Erna Goldmann

Goldmann Erna
Tel Aviv
Israel
Datum des Interviews: August 2010
Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Im August 2010 landete ich mit der EL Al nach zehn Jahren wieder am Flughafen in Tel Aviv. Der Flughafen ist inzwischen neu, trotzdem ist mir nichts fremd. Im Gegenteil, Tel Aviv ist vertraut wie nie zuvor.

So mache ich mich am nächsten Tag, es ist August und sehr heiß, auf den Weg nach Ramat Chen, einem Wohngebiet mit überwiegend privaten Häusern und Villen. Dank seiner ausgezeichneten Lage - direkt neben dem Nationalpark und der Autobahn Nr. 4, ist Ramat Chen ein sehr beliebter und teurer Ort zum Leben.

In der Aluv David Street 185 befindet sich das deutsche Altersheim, in dem Erna Goldmann seit vielen Jahren lebt. Sie hat eine schöne kleine Wohnung im Erdgeschoß mit Blick auf einen herrlichen Garten mit Bäumen, Sträuchern und großen Kakteen.

Ich hatte mit Frau Goldmann von Wien aus oft telefoniert und sie erwartete mich und freute sich auf unser Gespräch. Die 92 Jahre sah man ihr nicht an, und sie wäre auch, was die Aussprache und Intonation betraf, als Deutsche ohne Weiteres durchgegangen.

Nur ab und an benutzte sie zwischendurch ein hebräisches Wort wie ‚nachon?' [hebr. bedeutet: richtig?]. Am Telefon hatten wir sehr vertraut miteinander gesprochen und viel gelacht, aber an viele Geschehnisse in ihrem Leben konnte oder wollte sich Frau Goldmann nicht mehr erinnern.

Meine Familiengeschichte

Meine Großmutter mütterlicherseits habe ich nicht gekannt. Sie hieß Eva [jüd. Chava] Rapp. Als ich geboren wurde, war sie schon gestorben. Mein jüdischer Name ist auch Chava, nach meiner Großmutter.

Mein Großvater mütterlicherseits hieß Michael Rapp. Wir haben in Frankfurt zusammen im selben Haus gewohnt, in der Eschenheimer Anlage 30. Die Eschenheimer Anlage war eine Anlage, da standen rechts und links Häuser, und die Strasse hieß Eschenheimer Anlage.

Sie begann am Eschenheimer Turm, der ein Wahrzeichen und das älteste Bauwerk der Stadt Frankfurt ist. Das Haus, in dem wir alle wohnten, gehörte meinem Großvater. Es hatte drei Stockwerke. Im unteren Stock wohnte eine Arztfamilie, der Großvater wohnte in der Mitteletage, und wir wohnten über ihm im zweiten Stock. Es gab auch Dachwohnungen, die waren für das Dienstpersonal.

Mein Großvater war ein großer stattlicher Mann. Er soll ein sehr bekannter Mann in Frankfurt gewesen sein. Man sagte mir, er hätte einen Kaffeeimport gehabt. Bis zur Inflation im Jahre 1923 war er sehr wohlhabend. Dann hat er viel Geld verloren, aber wenn ich so zurück denke, hat er trotzdem ganz gut gelebt. Er hatte eine Köchin und Haushälterinnen in seiner Siebenzimmerwohnung.

Als ich ihn kannte, hat er gar nichts gemacht. Er saß zu Hause an seinem Schreibtisch und hat jeden Morgen die Zeitung gelesen und Briefe geschrieben. Das ist das Einzige, woran ich mich erinnern kann.

Mein Großvater war religiös. Er hat koscher 1 gegessen und ist am Schabbat 2 nicht gefahren. Er hat alle Feiertage gehalten und ist regelmäßig in die Synagoge gegangen. Mein Vater und mein Großvater sind immer zusammen in die Synagoge gegangen.

Aber mein Großvater hat auch für sein nichtjüdisches Personal zu Weihnachten einen Weihnachtsbaum gekauft, Geschenke dran gehängt und die Kerzen angezündet. Daran kann ich mich erinnern, das habe ich gesehen. Ich war ja ein Kind, und so was sieht immer schön aus. Aber ansonsten hatten wir mit christlichen Festen nichts zu tun.


Mein Großvater hatte kein schönes Ende. Er ist nicht mehr aus Deutschland raus gekommen. Meine Brüder, meine Mutter und ich waren bereits weg. Er musste sein Haus verlassen und wohnte dann in einem jüdischen Hotel. Als das Hotel arisiert wurde und der Besitzer deportiert wurde, wurde er von einer christlichen Familie in Frankfurt versteckt. Ich weiß nicht, wann er gestorben ist, aber ich weiß, er war in keinem KZ. Aber er war allein, ohne seine Familie.

Die Großeltern hatten vier Kinder. Meine Mutter Rosa, man hat sie immer Rosi gerufen, und drei Söhne. Alle Kinder wurden in Frankfurt geboren. Julius Jonas Rapp wurde 1879 geboren, Ernst Juda Wilhelm 1880 und Daniel Michael 1882. Daniel Michael wurde nur zwei Jahre alt.

Meine Mutter Rosa wurde am 28. April 1885 geboren.

Ernst ist 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, an der Spanischen Grippe gestorben. Das war damals eine Epidemie. Den Ernst kannte ich natürlich nicht. Ich besitze eine Tefila [eigentlich bedeutet das Wort Tefila Gebet, aber in diesem Falle ist es das Familienstammbuch], die mein Großvater meiner Mutter 1937 gegeben hat, als sie nach Palästina flüchtete. Da steht alles drin.

Ich kannte also nur den Onkel Julius. Er war Börsianer und sehr wohlhabend. Er hat in Berlin gelebt, im Stadtbezirk Wilmersdorf, in der Paulsborner Strasse 83a. Er war zweimal verheiratet, seine zweite Fau hieß Anna Benon. Sie hatten einen Sohn Günter. Onkel Julius flüchtete aus Berlin und hat es bis Südfrankreich geschafft.

Dann haben sie ihn gefangen. Vom Internierungslager Gurs 3 wurde er nach Polen ins Vernichtungslager Majdanek 4 deportiert und ermordet. Sein Sohn Günther flüchtete nach Südamerika. Das weiß ich. Er hat nach dem Krieg einmal meinen Bruder Karl in Jerusalem besucht, aber da war ich nicht da.

Auch unsere Wohnung hatte sieben Zimmer und einen Balkon nach vorn raus, wie die des Großvaters. Wir hatten ein Speisezimmer, ein Herrenzimmer - Herrenzimmer klingt für mich so lächerlich heute - einen Salon, ein Schlafzimmer für meine Eltern, zwei Zimmer für meine Brüder und ein Zimmer für mich.

Vor dem Haus gab es einen kleinen Vorgarten. Das war eine grüne Anlange mit einem kleinen Springbrunnen.

Das Haus meines Großvaters existiert noch. Es wurde aber nach dem Krieg umgebaut. Ich weiß nicht genau, wann ich noch einmal in Frankfurt war, vielleicht vor ungefähr zwanzig Jahren. Ich war damals eingeladen von der Stadt Frankfurt, da habe ich auch das Haus besucht.

Es ist etwas höher geworden, eine Etage wurde dazu gebaut, aber sonst sah es so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich war aber nicht im Haus, ich kenn ja niemanden mehr, was hätte ich den Leuten sagen sollen? Blöd, nicht wahr?

Die Eltern meines Vaters waren aus Worms [Deutschland]. Sie hießen Guggenheim. Ich habe sie nie kennengelernt, obwohl sie sogar alt geworden sind. Ich weiß nicht, warum ich sie nicht gekannt habe, sie sind nie zu Besuch gekommen. Meine Eltern sind hingefahren, das weiß ich.

Ich wurde nicht mitgenommen, ich war ein kleines Kind, und von Frankfurt nach Worms war das damals eine längere Reise.

Mein Vater Theodor hatte fünf Schwestern, er war der einzige Sohn. Da waren die Tanten Gina, Alice, Sofie, Klara und Emma. Tante Emma und Tante Klara haben in Berlin gewohnt, Tante Gina hat in Bad Homburg mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn gewohnt, die hatten dort eine kleine Fabrik, und Tante Alice und Tante Sofie haben in Frankfurt gewohnt.

Wenn die Tanten aus Berlin und Bad Homburg in Frankfurt zu Besuch waren, daran kann ich mich noch gut erinnern, haben sie im immer im Hotel ‚Frankfurter Hof' gewohnt. Ich kannte alle Tanten, aber ich hatte keine enge Beziehung zu ihnen, für mich waren sie alte Leute.

