch an, da alle Dokumente auf Ukrainisch waren. Sie wurde Geschäftsführerin des Protokollamtes, eine ziemlich hohe Position. Im Buch des Karpatenvorlandes wird mein Name erwähnt und zwar als eine Person, die einen großen Beitrag zur technischen Entwicklung der Stadt leistete. Also hatten wir keine Probleme mit der sowjetischen Macht, auch wenn wir uns schon Sorgen machten.

Meine Frau und ich lebten nicht lange unter sowjetischen Herrschaft – die Region, in der wir wohnten, wurde erst 1945 Teil der UdSSR – und wir hatten sonst kein so klares Verständnis davon, was tatsächlich um uns herum passiert. Wir glaubten an alles, was die Kommunistische Partei sagte. Als wir jünger waren und für den Besitzer einer Fabrik arbeiteten, gehörten wir zum Proletariat. Er beutete uns aus. Wir glaubten wirklich daran, dass wir auf eine glänzende Zukunft und eine schöne internationale Gesellschaft der Gleichberechtigten hinarbeiten. Was für eine wunderbare Idee das war! Wir lasen Bücher von Marx, Lenin und Stalin. Dazu lasen wir auch Bücher von utopischen Sozialisten. Das, was sie in diesen Büchern schrieben, hörte sich schön an. Es war interessant und wir lebten im Glauben daran. Als Stalin in 1953 starb, trauerten wir. Natürlich sahen wir, dass die Realität anders als in der Buchbeschreibung war, aber wir dachten, es hing von der Übergangsperiode ab und, dass der tatsächliche Stand der Dinge den Oberbehörden nicht bewusst war. Doch hatten wir schon das Gefühl, dass etwas falsch war und die Wörter und Taten nicht übereinstimmten. Wir erlebten die Kampagne gegen den Kosmopoliten in 1948 mit. Das hatte keine Wirkung auf uns und wir verstanden die Situation einfach nicht. Es schein eine Verfälschung zu sein. Das gilt auch für die sogenannte Ärzteverschwörung in Januar 1953. Das war alles schlimm und ein Versuch, den Antisemitismus zu verstärken. Wir wollten uns nicht zu tief einmischen. Als Chruschtschow über Stalin redete und darüber, wie das sowjetische System auf dem 20. Parteitag der KPdSU die Verbrechen vom Stalin veröffentlichte, verstanden wir worum es alles ging. Es wurde uns dann klar, dass wir die Idee von Kommunismus und Sozialismus aufgeben mussten.

Weil ich Parteimitglied und Geschäftsführer war, musste ich zu Ingenieuren im Werk propagieren. Ich war für die regelmäßigen Politikkurse mit ihnen zuständig. Eins kann ich ehrlich sagen: niemals drückte ich meine Meinung aus. Ich sagte nur, „der Chruschtschow sagt dieses...“ oder „...so sagte Breschnew.“ Ich wies immer auf den beiden hin, da Tilda und ich seit dem 20. Parteitag verstanden, dass die Idee von Kommunismus eine falsche war. Immerhin blieben wir Parteimitglieder – bis zum letzten Tag in 1991, der Umbruch der Sowjetunion. Irgendwann am Ende der 1980er hörte ich damit auf, die politische Ausbildung meiner Kollegen zu leiten und meine Parteimitgliedschaft wurde reine Formalität.

Unsere Söhne waren gesunde und brave Kinder. Sie sind sehr unterschiedlich: Pjotr ist ruhig, er beeilt sich nie und bleibt gerne zuhause; dagegen ist Juri fröhlich und gesellig. Er hat viele Freunde. Unsere Söhne waren im selben Kindergarten und auf derselben Schule. Sie hatten die selbe Grundschullehrerin. Sie lernten Russisch in der Oberschule. Pjort absolvierte mit Auszeichnungen. Wir wollten nicht, dass er in der Ukraine weiterstudiert, weil wir Angst vor Antisemitismus hatten. Die Ukraine war Teil der UdSSR. Der Antisemitismus war in Russland nicht so stark wie in der Ukraine. Er ging nach Leningrad und bestand erfolgreich seine Zulassungsprüfungen zur Hochschule für optische Mechanik. Dort studierte er fünfeinhalb Jahre. Seine vordiplomierte praktische Übung war beim Militärwerk in Ischewsk und sie schickten sehr gute Leistungsreferenzen für ihn an die Hochschule zurück.