Tante Gina hat das KZ Bergen-Belsen 5 überlebt und starb wenige Jahre nach Ende des Krieges in Holland. Tante Klara überlebte mit ihrer Familie in Amerika. Die anderen Tanten wurden im Holocaust ermordet.

Meine Kindheit

Wo genau sich meine Eltern kennengelernt haben weiß ich nicht, aber das war zu jener Zeit, wie damals üblich, eine vereinbarte Ehe. In dieser Zeit gab es doch noch keine Jugendbewegungen, wo sich die jungen Leute hätten kennen lernen können. Meine Eltern haben 1903 oder 1904 geheiratet.

Mein Vater war Getreidehändler. Das Geschäft hatte er von seinem Vater übernommen. Er hatte zwei, drei Angestellte in seinem Büro. Ich erinnere mich noch, dass ich ihn als Kind in seinem Büro besucht habe. Im Büro gab es keine Schreibmaschinen, nur große Bücher und Tintenfässer mit Tinte. Sie haben damals die Sütterlinschrift geschrieben. Mein Gott, wie lang das her ist!

Mein Vater ist morgens aus dem Haus gegangen, zum Mittagessen kam er nach Hause. Das Büro war in der Nähe, man konnte zu Fuß gehen. Nach dem Mittagessen ist er wieder ins Geschäft gegangen, und abends gegen sieben Uhr ist er nach Hause gekommen.

Wir hatten einen koscheren Haushalt. Es gab nicht viele koschere Fleischhauer in Frankfurt, obwohl in Frankfurt viele Juden lebten. Frankfurt war damals aber keine große Stadt und auch nicht so schön wie heute. Wir haben jeden Freitag den Schabbat gefeiert.

Es ist freitags am Vormittag gekocht worden, und dann wurde das Essen nur noch warm gemacht. Wir haben zu Hause in Frankfurt immer zu Chanukka 6 die Kerzen gezündet, und am Jom Kippur 7 war mein Vater den ganzen Tag in der Synagoge. Meine Mutter ist nicht den ganzen Tag in die Synagoge gegangen, aber gefastet hat sie auch bis zum Abend. Meine Brüder sind überhaupt nicht in die Synagoge gegangen, sie waren gute Juden, aber sie waren nicht religiös.

Den Schabbat habe auch ich später immer mit meiner Familie gefeiert. Wir fanden, das ist schöner Abend. Auch Chanukka haben wir immer zu Hause gefeiert. Wir haben die Kerzen gezündet, und es gab immer Geschenke für die Kinder. Das hat aber nichts mit Frömmigkeit zu tun, sondern weil wir das gemütlich fanden.

Wir haben alle hohen Feiertage gefeiert. Zu den Feiertagen, den Seder 8 hat immer mein Mann gehalten, er hat das sehr gern und gut gemacht, hatten wir auch immer Freunde und viele Kinder eingeladen. Wir waren immer so fünfzehn, sechzehn Leute.

Wir haben diese Abende immer gut vorbereitet, wir haben uns immer sehr gefreut darauf. Ich weiß nicht, wann ich das erste Mal die Klagemauer gesehen habe. Ich weiß nur, dass sie auf mich nicht so einen großen Eindruck gemacht hat.

Mein ältester Bruder Karl war zwölf Jahre älter als ich, er ist am 12. Januar 1906 geboren. Mein Bruder Paul war sieben Jahre älter als ich, er ist am 18. April 1910 geboren. Ich bin am 22. Dezember 1917 in Frankfurt zu Hause geboren. Damals ist man ja noch zu Hause geboren und nicht im Krankenhaus. ‚Meine liebe Enkelin Erna Guggenheim wurde geboren in der Nacht vom 21. auf den 22. Dezember 1917' - das hat mein Großvater in die Tefila geschrieben.

Meine Mutter war eine große, starke, blonde Frau. Sie war eine liebevolle Mutter. Als ich klein war hat sie mich oft geküsst, aber als ich in die Pubertät kam, entstand ein gewisser Abstand. Ich glaube, das ist völlig normal. Mein Vater war verrückt nach mir, nach zwei Söhnen eine kleine Tochter - da sind doch die Eltern immer sehr glücklich.

Wie die Beziehung meiner Brüder zu meinem Vater war, weiß ich nicht. Mein Vater wollte, dass mein großer Bruder Karl in sein Geschäft einsteigt. Das kam aber für Karl gar nicht in Frage, Gott sei Dank! Karl war kein kaufmännischer Typ, er war ein hochintellektueller Typ.

Meine Mutter hat, das hör ich noch in meinem Ohr, oft gesagt: wie deine Brüder dich verwöhnen! Ich hatte eine wunderbare Beziehung zu meinen Brüdern. Sie haben mich wirklich sehr verwöhnt. Karl hat Medizin in verschiedenen Universitäten studiert, in Frankfurt, München, Berlin, und immer wenn er nach Hause gekommen ist, hat er mich auf Kakao oder Schokolade in das Café Laumer in der Bockenheimer Landstraße 67 eingeladen.

Das war etwas Besonderes. Es gab damals nicht viele Cafés in Frankfurt, und das Café Laumer, das gibt es auch heute noch, war ein bekanntes Café. Man ist damals nicht so ins Café gegangen wie heute. Ich war noch ein Kind, und ich war immer sehr stolz, wenn mein Bruder mich ins Café ausführte.

Wir hatten ein jüdisches Hausmädchen und eine christliche Köchin. Und als wir klein waren, hatten wir noch ein Kindermädchen. Die letzten Jahre, bis 1929, hatten wir nur noch unsere Köchin und das Hausmädchen. Auch das jüdische Mädchen hat bei uns im Haus gewohnt.

Aber nicht in unserer Wohnung, sondern oben im Haus in einem Dachzimmer. Das jüdische Hausmädchen ist mit mir spazieren gegangen, oder sie war im Park mit mir. Sie war nicht viel älter als ich, sie war noch sehr jung. Ich weiß, dass sie nach Amerika flüchten konnte.

Im Theater waren meine Eltern selten, aber sie sind manchmal in Konzerte gegangen und hatten oft Gäste. Das waren nur jüdische Freunde und Bekannte. Meine Mutter war als Jugendliche in einem jüdischen Mädchenpensionat, da hat man ein bisschen Hauswirtschaft gelernt.

Und da war auch ein Kreis von Freundinnen geblieben, mit denen sie viel Zeit verbrachte. Sie hat sich morgens früh mit ihnen telefonisch verabredet, und dann sind sie spazieren gegangen. Ich kann mich erinnern, dass sie einmal früh morgens mit mir in den Palmengarten gegangen ist, da war auch eine Freundin von ihr dabei. Mein Vater hat den ganzen Tag gearbeitet. Er hat höchstens am Abend Zeitung gelesen.

Bis 1929 waren die guten Zeiten, dann begann die Wirtschaftskrise. Nach 1929, ich war zwölf Jahre alt, hat die Krise unser Leben völlig verändert. Unser Geschäft ging gar nicht mehr. Zuerst haben wir unsere sieben Zimmer Wohnung umgebaut in zwei Drei-Zimmer-Wohnungen, und noch heute, Jahrzehnte später, bewundere ich meine Mutter, wie sie das alles hingenommen hat. Sie war sehr realistisch.

Mit meinen Freundinnen ging ich zusammen in eine jüdische Schule. Es gab zwei jüdische Schulen, ich ging in die Samson-Raphael-Hirsch-Schule, die nach einem Rabbiner benannt war. Die Hirsch Realschule war die frömmere Schule von beiden.

Damals war es modern in unserem Kreis, dass man die Kinder die ersten vier Jahre Volksschule in diese jüdische Schule schickte, und danach auf eine christliche Schule, damit sie so viel wie möglich lernen. Aber zu meiner Zeit war das schon nicht mehr, da war schon die Nazizeit. Da bin ich dann nicht mehr in eine andere Schule gegangen.

Ich ging zehn Jahre in die Samson-Raphael-Hirsch-Schule. Ich hatte in der Schule natürlich Religionsunterricht, aber der hat mich nicht so sehr interessiert. Sprachen habe ich gern gehabt, aber ich war keine gute Schülerin. Ich hab nicht gerne gelernt. Obwohl mein Bruder Karl Hebräisch - Unterricht in Frankfurt gegeben hat, als er noch zu Hause war, habe ich kein Hebräisch gelernt.

Mittags um eins kam ich immer nach Hause. Das Mädchen hat dann das Essen serviert, und wir haben alle zusammen Mittag gegessen. Nach dem Mittagessen hat sich meine Mutter ein bisschen hingelegt, oder sie hat neben mir gesessen und mir bei den Schularbeiten geholfen.

Unten auf der Straße habe ich dann mit meinen Freundinnen zum Beispiel Hickelkreis gespielt. Da hat man mit Kreide bestimmte Formen auf die Strasse gemalt und ist mit einem Bein von einem Kästchen ins andere gehüpft. Ich bin viel mit dem Fahrrad gefahren.

Ich hatte ein schönes Fahrrad von meinen Eltern geschenkt bekommen, das war mein Rolls Royce. Ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich es bekommen habe. Alle haben zu dieser Zeit Fahrräder gehabt. Zur Schule bin ich nicht mit dem Fahrrad gefahren, da bin ich gelaufen. Die Schule war ungefähr zwanzig Minuten zu Fuß entfernt. Nachmittags bin ich dann mit meinen Freundinnen mit dem Fahrrad gefahren.

Früher war man anders angezogen. Ich war immer sehr gut angezogen, mit Mantel und Hut. Ich ging auch in die Tanzstunde. Für meinen ersten Tanzstundenball bekam ich ein wunderschönes Ballkleid aus hellblauem Taft. Das wurde extra für mich angefertigt. Es gibt Fotos, die hat mein Bruder fotografiert, da sitze ich mit dem Ballkleid im Herrenzimmer.

Meine Brüder und später auch ich waren in der zionistischen Jugendbewegung ‚Blau-Weiß'.

Diese Jugendbewegung war einer der zionistischen Bünde und damals sehr bekannt. Wir sind nicht in ein Café gegangen, wir sind nicht Essen gegangen, das haben wir nicht gemacht. Wir sind gewandert und haben gesungen und viel über Israel gesprochen.

Mein Leben war nie langweilig, weil wir immer zusammen waren. Wir sind mit den Fahrrädern in den Frankfurter Stadtwald gefahren, und wir waren zusammen in Pfingstlagern, Sommer- und Winterlagern. Ich besitze noch Fotos aus dieser Zeit.

Mehrere Male in der Woche haben wir uns getroffen, auch als Hitler schon an der Macht war. 1933 waren wir im Pfingstlager in Dörnigheim, das liegt am rechten Mainufer, ganz in der Nähe von Frankfurt Wir haben in Zelten oder Jugendherbergen gewohnt und am offenen Feuer gekocht. Wir sind Schwimmen gegangen und viel gewandert. Im Sommerlager waren wir in der Schweiz. Diese Lager waren immer sehr schön. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir immer zusammen waren, aber sicher nie länger als eine Woche. Eine meiner damaligen Freundinnen habe ich auch hier noch getroffen, sie lebte in Israel in einem Kibbutz 9. Ich hab manchmal mit ihr gesprochen. Ach Gott, das ist so lange her.

Mein Bruder Paul war ein sehr gut aussehender Mann. Er hat Pfeife geraucht, das war modern damals. Er ist sehr früh nach Holland gegangen. Er war mit der Schule nach zehn Jahren fertig, was er dann gemacht hat, weiß ich nicht. In Holland hatten wir einen Onkel, das war ein Vetter meines Großvaters.

Er hieß Karl Rapp. Dieser Vetter meines Großvaters hatte in Delft eine Farben Fabrik. Sie ist gut gegangen, und Paul ist nach Hitlers Machtantritt zu ihm nach Delft gegangen und hat bei ihm das Kaufmännische gelernt.


Wir waren oft alle zusammen in Holland, meine Eltern, mein Großvater und ich. Manchmal bin ich auch nur mit meinem Großvater allein gefahren. Wir waren in Delft bei meinem Bruder, in Den Haag und in Katwijk an der Nordsee. Wir haben dort Urlaub gemacht, meinen Bruder besucht und den Verwandten meines Großvaters mit seiner Familie.

Wir waren immer längere Zeit in Holland. Ich denke, es waren immer zwei bis drei Wochen, zehn Tage aber wenigstens. 1933 waren für mich noch Schulferien. Da war ich mit meinem Großvater und der Tante Flora, das war eine Nichte meines Großvaters, die ihm den Haushalt geführt hat, in Holland. Und 1934 haben wir bei meinem Bruder gewohnt, da haben wir ein Zimmer in seiner Wohnung bekommen.

Paul hatte in Delft eine primitive Wohnung, ich finde, damals war alles primitiv.

  • Während des Krieges

Paul hatte in Holland eine Freundin, Regina Fränkel hieß sie. Sie war auch aus Frankfurt. Ich war mit ihr in Frankfurt befreundet, und auch unsere Eltern waren miteinander befreundet. Nachdem Paul das Kaufmännische gelernt hatte, hat ihn die Familie Fränkel in den Knopfhandel ‚Butonia', Handel und Produktion von Knöpfen, genommen.

Die ganze Familie war sehr zeitig aus Frankfurt weggegangen. Damals glaubte man, man sei in Holland sicher. Als die Deutschen nach Holland kamen, wurde es sehr gefährlich. Es war eine schreckliche Zeit.

Der Familie Fränkel gelang die Flucht nach England, und mein Bruder und seine Freundin Regina hatten Einreisevisa für Kuba erhalten. Mein Bruder kannte jemanden in der Schweiz, der hat ihnen 1940, als die Deutschen schon Holland besetzt hatten, die Einreise nach Kuba besorgt. Sonst hätten sie nicht mehr rechzeitig aus Holland flüchten können.

Auf der Flucht nach Kuba hat Regina einen anderen Mann kennengelernt, mit dem sie dann nach Amerika gegangen ist. Mein Bruder ist allein weiter nach Kuba geflüchtet. Es war eine sehr schwere Zeit für ihn auf Kuba, denn Kuba war sehr primitiv, und das Leben war hart. Aber mein Bruder war noch jung, und er war glücklich, dass er gerettet war. Damals hat man alles in Kauf genommen, nur um weg zu sein. Kontakt zur Familie gab es in dieser Zeit kaum, das war sehr schwer möglich.

Von Kuba ist Paul nach Amerika gegangen. In Amerika ging er zum holländischen Militär, erhielt dadurch die holländische Staatsbürgerschaft und ging nach Kriegsende zurück nach Holland. Dort hat er gelebt und wieder im Knopfhandel der Familie Fränkel, diesmal war es aber mit dem Sohn, gearbeitet.

Später hat er den Knopfhandel übernommen, der sehr gut ging. Paul war zweimal verheiratet. Mit seiner zweiten Frau Jetti hatte er drei Kinder: Gidon, Michael und Margalit. Seine Frau war sehr schön, die Mutter war Holländerin, der Vater Indonesier.

Mein Mann und ich haben sie später oft in Holland besucht, das erste Mal waren wir 1958 bei ihnen in Amsterdam. Das war auch unsere erste Auslandsreise von Israel aus. Mein Bruder starb am 9. Februar 1974. Seine Frau und seine Kinder leben noch heute in Holland.

Karl Rapp, der Vetter meines Großvaters, wurde im Holocaust ermordet.

Mein Bruder Karl war ein glühender Zionist 10. 1933 war er mit dem Studium bereits fertig, er hatte sogar noch sein praktisches Jahr im Virchow-Krankenhaus in Berlin gemacht. Er war Praktischer Arzt, hat später aber nur noch wissenschaftlich gearbeitet.


Nach dem praktischen Jahr verließ Karl Deutschland und ging nach Palästina. Meine Eltern waren damit einverstanden, sie waren modern. Es war nicht so leicht damals, man brauchte ein Zertifikat von den Engländern, denn Palästina stand unter englischem Mandat.

Karl hatte bereits gesehen, was in Deutschland passieren kann und hat meinen Eltern aus Palästina ständig geschrieben: ihr müsst kommen, ihr müsst kommen! In Palästina angekommen, ging er nach Jerusalem. Er hatte damals eine Freundin aus Frankfurt, mit der er zusammen in der zionistischen Jugendbewegung war, die hat er dann geheiratet.

Irene war zuerst im Kibbutz, nachher haben sie geheiratet und haben in Jerusalem gelebt. Er ist immer in Jerusalem geblieben und hat dort an der Universität gearbeitet, seinen Doktor in Ernährungswissenschaften gemacht und war Professor. Karl hat nur aus Lesen und Arbeiten bestanden.

Mein Bruder hat als Professor an der Hebrew University of Jerusalem unterrichtet und 250 wissenschaftliche Arbeiten und Lehrbücher über Ernährungswissenschaften geschrieben. Wenn er uns in späteren Jahren in Tel Aviv, Ramat Gan oder Ramat Chen besucht hat, kam er immer mit einem Buch unterm Arm in die Wohnung:

Shalom, wie geht's, und schon saß er im Sessel und hat gelesen. Im Alter hat er sich dann geändert, weil er nicht mehr gut sehen und dadurch nicht mehr lesen konnte. Da war er dann sehr interessiert am Unterhalten. Karl hatte drei Kinder, zwei Söhne, David und Amnon und eine Tochter Ruth. Ruth lebt nicht mehr. Sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Das ist sicher schon zwanzig Jahre her. Sie und ihr Mann waren auf einer Tour durch Amerika, da ist das passiert.