Als es um die obligatorische Berufsvergabe ging, ließen wir den Chef-Ingenieur des Fertigungswerks in Uschhorod ein Antragsschreiben an die Hochschule in Petrograd schicken und Pjotr bekam eine Stelle in diesem Werk. Vor Perestroika arbeitete er dort als Gestalter. Als Perestroika anfing, wurde dieses Werk wie viele andere Betriebe zugemacht. Unser Sohn fing an, bei einem Internet-Anbieter zu arbeiten. Er heiratete mit 38. Er war schüchtern. Ich glaube ich war auch so im selben Alter. Jetzt bin ich anders. Er hatte zwar Freunde, aber mit Mädchen traf er sich nicht. Er heiratete seine Kollegin. Sie war Elektroingenieurin, aber später studierte sie Buchhaltung. Danach arbeitete sie als Chef-Buchhalterin. Ein Freund von ihnen zog nach Deutschland und überredete unseren Sohn, auch dorthin zu ziehen. Natürlich wollten wir nicht, dass unsere Kinder so weit weg von uns wohnen, aber wir versuchten trotzdem nicht, es ihm auszureden. Pjotr absolvierte seine Elektronik-Ausbildung in Deutschland. Die Firma Siemens bezahlte seine Ausbildung und stellte ihn nach seinem Studium an. Seine Frau ist Buchhalterin. Es geht ihnen sehr gut. Sie wohnen in Frankfurt am Main. Leider haben sie keine Kinder.
Unser jüngerer Sohn wollte die Zulassungsprüfungen an derselben Hochschule in Leningrad wie Pjotr machen. Leider wurde er krank und konnte die Prüfungen nicht machen. Er wurde zur Armee rekrutiert. Er diente in einer Militäreinheit, die mit Radargeräten umgingen. Juri assistierte einen Offizier, der mit Elektronik arbeitete. Nach der Demobilisierung ging er zurück nach Uschhord und arbeitete als Mechaniker in einem Werk. Er fing auch bei der elektrotechnischen Fakultät an der polytechnischen Universität Lwiws. Nach seinem Studium wurde Ingenieur in demselben Werk, wo er als Mechaniker arbeitete. Dort arbeitete er bis das Werk während Perestroika zugemacht wurde. Juri eröffnete ein Café mit einem Freund. Es gefiel Juri nicht so sehr, aber er musste sein Lebensunterhalt verdienen. Er arbeitete drei Jahre dort. Als der Chesed in Uschhord etabliert wurde, lud der Direktor Juri dort zum Arbeiten ein. Juri ist der regionale Direktor von Chesen und genießt seine Arbeit. Er heiratete 1974. Juri wohnt mit seiner Familie unweit von hier. Wir besuchen uns oft. Beide Söhne haben nicht-jüdische Frauen. Sie sind mit ihren Familienleben zufrieden und das ist, was am Ende zählt.

Unser einziger Enkelsohn Philip, Juris Sohn, wurde 1975 geboren. Als er mit der Schule fertig war, bekam er vom Sochnut ein Angebot, in Israel zu studieren. Am Anfang gab es doch einige Probleme. Sie versprachen ein kostenloses Studium, aber vor Ort war es eine andere Geschichte. Dort studierte er Kochen und nach Unterricht arbeitete er als Koch in einem Restaurant am Toten Meer. Dann wurde er zur Armee rekrutiert. Nach seinem Wehrdienst war Philip auf dem Institut Wingate in Netanja. Sein Fachgebiet war Sportmedizin. Unser Enkelsohn studiert jetzt im fünften Jahr und er ist sehr glücklich. Wir unterstützen ihn und helfen ihm dabei, sein Studium erfolgreich abzuschließen. Er mag seinen Beruf und wir freuen uns darüber, dass er die Gelegenheit bekam, zu studieren und reisen. Letzten Sommer war Philip hier zu Besuch. Sochnut organisiert im Karpatenvorland Sommerferienlager und er bekam für diesen Sommer eine Einladung. Wir erhoffen uns, unseren Enkelsohn diesen Sommer sehen zu können. Er hat vor, sich in Israel niederzulassen.