Karl starb am 15. Oktober 2002 in Jerusalem.

Meinen Mann habe ich bereits 1933 in der zionistischen Jugendbewegung ‚Blau-Weiß' kennengelernt. Martin, jüdisch Moshe, Goldmann hieß er. Er war damals 20 Jahre alt, ich war 1933 gerade 16 Jahre alt. Moshe kam aus Dessau. Seine Mutter Helene war aus Wien, glaube ich, sein Vater Adolf Goldmann kam aus einer ostjüdischen Familie in Polen.

Er hatte keine formelle Ausbildung, zum Beispiel, jeden Brief an uns hat meine Schwiegermutter geschrieben. Nur sie hat geschrieben. Und alles, was schriftlich zu erledigen war, hat sie gemacht. Sie waren religiös, aber traditionell. Sie haben die Feiertage gehalten und waren koscher.

Mein Schwiegervater war als 19jähriger Junge aus einer polnischen Kleinstadt nach Deutschland gekommen. Er hatte nichts besessen. Im Laufe der Jahre hatte er eine sehr große Lederwarenfabrik, ein Haus und ein Auto mit einem Chauffeur.

Er hatte sogar seine Produkte vor dem Krieg auf der Leipziger Messe ausgestellt und seine ‚Bist du klug und auf der Höh', trag' dein Geld im Portemonnaie' oder ‚wer spart und stets auf Ordnung hält, bewahrt im Portemonnaie sein Geld' das waren zwei der Slogans für seine Produkte. Lotte, die älteste Tochter, hat in der Fabrik ihres Vaters mitgearbeitet.

Mein Schwiegervater war auch ein begeisterter Zionist. Zum 17. Zionistenkongress, der war 1931 in Basel, ist mein Schwiegervater mit Moshe und Moshes Schwester Lotte gefahren.

Sie kamen dort an, und mein Schwiegervater wurde gefragt: Herr Goldmann, haben Sie eine Einladung? Natürlich hatte er keine Einladung. Da hat er gesagt: mein Name ist Goldmann, ich möchte bitte mit meinen zwei Kindern hier reingehen.

Man hat gesagt, dass sie ohne Einladung nicht rein kommen. Also ist mein Schwiegervater zu einem Platz gegangen, hat Arbeitskleidung und Besen vom Reinigungspersonal genommen, alle drei haben die Arbeitskleidung angezogen, jeder hat einen Besen in die Hand genommen, und so sind sie rein gekommen und hatten sogar sehr gute Plätze.

Moshe war also aus gutem Hause, aber aus einem ostjüdischen. Und mein Vater war sehr westjüdisch. Das waren damals große Unterschiede. Die Westjuden waren gegen die Ostjuden. Die waren ihnen nicht fein genug, obwohl die Familie es sehr weit gebracht hatte, weiter als wir. Aber ein Ostjude ist ein Ostjude geblieben.

Der Bruder meines Schwiegervaters war in Dessau Inhaber eines Pelzhauses. Ihm und seiner Frau Jenny und den Kindern Arnold, Marianne und Bernhard gelang 1939 die Flucht nach Australien.

Es gab eine Gegend in Frankfurt, das war Ostende, der östliche Teil von Frankfurt. Da wohnten viele arme Juden. Die Besseren, die Assimilierteren, haben mehr im Westen gewohnt. An eine Sache denke ich gerade. Die Jeckes [Anm.: Ausdruck für dt. Juden] haben sehr abseits von den Nicht-Jeckes gelebt, von den Juden, die aus dem Osten gekommen sind.

Ich hatte in der Schule in meiner Klasse eine Freundin, die hieß Sonja. Mehr weiß ich schon nicht mehr. Wir waren befreundet, und ich war zum Geburtstag zu ihr eingeladen. Und da sagte meine Mutter: kann man das Kind dahin gehen lassen? Ich erzähle das, weil das typisch für diese Zeit war. Sonja war aus einer ostjüdischen Familie. So war das damals.

Moshe war bereits in Deutschland geboren. Er hatte in der Nähe von Frankfurt gerben gelernt, weil sein Vater wollte, dass auch er in der Fabrik mitarbeitet. Das war dann vollkommen unnötig, hier in Israel konnte er gar nichts damit anfangen.

1934 ist Moshe nach Palästina gegangen. Er hat mich zwischen 1933 und 1934 oft besucht. Aber die meiste Zeit waren wir im Bund zusammen. Nach unseren Treffen im Bund hat er mich immer nach Hause gebracht, und dann haben wir so lange unten auf der Straße vor dem Haus gestanden, dass meine Mutter immer vom Badezimmer raus aus dem Fenster rief: Erna, komm jetzt nach Hause. Ich weiß nicht, ob sie damit einverstanden war, dass ich einen Freund hatte, aber es kam nie zur Diskussion.

Moshe war auch ein paar Mal bei uns zu Hause. In diesem Jahr hat er mir oft geschrieben, wenn er nicht in Frankfurt war. Auf einer Postkarte, aus Dessau, steht:

Liebe Erna, für Post brauche ich mich nicht zu bedanken, da ich keine erhalten habe. Vor allen Dingen möchte ich dir einen recht guten Seder wünschen. Frag ‚ma nischtane...'[Anm: ma nischtanen haLeila hase ist ein Gebet zu Pessach aus der Haggada 11, das vom jüngsten Mitglied der Familie gesagt wird.

Es bedeutet: worin unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?'] und iss' nicht zuviel Mazzeklösschen 12.

Gestern bin ich aus Berlin zurück gekommen. Fast alle Bekannten habe ich gesprochen, Schattner, Sereni, Liebenstein, Schollnik, Georg, etc. etc. Sereni ist gestern zum Seder nach Rom gefahren. Von dort ist er nach Eretz 13 gefahren. Drei Wochen im Land bleiben und zurück kommen.

Am Abend war ich im Theater ‚Hundert Tage von Mussolini'. Fouché, Gustav Gründgens; Napoleon, Werner Kraus. Es ist die Darstellung der 100tägigen Regierungszeit Napoleons nach seiner Verbannung. Fabelhaft war es. Die Schauspieler Gründgens, Kraus waren ganz ausgezeichnet.

Nach dem ich so lange nicht im Theater war, war eine solche Aufführung wieder einmal ein Genuss. Im wahrsten Sinne des Wortes. Also, lass bald etwas von dir hören. Bis Montag bin ich noch in Dessau. Meinen Gruß, Ich küsse dich,
Moshe.

Dessau 29. 3. 34

Moshe hat mir auch eine Karte mit Hakenkreuz aus Dessau geschrieben, da steht: Nationaler Feiertag 1934. Das war der 1. Mai 1934. Auf dem Stempel steht: Bekämpft die Arbeitsnot, kauft deutsche Waren.

Moshe hatte drei Schwestern. Eine Schwester hieß Jenny, eine Lotte und eine hieß Malli.

Jenny ist erst 1939 nach Palästina gekommen. Sie hat mit ihrem Mann Josef Wahl in Berlin gelebt. Ihr Sohn Hanania ist 1939 in Berlin geboren. Josef hat für die Jewish Agency gearbeitet. Er musste über Nacht verschwinden, weil man ihn gesucht hat. Die Nazis wollten ihn abholen.

Dann ist er über Nach nach Dessau zu den Schwiegereltern verschwunden. Und von dort aus ist er ziemlich schnell nach Palästina geflüchtet. Jenny ist alleine mit dem Baby in Berlin zurückgeblieben. Zum Glück hat sie es dann auch noch geschafft. Ich weiß noch genau, wie sie mit dem Baby Hanania auf dem Arm hier angekommen ist. Mein Mann und ich waren mit dem Autobus nach Haifa gefahren und haben sie abgeholt. Hanania ist jetzt einundsiebzig Jahre alt. Wir sind noch immer in Verbindung. Er wohnt nicht weit von hier.

Malli war die jüngste Schwester meines Mannes, sie war in meinem Alter. Sie hat in Palästina Robert Sommer geheiratet. Sie bekamen eine Tochter Ilana. Ilana ist auch bereits Pensionistin. Sie hat viele Jahre in einer Zahnarztpraxis gearbeitet.

Die Lotte, die Älteste, ist mit der Jugendaliah bereits 1936 nach Palästina gekommen. Sie war damals noch ohne Kind und mit Ludwig Ickelheimer verheiratet. Ludwig Ickelheimer war auch aus Dessau und dort ein sehr beliebter Kantor. In Israel hieß er dann Jehuda und hat für Keren Hajessod gearbeitet.

Ihr Sohn Ruben ist zur selben Zeit wie mein ältester Sohn Daniel geboren, das war 1940, also vor siebzig Jahren. Ruben wurde Sportlehrer und ist leider vor wenigen Jahren an Krebs gestorben. Morgen kommt seine Frau mich besuchen. Mit Lotte war ich sehr viel zusammen, wir waren wie Schwestern.

Wir haben jeden Tag stundenlang miteinander telefoniert. Morgens früh haben wir als erstes telefoniert. Ich muss immer dran denken. Es war wunderbar, dass ich mit der angeheirateten Familie so eng war und wir uns alle so gut verstanden haben. Alles haben wir zusammen gemacht.

Sie wohnten ganz in unserer Nähe, Ben Yehuda, Ecke Ben Gurion, damals hieß die Ben Gurion Keren Kajemet. Ganz nahe beieinander waren wir. Wir haben gemeinsam viele Ausflüge gemacht und Picknick. Wir hatten dann auch schon ein Auto. Ich bin nicht gefahren, aber mein Mann.

Mein Mann konnte nicht einen Tag ohne das Auto leben. Das war damals, zu der Zeit, eine große Anschaffung, so ein Auto. Es gab noch wenige Autos. Man konnte überall parken! Überall! Und die Kinder konnten auf der Straße spielen. Als wir nach Ramat Chen gezogen sind, da war die Straße vor uns auch nicht gepflastert. Und dort haben die Kinder gespielt und sind immer mit dreckigen Schuhen raufgekommen.

Frankfurt war mein zu Hause, aber im letzten Jahr, bevor ich nach Palästina ging, gab es schon die Umzüge der Nazis. Wir haben die Rollläden runtergelassen, weil wir Angst hatten. Ist das noch ein Leben?

Ich habe gelernt Schmuck zu machen. Das war kein typischer Beruf, den man in Palästina gebraucht hat. Aber dafür war ich begabt, und das hat meine Mutter gefördert.

Meine Mutter kannte jemanden, der so ein bisschen ein Künstler war, und der hat uns bekannt gemacht mit Kurt Jobst. Ich habe 1934 ein dreiviertel Jahr in seiner Edelmetallschmiede gelernt. Der Herr Jobst war ein richtiger Künstler, ich habe viel gelernt bei ihm.

Herr Jobst war kein Jude, aber er hatte damals nur jüdische Lehrlinge. Wir waren drei jüdische Mädchen, die bei ihm gelernt haben. Wir hatten alle drei eine enge Beziehung zu der Familie. Wir haben sogar 1934 ein Gartenfest bei ihnen gefeiert.

Wir haben 1935 auch eine Arbeit vom Gau Hessen-Nassau aus Emaille angefertigt, ich glaube, das war für die Stadt Frankfurt. Kurt Jobst und seine Frau waren wunderbare Menschen. Er wollte nicht in Nazideutschland leben und hat Deutschland verlassen.

Ich habe dann in Frankfurt an der Kunstgewerbeschule, ich glaube in der Mainzer Landstrasse, angefangen zu lernen. Eines Tages, es war an einem Nachmittag im Jahre 1935, haben wir uns gewundert, dass unsere Chefs uns keine Arbeit gegeben haben. Bevor wir nach Hause gingen, haben sie uns dann gesagt, dass wir morgen nicht wiederkommen dürfen, sie dürften keine Juden behalten.

Mein Vater hätte geglaubt, Hitler geht vorüber. Wie so viele deutsche Juden gedacht haben, Hitler geht schnell vorbei. Ach, furchtbar, wenn ich nur daran denke! Mein Großvater und mein Vater haben sich als deutsche Staatsbürger gefühlt: mir kann doch nichts passieren! Das war ihre Einstellung. Mein Großvater ist zum Beispiel immer im Main schwimmen gegangen. Da gab es ein Schwimmbad. Eines Tages stand da ein Schild ‚Zutritt für Juden verboten'. Und da sagte meine Mutter zu ihm:

Papa, du kannst da nicht mehr hingehen. Hast du nicht gesehen was da auf dem Schild steht, für Juden ist der Zutritt verboten.

Na, da meint man doch mich nicht damit, sagte mein Großvater zu meiner Mutter. Er konnte nicht verstehen, dass das auch für ihn gelten sollte. Ich kann mich noch genau an das Gespräch erinnern.

Ich habe meinen Vater schrecklich geliebt. Er starb 1935, weil er herzkrank war. Früher hat man noch so wenig gemacht. Heute ist die Behandlung vollkommen anders als vor sechzig Jahren.
Ich weiß noch, dass ich bei Tisch gesessen habe, nicht essen konnte und geweint habe. Und ein, zwei Jahre später habe ich gesagt: was für ein Glück, mein Vater ist zu Hause gestorben.

Meine Mutter, mein Großvater und ich waren dann allein, mein Vater war gestorben und meine Brüder waren beide weg. Wir hatten einen Hausmeister, der oben in der Dachwohnung gewohnt hat. Es ist typisch für die Zeit gewesen, was ich jetzt erzähle. Der Hausmeister hatte eine Tochter, sie war in meinem Alter.

Sie ging natürlich in eine christliche Schule, aber als wir Kinder waren, haben wir nachmittags oft vor dem Haus auf der Straße zusammen gespielt. Eines Tages, ich glaube es war 1935, sind wir uns auf der Straße begegnet. Sie guckte weg und grüßte mich nicht mehr. So war das. Das war die Erziehung der Nazijugend, aber ihre Eltern waren auch Nazis. Das hat mir damals sehr wehgetan. Komisch, daran denke ich noch sehr oft.

Meine Mutter hat dann beschlossen, dass auch wir weg müssen, auch weil mein Bruder immerzu schrieb: ihr müsst so schnell wie möglich kommen! Gott sei Dank war er bereits in Palästina, und Gott sei Dank hat er das geschrieben.

Da ich in der zionistischen Jugendbewegung Blau-Weiß war, wo wir Ausflüge machten und uns während unserer Zusammenkünfte viel über Palästina, die Kibbutzim [Anm.: Mrz. von Kibbutz] und andere Dinge in Palästina unterhielten, war es für mich selbstverständlich, dass wir nach Palästina gehen. Es war nicht nur selbstverständlich, es war das Ziel.

Durch meinen Bruder hat meine Mutter ein Zertifikat bekommen und ich dadurch, dass ich in die Bezalel-Schule, das ist die Akademie für Kunst und Kunsthandwerk in Jerusalem, gehen sollte. Es war uns klar, dass wir Deutschland für immer verlassen. Die Freundinnen und Freunde meiner Mutter waren zum größten Teil schon weg.

Nur wenige waren noch da. Es war alles in Auflösung zu der Zeit. Wir hatten keine Ahnung davon, was passieren wird in Deutschland. Wir haben den starken Antisemitismus erlebt, aber was noch passieren wird, haben wir nicht geahnt. Natürlich konnte niemand so etwas ahnen, obwohl Hitler Reden gehalten hat, in denen er so schrecklich gegen die Juden hetzte. In Frankfurt hingen Nazifahnen, ich habe sie überall gesehen. Da wird mir heute noch ganz schaurig, heute noch!

Ich war, bevor ich endgültig nach Palästina bin, im Sommer 1936 für drei Monate mit einem Touristenvisum zu Besuch in Palästina. Ich wollte meinen Freund Moshe besuchen, und ich habe mir gedacht, dass ich vielleicht gleich dort bleiben kann. Aber mein Visum wurde von den Engländern nach den drei Monaten nicht verlängert. So musste ich wieder zurück.

Mein Bruder hatte mich damals am Hafen in Haifa abgeholt. Die Reise von Haifa nach Jerusalem dauerte damals mit der Eisenbahn einen ganzen Tag. In unserem Abteil saßen Araber. Sie haben mir Feigen und anderes Obst angeboten. Ich wollte das nicht nehmen, aber mein Bruder hat gesagt, dass ich das nehmen muss, dass ich das nicht zurückweisen darf. Ich kannte vorher keine Araber, sie waren mir so fremd durch ihre Kleidung, aber sie waren sehr freundlich.

Ich weiß nicht mehr, was das Land für einen Eindruck auf mich gemacht hat. Ich habe gewusst, ich bin auf einem anderen Erdteil. Es gab keine Ähnlichkeit mit dem, was ich bisher kannte, aber darauf war ich vorbereitet. Mich hat die Vegetation nicht so wahnsinnig interessiert, mich hat das Leben in der Stadt interessiert.