Ich kann nicht sagen, dass meine Frau und ich unsere Religiosität nach dem Krieg aufrechterhielten. Wir beteten nicht, in die Synagoge gingen wir auch nicht und es war unmöglich die Kaschrut zu befolgen. Nach dem Tod meiner Familie gab ich die Religion auf. Ich kann nicht an einem Gott glauben, der die Massenvernichtung der Juden anhand ihres Jüdisch-Seins erlauben kann. Wenn es passierte und Gott nichts dafür tat, es zu vermeiden, würde es bedeuten haben, dass Er entweder nicht existiert oder nicht so mächtig und gerecht ist, wie mir in der Kindheit erzählt wurde. Unsere Kinder wussten allerdings, dass sie Juden sind. Ich erzählte ihnen die Geschichte des jüdischen Volkes. Zu jedem Feiertag erzählte ich die Geschichte und Traditionen dazu. Zu Pessach erzählte ich davon, wie die Juden nach Israel kamen und von Moses gerettet wurden. Ich erklärte, warum wir zum Pessach Matze essen. Tilda kochte traditionelles jüdisches Essen. Zum Pessach hatte sie immer ein Fass Rotebeete-Kwass. Zum Purimfest machte sie Hamantaschen und für Rosch ha-Schana stellte sie Äpfel und Honig auf dem Tisch.

Ich erzählte meinen Söhnen von meiner Kindheit und vom Cheder, davon wie mein Vater und ich in die Synagoge gingen und über meine Bar Mitzwa. Ich erzählte ihnen auch, wie ich die Religion aufgab und Arbeiter wurde. Ich erzählte auch davon, wie ich meine Mutter verletzte und, dass ich mich dafür noch schuldig fühle und nur in meinem Kopf um Verzeihung bitten kann, da ich sie nach dem Lager nie wiedersah. Unsere Söhne bekamen ihr Wissen über das Judentum in der Kindheit. Wir waren der Meinung, dass wir dazu verpflichtet waren, ihnen jüdisches Leben zu zeigen. Als sie noch Kinder waren, erzählte ich nichts von den Konzentrationslagern. Die Erinnerungen waren zu schwierig für Tilda und mich.

Meine Frau und ich hatten viele Freunde. Die meisten waren Juden, aber wir hatten auch nicht-jüdische Freunde. Tilda und ich freuten uns darüber, glückliche Treffen mit Freunden zu haben. Wir feierten immer Geburtstage in der Familie und sowjetische Feiertage. Ich kann nicht sagen, dass uns die Bedeutung dieser Feiertage besonders wichtig war, aber wir schätzten die Möglichkeit, Freunde einzuladen und ihre Gesellschaft zu genießen. Manchmal waren so viele Gäste da, dass wir die Tür zwischen den Zimmern aufhalten mussten, um den Tisch dazwischen aufzustellen. Egal wie wenig Platz es gab, wir hatten immer sehr viel Spaß dabei. Viele unserer Freunde waren älter als wir. Wir hatten ältere Freunde, weil nur wenige Juden in unserem Alter aus den Lagern wiederkamen. So viele unserer Freunde sind nicht mehr da. Es gibt keine mehr. Nur wir beide. Verstehen Sie, was das heißt? Da waren so viele von uns. Viele gute Freunde. Wenn wir zum Friedhof gehen, gibt es da einen und da einen... es ist erschreckend. Ich bin froh darüber, dass die Kinder unserer Freunde in Uschhord mit uns in Kontakt bleiben.

Meine ganze Freizeit verbrachte ich mit meiner Familie. Am Wochenende gingen wir oft spazieren und wandern in den Bergen. Im Sommer gingen wir wandern und im Winter Skifahren in den Bergen. Urlaub hatten wir am Meer im Süden. In den 1970ern erhielt ich eine Parzelle Land und darauf bauten wir eine Datsche und hatten Obstbäume und Blumen. Die Datsche war unsere Lieblingsfreizeitbeschäftigung. Meine Söhne halfen mir dabei, die Datsche zu bauen. Meiner Frau gefiel die Gärtnerei. Tilda und ich gingen oft auf Konzerte und ins Theater.