Ich hatte meinen Bruder, ich hatte meinen Freund, mich hat nichts gestört, ich war jung, ich hatte keine Probleme. Ich habe bei meinem Bruder in Jerusalem gewohnt. Das Jerusalem damals hatte keinerlei Ähnlichkeit mit dem Jerusalem heute. Alles war primitiv. Mich hat das nicht erschüttert.

Ich war bei meinem Bruder und bei meinem zukünftigen Mann, und ich war zwanzig Jahre alt, da hat man keine Probleme. Wenn man schon älter ist, vierzig, fünfzig, ist eine Umstellung schwer. Aber mit zwanzig? Mein Bruder hatte eine Zwei-Zimmer-Wohnung.

Später hat meine Mutter mit in dieser Wohnung gewohnt, und ich habe dort gewohnt, solange ich nicht verheiratet war, und meine Schwägerin Irene, die schwanger mit dem ersten Kind war und teilweise der Vater meiner Schwägerin. Alle haben wir zuerst da gewohnt in den zwei Zimmern, und es ging. Es war nicht einmal schrecklich.

Meine Schwägerin hatte nur einen kleinen Kleiderschrank auf dem Korridor stehen, und da hab ich drei Kleider von mir reingehängt, die anderen habe ich im Koffer gelassen. So war das, aber es hat mich nicht unglücklich gemacht oder gestört. Zu der Zeit war meine Mutter aber noch in Frankfurt.

Moshe hatte noch keine Wohnung. Er hat bei einem Freund auf dem Land gewohnt und in der Landwirtschaft gearbeitet. Das war in dem Moschaw Pardess Hanna bei Hadera. Es hat mir gut gefallen in Palästina, aber ich musste wieder zurück nach Frankfurt.

Meine Mutter und ich haben dann angefangen unsere Sachen zu packen. Wir haben den Haushalt aufgelöst, zu dieser Zeit konnte man noch große Kisten mitnehmen. Ich besitze noch heute viele Sachen von meinem zu Hause in Frankfurt. Möbel haben wir nicht mitgenommen, aber kleinere Sachen.

Wir wollten auch Teppiche mitnehmen, aber da hat mein Bruder geschrieben: Teppiche bringt nicht mit, das braucht man hier nicht. Damals war alles so primitiv hier, Teppiche hat man sich erst später angeschafft. Aber ich habe immer bedauert, dass wir die Teppiche nicht mitgenommen hatten.

Meine Mutter hat zuerst ihr Zertifikat bekommen, meines kam ein bisschen später. Da das Zertifikat zu einem bestimmten Datum ausgenutzt werden musste, sonst wäre es verfallen, musste meine Mutter ohne mich fahren. Ich hatte dann in unserem Haus oben im Dach ein Zimmer.

Unsere Wohnung hatten wir schon aufgegeben. Zwei, drei Wochen waren es, die ich allein war. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich damals gefühlt habe, und ich weiß auch nicht mehr, was ich da gemacht habe. Dann endlich habe ich mit der Post von der Jewish Agency die Verständigung bekommen, dass ich mein Zertifikat abholen kann. Einen Koffer mit Kleidern hatte ich noch, mehr nicht.

Zuerst fuhr ich mit dem Zug in die Schweiz. In Basel hatte ich eine Cousine, sie war etwas älter als ich und bereits verheiratet, und einen Vetter. Die gingen dann etwas später nach Amerika. Bei denen habe ich ein paar Tage gewohnt, dann bin ich weiter nach Italien gefahren und in Italien bin ich aufs Schiff gegangen.

Das Schiff nach Haifa war dieses Mal voll mit Menschen. Ich fahre ungern auf dem Schiff, es ist wackelig, und da werde ich seekrank. Ich hatte eine Kabine mit zwei, drei Mädchen zusammen, glaube ich.

Als ich endgültig ankam, hat mich wieder mein Bruder abgeholt. Meine Mama war in Jerusalem. Auch Moshe war nicht am Hafen in Haifa, aber am nächsten Tag haben wir uns gesehen. Ich bin mit dem Scherut [Sammeltaxi] am nächsten Tag zu ihm gefahren. Moshe hatte ein Zimmer gemietet bei einer jeckischen Familie. Und wie ich da hinkam, hatte die Familie für ihn im Wohnzimmer ein Bett vorbereitet, damit wir nicht zusammen schlafen.

Ich habe Frankfurt im Sommer 1937 für immer verlassen und in der Yarkon-Straße in Tel Aviv in einem kleinen Hotel im Garten am 24. Dezember 1937 geheiratet. Das Hotel gibt's nicht mehr. Es war eine kleine Hochzeit mit der Familie, meine Mutter, mein Bruder Karl, seine Frau Irene, der Vater von der Schwägerin, eine Tante und mein Schwiegervater, die Schwester meiner Schwiegermutter, Lotte, die Schwester meines Mannes mit ihrem Mann Jehuda Ickelheimer, Ickel haben wir ihn immer genannt und Freunden aus der Jugendbewegung, die auch nach Palästina geflüchtet waren.

Mein Schwiegervater war aus Dessau zur Hochzeit nach Tel Aviv gekommen, und nach der Hochzeit, als er wieder zurück wollte, haben mein Mann und Ickel zu ihm gesagt: du fährst nicht zurück! Er ist dann aber doch gefahren. Aber nicht nach Deutschland, sondern nur in die Tschechoslowakei.

Von dort hat er meine Schwiegermutter angerufen und gesagt, sie soll alles stehn und liegen lassen und sofort kommen. Meine Schwiegermutter hat in aller Eile liquidiert was sie konnte und ist schnell, schnell weg. Und sie sind nie wieder zurück nach Deutschland gefahren.

Was ich ja heute immer noch bewundere, dass wir alle zusammen hier waren und niemand mehr in Deutschland war. Dass die Familie so zusammen geblieben ist, das gibt es so selten, und ich bin ja Gott sei Dank auch zeitig weg, aber es ist mir noch so nah, diese ganze Situation von damals, als wäre es gestern gewesen. Es ist jetzt, je älter ich werde, wieder so nah, es wird immer schlimmer.

Mein Schwiegervater hatte nicht mehr die Kraft, sich etwas Neues aufzubauen. Er hatte aber noch die Gelegenheit, durch jüdische Organisationen ein bisschen Geld aus Deutschland hier her zu transferieren. Er hat dann mit einem ägyptischen Juden zusammen in Petach Tikwa ein großes Haus gekauft, und mein Schwiegervater hat die Wohnungen verwaltet.

Es ging meinen Schwiegereltern nicht sehr gut, bis dann die Wiedergutmachungen in den 1950er/1960er Jahren aus Deutschland begonnen haben. Da hat er dann ein bisschen Geld bekommen. Für seine große Fabrik, die er zurücklassen musste, hat er nicht viel, aber wenigstens ein bisschen Geld bekommen.

Dann ging es besser. 1964 haben meine Schwiegereltern ihre diamantene Hochzeit, das sind 60 Jahre, gefeiert. Das war ein großes Fest. Mein Schwiegervater starb 1965 in Tel Aviv, er wurde 85 Jahre alt.

1937 gab es in Tel Aviv schon alles, Straßen, Kinos, Cafés. Wir haben mit alten Freunden gesessen, haben uns unterhalten und Kaffee getrunken. Meine Schwägerin wohnte auf der Ben Yehuda Strasse, und wir haben Keren Kajemet/Ecke Emile Zola gewohnt. Die Keren Kajemet ist heute die Ben Gurion.

Wir hatten dort eine sehr schöne Wohnung. Morgens sind wir die Ben Yehuda hinunter gegangen, und wir sind alle fünf Minuten stehen geblieben ... oh, hallo, wann bist du gekommen, wie lange bist du schon hier? Mir ging es sehr gut. Man konnte wunderbar in kurzen Hosen zum Meer gehen und die vielen Bekannten, die man getroffen hat... Die ganze Ben Yehuda hat Deutsch gesprochen.

Also, wenn ich jetzt zurück denke, es war so irrsinnig primitiv. Wir haben geheiratet, da hatte ich keinen elektrischen Eisschrank. Nur so einen Eisschrank, wo man Eis geholt und reingelegt hat. Und man hatte kein Gas zum Kochen, man musste auf einem Primus kochen. Aber das war für mich alles selbstverständlich, ich hab mich hineingefügt, und ich wusste, es gibt nichts anderes mehr.