Als es in den 1970er Massenausreisen von Juden nach Israel gab, dachten meine Frau und ich nicht einmal an die Auswanderung. Wir hatten Verständnis für unsere Bekannten und halfen ihnen beim Packen unter anderem. Viele unserer Freunde und Bekannten wanderten aus, auch unsere enge Freunde Woita und Frieda. Nach Israel zu gehen würde bedeuten, von Null anzufangen. Mein Hebräisch wäre genügend für den alltäglichen Austausch, aber nicht für die Arbeit. Wir waren schon an unsere Wohnung und Alltagsroutine gewohnt. Wir haben jüdische Freunde, aber da waren auch die nicht-jüdischen Freunde. An sie waren wir auch gewohnt und es hätte uns gefehlt, mit ihnen zu reden. Wir überlegten uns und redeten mit den Kindern darüber. Wenn sie das gewollte hätten, hätten wir uns bestimmt dazu entschieden, nach Israel zu ziehen. Unsere Söhne waren doch nicht sehr überzeugt von der Idee. Also blieben wir. Wir werden natürlich älter und Auswanderung wird noch weniger möglich. Ich werde bald 80 und das Leben neu anzufangen ist nicht für mich.

Wir freuten uns über die Perestroika. Es war uns schon klar, dass das sowjetische System kein gutes war. Meine Schwestern lebten in Israel und ich durfte ihnen nicht schreiben [mit Verwandtschaften im Ausland in Kontakt bleiben], weil meine Frau und ich hohe Positionen auf der Arbeit hatten und dazu Parteimitglieder waren. Damals durften die Bürger nicht mit jemandem aus einem kapitalistischen Land in Kontakt sein. Die Frau von Philip, Tildas Bruder, schrieb mit ihrem Bruder in Israel. Wir gaben ihr Briefe für meine Schwestern, die sie mit den Briefen an ihren Bruder schickte und er schickte sie weiter an meine Schwestern. So schickten meine Schwestern ihre Briefe auch. Diese Vorgehensweise war sehr kompliziert und wir schrieben uns nur ab und zu, aber ich hatte dennoch Angst davor, dass es aufgedeckt wird. Ich hätte meine Stelle verlieren oder von der Partei ausgeschlossen werden könnten oder, noch schlimmer, ich hätte vor Gericht stehen, mit Spionage oder sonst was angeklagt und ins Gefängnis eingeliefert werden können. Also wusste ich von meinen Schwestern und sie von mir. Dieser gelegentliche Briefwechsel war unsere einzige Chance, Informationen auszutauschen.
Während jemand während der sowjetischen Zeit ins Ausland zog, glaubte man nicht daran, dass man ihn wiedersieht, dass man ihn besucht oder er besuchen kommt. Perestroika ermöglichte uns das. Meine Frau und ich reisten in 1988 das erste Mal nach Israel, als die Perestroika erst anfing. Wir trafen uns auf einer Feier und dort stießen wir zuerst auf Gorbatschow. Es war wie wieder zum Leben zurückzukehren! Tilda und ich trafen uns mit Woita, mein Freund, der mit mir im Konzentrationslager war, und Frieda, Tildas Freundin, die mit ihr im Konzentrationslager war. So eine Freundschaft ist mehr als Blutverwandtschaft. Nach so langer Zeit trafen wir sie wieder. Wir umarmten und küssten uns. Natürlich war ich von Israel sehr beeindruckt. Dort sind die antiken und modernen Zeiten sehr schön ineinander verwoben. Seitdem waren wir schon mehrere Male in Israel. Ich mag dieses schöne Land. Ich bewundere seine Menschen, die so ein Paradies mitten in der Steinwüste aufbauen konnten. Ich bin sehr froh darüber, dass mein Sohn ein Teil dieses Land wurde. Das Wiederbeleben jüdischen Lebens hierzulande fing mit der Perestroika an.

Vor drei Jahre besuchten Tilda und ich Auschwitz mit einer Gruppe vom Chesed in Chmelnyzkyj. Ich war der „Rabbi“ dieser Gruppe und es war meine Aufgabe, dort Kaddisch für die Verstorbenen in Auschwitz aufzusagen. Ich erzählte dieser Gruppe von unserem Leben und davon, was unseren Familien passierte. Wir waren die einzigen Teilnehmer dieser Gruppe, die eine persönliche Verbindung zu Auschwitz hatten. Der Rest der Gruppe war in verschiedenen Ghettos in der Ukraine. Diese Reise war sehr schwierig für uns. Während ich Kaddisch auflas machte sich Tilde Sorgen um mich: meine Knie und Hände, sowie meine Stimme, zitterten. Das war eine furchtbare Erfahrung. Natürlich versuchte ich, mich zusammenzureißen. Unsere Reiseleiterin hörte, dass Tilda und ich miteinander auf ungarisch sprachen. Sie bestimmte, wir waren Ungarn, und brachte uns in den ungarischen Raum. Dort waren an den Wänden vom Boden bis zur Decke Namen alphabethisch aufgeschrieben. Ich fand die Namen von meinem Vater und Onkel Idl. Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Moment erlebte. Ihre Namen waren ganz unten und, als ich die las, fiel ich hin. Ich konnte nicht wieder aufstehen. Ich fürchte mich schon davor, mich daran zu erinnern, aber wir müssen uns erinnern und den Lebendigen erzählen, so dass es nie wieder passiert.

1983 kündigte ich meine Stelle als Chef-Ingenieur. Ich kam mir der Menge an Arbeit nicht klar. Die Geschäftsführung wollte, dass ich bleibe, aber ich wollte nicht als Chef-Ingenieur weiterarbeiten und sie boten mir eine Stelle als Berater an, da ich seit dem Bau dieses Werks dort arbeitete. Ich wusste alles über das Werk. Ich arbeitete bis 1991 dort. Im selben Jahr fing eine Aktion an, alle Rentner zu kündigen. Der Direktor des Werks schlug vor, eine kleine Firma auf Grundlage dieses Betriebs zu gründen, und dass ich dafür Direktor werde. Ich lud alle zu pensionierenden Arbeiter zu dieser Firma ein. Dort arbeitete ich zwei Jahre weiter, mir gefiel der Job nicht und ich hörte auf. Meine Frau hörte mit 55 auf, zu arbeiten. Die Geschäftsführung wollte, dass sie länger arbeitet und sagte, dass sie es ohne sie nicht schaffen. Tilda bleib noch fünf Jahre und 1983 bestand sie darauf, dass die kündigen möchte. Es war Zeit für Ruhe.

Ich habe jetzt Arbeit zu tun. Während der Jahre der sowjetischen Herrschaft war ich Jude. Ich bin im tiefsten Herzen Jude, ich wurde als Jude großgezogen und meine jüdische Verwandten kamen im Konzentrationslager ums Leben. Nach meinem Rücktritt lud mich die jüdische Gemeinde in Uschhorod dazu ein, Vorstandsvorsitzende zu werden und für die Übereinstimmung mit den jüdischen Gesetzen – der Jiddischkeit – zu sorgen. Es gibt auch andere Juden mit solchen Kenntnissen, aber sie sind viel jünger und erinnern sich nicht an so viele Sachen wie ich. Außerdem wuchs ich in einem chassidischen Haushalt auf. Ich unterrichtete früher Erwachsene und Kinder. Ich erzählte ihnen, wie es bei mir zuhause war und wie es in einem jüdischen Haus sein soll. Heute ist es einfacher, weil es dafür jüdische Schulen und für Erwachsenen-Vorträge in der Synagoge gibt. Es gibt jüdisches Massenmedien und Bücher, aber damals in den 1990ern war es anders. Ich halte noch Vorträge. Ich bekomme Einladungen, vor allem zu Feiertagen, um über Traditionen, Gebete und Interpretationen von Jiddischkeit zu reden, weil ich es studierte und noch weiß, worum es geht. Manchmal lese ich zusätzliche Information, um meine Erinnerung zu stärken, aber meistens erzähle ich davon, was ich durchlebte. Ich lehrte Kinder und ich freue mich darüber, den Menschen nützlich zu sein. Ich bin Jude und glaube, dass ein Jude davon bewusst sein muss, warum er Jude ist. Wenn man an seine jüdische Identität glaubt, muss man ein allgemeines Wissen von jüdischer Geschichte haben.