Mein Mann hatte zuerst ein kleines Transportunternehmen. Viel Geld hatten wir nicht, aber irgendwie ging es. Dann kam der Weltkrieg, und mein Mann ging zum englischen Militär. Er war aber nicht in Europa, er ist hier geblieben in der Gegend, als Chauffeur.

Mein Sohn Daniel wurde am 2. Juni 1940 geboren, gleich am Anfang des Krieges, und da ist auch Tel Aviv manchmal bombardiert worden. Wir haben im dritten Stock gewohnt, und da wollte ich nicht immer, wenn Alarm war, runter laufen. Und dann sind wir nach Petach Tikwa gezogen, wo meine Schwiegereltern das große Mietshaus hatten. Das war damals auch furchtbar primitiv, aber was sollte ich machen?

Viele Leute hatten große Probleme. Aber irgendwie hat man sein Leben meistern können.

Für meine Mutter war es sehr schwer. Mein Bruder aus Holland hat ihr regelmäßig Geld geschickt, und ich glaube, davon hat sie gelebt. Heute muss ich lachen: meine Mutter war eine Hausfrau wie ich eine Seiltänzerin bin. Sie hatte keine Ahnung, weil sie zu Hause in Frankfurt nie etwas angerührt hatte. Und dann war ein Mann in Ramat Gan, dem war die Frau gestorben, und der Mann ist alleine geblieben.

Er war ein wohlhabender Mann, und er wollte eine Haushälterin haben, er wollte, dass jemand zu Hause ist. Wir hatten Verwandte hier, das waren sehr wohlhabende Leute, die haben das gemanagt für meine Mutter. Meine Mutter und der Mann haben sich dann befreundet, aber als meine Mutter krank wurde, sie hatte Krebs, ist sie ausgezogen.

Aber ein paar Jahre war sie dort. Dann ist sie wieder nach Jerusalem gezogen und hat bei einer Familie in Rachavia, das ist ein Bezirk in Jerusalem, ein Zimmer gemietet. In Rachavia haben hauptsächlich Jeckes gewohnt, die alle Deutsch gesprochen haben. Meine Mutter hatte eine sehr gute Natur, aber wenn ich so darüber nachdenke, war das doch alles sehr schwer für sie. Sie hat aber nie über etwas geklagt. Meine Mutter starb 1948 in Jerusalem.

Als Ben Gurion den Staat Israel im Mai 1948 verkündete, anschließend war Krieg, hat mein Mann den Dani genommen, da war er acht Jahre alt, der Rafi war noch nicht auf der Welt und ist mit ihm von Petach Tikwa nach Tel Aviv gefahren. Da war ja ein Rummel natürlich, und an dem Hauptplatz und der Stadtverwaltung war Versammlung.

Das war sehr aufregend für mich, für das ganze Volk. Darauf hatten wir schon lange gewartet, dass die Engländer rausgehen und wir selbstständig werden. Bis dahin war doch englisches Mandat. Von dem Tag an war es Israel, weil das unser Land war.

Von dem Moment an konnten die Juden legal einwandern. Und dann begann sofort der Krieg. Auch in diesem Krieg ist mein Mann für einen Offizier Chauffeur gewesen. Er ist damals in seinem eigenen Auto gefahren, der Staat hatte noch kein Geld, irgendetwas anzuschaffen.

Viel später waren auch meine Söhne dabei. Es kamen viele Kriege, aber richtig im Krieg waren sie Gott sei Dank nie, nur im Militärdienst.

  • Nach dem Krieg

Dann haben wir ungefähr zehn Jahre in Petach Tikwa gewohnt. Ich habe Schmuck hergestellt und an einen WIZO Laden in Tel Aviv verkauft. Ich hatte einen Tisch und eine kleine Maschine, was man halt so braucht, um Schmuck herzustellen. Meine Schwiegermutter hat sich damals sehr viel um Dani gekümmert. Das waren die ersten zehn Jahre.

Dann sind wir nach Ramat Gan gezogen, und da ist 1951 unser Sohn Rafael geboren. Rafi war ein ganz anderer Typ als Dani. Dani war zuerst blond, dann wurde er dunkler. Rafi ist ein heller Typ. Beide Kinder waren sehr goldig. Aber der Altersunterschied von elf Jahre war schon sehr groß.

In Ramat Gan haben wir auch ungefähr zehn Jahre gewohnt. Ungefähr 1963 sind wir nach Ramat Chen gezogen, da haben wir uns ein Haus gebaut. Vierzig Jahre habe ich in dem Haus gelebt. Das Haus hatte einen sehr, sehr großen Garten. Als wir nach Ramat Chen gezogen sind und wir diesen großen Garten hatten, habe ich aufgehört Schmuck zu machen. Wenn man Haus und Garten hat, will man viele Freunde einladen, da hatte ich keine Zeit mehr.

Mein Mann hatte dann ein gut gehendes Unternehmen. Angefangen hat er mit Gummi. Es gab den Kibbutz haOgen, der hat Plastikfolien fabriziert. Das war der Beginn von Plastik. Mein Mann hat die Plastikfolien gekauft und dann verkauft für Vorhänge und Tischdecken und solche Sachen.

Das ging sehr gut! Dann haben wir auch importiert aus Deutschland. Das Geschäft ging gut. Mein Mann war so ziemlich der erste, der damit angefangen hat. Dann hat mein Mann auch eine Fabrik aufgebaut, in der Plastik hergestellt wurde. Mein Sohn Daniel wollte nach der Schule in der Plastikfabrik meines Mannes arbeiten.

Mein Mann wollte das auch so. Das hat Dani auch getan, aber nicht sehr erfolgreich. Es war ein kleines Unternehmen, das mein Mann mit jemand zusammen gegründet hatte. In der Fabrik wurde Plastik hergestellt und verkauft. Dabei war der Daniel technisch so begabt und hätte was richtig Technisches lernen müssen. Aber er war nicht zum Lernen bereit, er wollte lieber in die Fabrik meines Mannes.

1964 hat Dani geheiratet, das war zu der Zeit, als wir nach Ramat Chen gezogen sind. Seine Frau Pnina war Lehrerin. Ihr Vater war schon hier geboren, ich glaube ganze Generationen hatten schon hier gelebt. Pninas Mutter war in Ägypten geboren. Das waren sehr nette Leute.

Mein Mann war ein sehr aktiver Mensch. Mein Mann liebte Kulturveranstaltungen. Konzerte hat er noch lieber gehabt, denn er war auch sehr musikalisch. Er starb 1967 an Herzversagen. So oft muss ich daran denken, es ist überhaupt nicht mehr zu verstehen, er hatte einen Herzanfall und man hat ihn ins Tel Haschomer Hospital gebracht.

Dort hat er gelegen und man hat nichts gemacht. Es ist mir unbegreiflich, nichts gemacht hat man. Ich bin schon sehr lange allein, ewig. Ich war damals 49 Jahre alt, jetzt bin ich 92 Jahre alt. Ich darf gar nicht daran denken.

Mein Sohn und seine Frau haben zwei Kinder bekommen. Ihr Sohn Moshe ist nach meinem Mann genannt. Er ist 43 Jahre alt, die Tochter Joni ist auch schon vierzig. Moshe ist genau am ersten Todestag meines Mannes geboren, und da haben Pninas Eltern Wert darauf gelegt, dass er so heißt wie mein Mann hieß.

Ich hab mich nicht reingemischt, das sollten sie entscheiden, aber natürlich hat es mir gefallen. Moshe und Joni haben auch schon Kinder. Alle sind in Israel, und ich habe auch Kontakt zu ihnen. Mein Sohn Dani starb 1990 bei einem Autounfall zwischen Eilat und Te Aviv.

Rafi ist nach der Schule sofort ins Geschäft meines Mannes eingestiegen, auch er wollte nichts anderes machen. Wir haben das Geschäft auch heute noch, aber es geht nicht mehr gut. Es hat sich sehr viel verändert. Es gibt sehr viel Konkurrenz, alles wird in China gekauft, alles ist billig.

Rafi ist heute 59 Jahre alt. Er wohnt mit seiner Frau Hannah, die Lehrerin für jüdische Geschichte war und deren Eltern aus Russland nach Palästina als Zionisten einwanderten, seiner Tochter Odet und seinem Sohn Adam nicht weit von hier.

Ich lebe hier im Altersheim in Ramat Chen seit 2003, da war der 2. Irakkrieg. Da wollte ich nicht allein zu Haus bleiben, denn es war sehr unangenehm für mich allein zu Hause zu sein. Und so habe ich mir hier ein Zimmer gemietet in dieser Zeit. Ich habe gedacht, wenn es los geht, will ich hier sein und nicht allein.