Nach meinem Abtritt feierten meine Frau und ich die jüdischen Feiertage zuhause. Dafür haben wir alles, was wir brauchen. Wir haben ein Chanukkia und die Schüler der jüdischen Schule schenkten mir ein von ihnen gesticktes Tuch für die Umwicklung der Matzen. Wenn amerikanische Rabbiner unsere Synagoge besuchen, war ich der einzige, der mit ihnen auf hebräisch sprechen konnte. Sie mochten mich so sehr, dass sie mir ein Tablett mit kleinen Löchern, das beim Sederabend zum Pessach benutzt werden kann und besondere Gläser für den Sederabend geschenkt haben. Ich benutze sie. Wenn es soweit ist, werde ich sie an jemand anderen weitergeben.

Tilda und ich und die Familie meines Sohnes verbringen die jüdischen Feiertage beim Chesed. Beim letzten Purim war ich auf der Bühne. Chesed hatte eine Feier im Theater organisiert und wollte, dass ich auftrete. Ich dachte zu mir, „werde ich ihnen die Geschichte von Haman und Ester erzählen, wenn sie schon so bekannt ist? Nein, ich plane eine Überraschung!“ Ich trug Gummistiefel und eine Mütze und ging auf die Bühne, wo ich Witze erzählte und Lieder sang. Ich hatte dem Zeremonienmeister gesagt, dass er mich von der Bühne herunternehmen sollte, wenn ich so tue, als ob ich betrunken wäre. Also wusste er, dass ich alles nur vorspiele, aber die anderen dachten, dass ich schon betrunken war. Er versuchte mich zu fangen und ich sagte vortäuschend, dass „wenn ein Jude beim Purimfest viel trinkt, warum will er mich von der Bühne tragen?“ Ich wurde für mein künstlerisches Können gelobt, weil jeder glaubte, ich wäre betrunken. Das war das einzige Mal, dass ich so herumscherzte. Eine alte Person ist wie ein Kind. Sie überzeugten mich davon, Menschen zum Lachen zu bringen. Ich zündete auch bei der Chanukka-Feier im Theater im Ort die Chanukkia an.

Meine Frau und ich werden dieses Jahr 80, aber wir versuchen nicht aufzugeben. Wir gehen jeden Tag spazieren, egal welches Wetter. Regen, Schnee oder Frost sind uns egal, es ist nur schlimm, wenn es sehr windig ist. Jeden Tag gehen wir 6 Kilometer. Wir haben einen Lieblingsweg – wir laufen zu einem Park am Stadtrand. Dreimal der Woche gehen Tilda und ich ins Schwimmbad. Wir gehen seit 15 Jahren dorthin. Wir versuchen fit zu bleiben. Ich weiß nicht, wie lange wir das noch hinbekommen. Meine neue Lieblingsfreizeitbeschäftigung ist das Computer. Als ich es mir kaufte, dachte ich an Kommunikation mit meinem Enkelsohn in Israel, da Telefonanrufe teuer sind. Also kaufte ich wegen E-Mails einen Rechner, aber später lernte ich es sehr zu schätzen. Ich besuche Computer-Kurse beim Chesed. Ich werde so nervös, wenn ich etwas Falsches mache, aber wenn ich was Neues lernen, bin ich sehr glücklich. Ich fand auch das hebräische Alphabet am Rechner und nun kann ich auf Iwrit schreiben. Es macht mir so einen Spaß. Computer ist mein einziges Hobby, das ich nicht mit meiner Frau teile. Bei allen anderen sind wir zusammen. Trotz allem was passiert ist, bin ich dem Leben dafür dankbar, dass wir uns kennenlernten und ein gemeinsames Leben verbringen konnten.