Und dann habe ich diese Wohnung, in der ich seither lebe, gesehen und bin hier geblieben. Es ist ein sehr schönes Altersheim, dieses Haus ist wirklich wunderschön. Mein Sohn Rafi wohnt wenige Minuten entfernt, und er besucht mich hier im Altersheim regelmäßig.

Unsere Freunde in Israel waren alle aus Deutschland. Unsere Umgangssprache war Deutsch, und meine Umgangssprache ist Deutsch geblieben. Hebräisch sprechen kann ich sehr gut, aber lesen und schreiben ist sehr schwierig für mich. Mit den Schwiegertöchtern und Enkelkindern spreche ich Hebräisch, aber mit meinem Sohn Rafi spreche ich immer Deutsch. Aber nur, wenn wir allein sind. Sonst verstehen die anderen nichts, und das wäre unhöflich.

Meinen Söhnen habe ich nicht viel über meine Geschichte erzählt, und es hat sie nur soweit interessiert, wie sie mal darüber gelesen oder gehört haben. Ich hab ja persönlich nichts erlebt, aber es gab in meiner Familie auch Menschen, die umgekommen sind. Aber Eltern und Geschwister, die von meinem Mann und die von uns, waren alle zusammen. Die engsten Verwandten haben es geschafft.

Meine Söhne sind mit der Schule nach Polen, ins KZ Auschwitz, gefahren. Auch mein Enkelsohn war jetzt dort. Das ist für die jungen Leute nicht so, wie für uns. Obwohl ich es nicht direkt erlebt habe, ist es so, als erlebe ich das Grauen und Morden noch immer.

Mein neunzigster Geburtstag wurde in Jaffa gefeiert. Da hatte der Rafi ein sehr schönes Restaurant ausgesucht. Es war an diesem Abend nur für uns und sehr schön geschmückt. Es war eine wunderbare Feier und vor allem auch deshalb, weil meine zwei Neffen und meine Nichte aus Holland, die Kinder meines Bruders Paul, überraschender Weise gekommen sind.

Ich bin keine Politikerin, aber die Situation mit den Palästinensern sehe ich als ziemlich aussichtslos. Es geht jetzt schon so lange. Es gibt keine Lösungen. Aber wie hat Ben Gurion gesagt: wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist. Aber die Zeiten verändern sich, auch zu Ben Gurions Zeiten war alles anders. Da waren die Palästinenser nicht so stark wie heute.

Ich weiß nicht, ob man Fehler gemacht hat zu Beginn. Viele sagen, es war verkehrt, dass wir soviel arabische Gebiete besetzt haben. Aber ich bin unpolitisch und sage nur, was ich höre, und ich weiß gar nicht, ob es meine Meinung ist.

Außerdem ist es schwer, zwanzig Jahre oder vierzig Jahre später zu sagen, was gewesen wäre, wenn... Eins ist aber hier wirklich ein Wunder. Das Land hat es so schwer, es gab so viele Kriege und es wurde so oft angegriffen. Und es entwickelt sich trotzdem. Immer!

  • Glossar:

1 Koscher [hebr.: rein, tauglich]: den jüdischen Speisegesetzen entsprechend.

2 Schabbat [hebr.: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche. Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen.
Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

3 Gurs: französische Ortschaft am Rande der Pyrenäen, rund 75 Kilometer von der spanischen Grenze entfernt. Während der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg wurde in Gurs ein Internierungslager für deutsche Staatsbürger, Bürger anderer Staaten und Juden eingerichtet. Im Lager waren bis zu 30.000 Menschen interniert. 1942 und 1943 wurden aus Gurs 6.000 Menschen in Vernichtungslager in Polen deportiert.

4 Majdanek: Das KZ-Majdanek - eigentlich KZ Lublin - war das erste Konzentrationslager der IKL [Inspektion der Konzentrationslager - war die zentrale Verwaltungs- und Führungsbehörde für die nationalsozialistischen Konzentrationslager] im Generalgouvernement. Es lag im Osten Polens in einem Vorort Lublins. Neben Auschwitz-Birkenau war Majdanek das einzige KZ der IKL, das auch als Vernichtungslager genutzt wurde.

5 Bergen-Belsen: Das Konzentrationslager Bergen-Belsen war ein nationalsozialistisches deutsches KZ bei Bergen im Kreis Celle [Provinz Hannover, heute Niedersachsen]. Es wurde nach dem Bergener Ortsteil Belsen benannt. Seit Ende 1944 trafen zahlreiche ‚Evakuierungstransporte' mit Häftlingen aus vielen Konzentrations- und Außenlagern in Bergen-Belsen ein.

Es kam zum Massensterben von mehr als 50.000 kranken, erschöpften und verhungernden Menschen. Die britischen Befreier fanden zahlreiche unbestattete Leichen und zum Skelett abgemagerte, todkranke Menschen vor.

6 Chanukka [hebr.: Weihe]: Das achttägige Chanukkafest erinnert an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. Chr. nach dem erfolgreichen Makkabäeraufstand gegen hellenisierte Juden und mazedonische Syrer. Die Makkabäer siegten und führten den jüdischen Tempeldienst wieder ein.
Laut der Überlieferung fand sich Öl für nur einen Tag; durch ein Wunder hat das Licht jedoch acht Tage gebrannt, bis neues geweihtes Öl hergestellt worden war.

7 Jom Kippur: der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum.
Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.

8 Seder [hebr.: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

9 Kibbutz [Pl.: Kibbutzim]: landwirtschaftliche Kollektivsiedlung in Palästina, bzw. Israel, die auf genossenschaftlichem Eigentum und gemeinschaftlicher Arbeit beruht.

10 Zionismus: Der Zionismus ist eine während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene jüdische National-Bewegung, die sich für die Entstehung eines eigenen jüdischen Staates in Palästina einsetzte. Der Begriff wurde 1890 von dem jüdischen Wiener Journalisten Nathan Birnbaum geprägt.

Der Beginn des modernen Zionismus wird oft auf Theodor Herzls Werk ,Der Judenstaat' [1897] festgelegt. Bis zur Schoah während des 2. Weltkriegs war der Zionismus nur eine kleine Strömung innerhalb des Judentums.

11 Hagadah od.Haggadah od. Haggada [hebr: ‚Verkündung/Erzählung‘]:Büchlein, das am Sederabend beim Festmahl mit der Familie gemeinsam gelesen und gesungen wird. Das Buch beschreibt das Exil in Ägypten und den Auszug in die Freiheit.

12 Mazze (hebr. מצה‎, matzá; dt. Matze; Plural hebr. מצות‎, matzót; dt. Matzen - auch jiddisch מצה‎, mátze; dt. Matze; Plural jiddisch מצות‎, mátzes; dt. Matzen), auch ungesäuertes Brot genannt, ist ein dünner Brotfladen, der während des Pessachfestes gegessen wird. Matze wird aus Wasser und einer der fünf Getreidearten Weizen, Roggen, Gerste, Hafer oder Dinkel ohne Triebmittel gefertigt.

13 Eretz Israel, das Land Israel, [hebräisch: ארץ ישראל] ist eine biblische Bezeichnung für den Staat der Juden bzw. Hebräer. Sie wurde seit dem Beginn des politischen Zionismus im 19. Jahrhundert wieder aufgegriffen und wird auch im heutigen Staat Israel häufiger verwendet.

14 Jugend-Alijah: jüdische Organisation, die versuchte, möglichst viele Kinder und Jugendliche in der Zeit des Nationalsozialismus aus dem Deutschen Reich vor allem nach Palästina in Sicherheit zu bringen. Es wurden etwa 21.000 Kinder und Jugendliche gerettet.

15 Moschaw [hebräisch: Singular: מושב moschaw, Plural: מושבים moschawim] ist eine genossenschaftlich organisierte ländliche Siedlungsform in Israel bezeichnet. Nicht zu verwechseln mit der Moschawa und mit mehr Privateigentum als der Kibbuz, ist der Moschaw die jüngste und häufigste Form israelischer Dörfer. Heute bestehen etwa 400 solcher Siedlungen.

16 Jewish Agency: hebräisch ha-Sochnut ha-jehudit [הסוכנות היהודית] wurde 1929 auf dem 16. Zionistenkongress errichtet. Sie war die im Völkerbundsmandat für Palästina vorgesehene Vertretung der Juden und diente dem britischen Mandatar als Ansprechpartner.

Allein sie war befugt, mit dem Mandatar zu verhandeln. Die Jewish Agency war aber ebenso verantwortlich für die internen Angelegenheiten der in Palästina lebenden Juden, des Jischuw. Die Jewish Agency ist heute die offizielle Einwanderungsorganisation des Staates Israel.