Zu Hause

Das ist das Wohnzimmer in unserem Haus in Zemun.

Meine Eltern Sigmund und Berta Brandeis, meine Schwester Eugenie und ihr Mann Lazar Rosenberg, sowie deren Kinder Theodor und Erwin sind hier versammelt. Wir haben damals alle im selben Haus gewohnt.

Ich bin im am 23. Jänner 1912 in dem Dorf Calma geboren. Das ist 16 Kilometer von Sremska Mitrovica und 70 Kilometer von Belgrad entfernt. Das war damals noch in Österreich-Ungarn - die Südgrenze.

Mein Vater Sigmund Brandeis wurde am 14.09.1866 als zweitältester Sohn von Ignac und Hani Brandeis in Calma geboren. 1887 hat er meine Mutter Berta Bergl geheiratet. Sie hatten sechs Kinder: drei Söhne und drei Töchter.

Mein Vater hat ein Geschäft mit Kolonialwaren gehabt. Im zweiten Hauptberuf, denn das Geschäft hat mein ältester Bruder Julius geführt, hat er sich mit Agronomie befasst.

Er war ein Pächter von einer Puszta. Serbisch heißt das Pusztara. Das ist nicht die Puszta, das Land, sondern ein kleines Dorf mit einigen hundert Hektar Land.

Der Eigentümer war dieser Graf Jankovic. Und es waren in der Nähe noch zwei so ähnlich große Pusztas, welche dem Grafen Odescalchi gehörten. Das war eine sehr berühmte italienische Familie.

Maria Theresia hat ihnen das Land geschenkt. Diese beiden Pusztaras waren in Pacht von den Familien Rosenberg und Braun aus Erdevik.

Die drei Pusztaras hatten die drei Familien gemeinsam. Später haben sie sich zerteilt, und mein Vater hat eine alleine übernommen. Sein Eigentum war das Vieh - also die Pferde, die Kühe - und die Maschinen - also die Mähmaschine und die Dreschmaschine.

Mit den Bauern, welche in dieser Pusztara gewohnt haben, hatte er einen Vertrag: Sie machen die Arbeit, und am Ende vom Jahr teilen sie mit meinem Vater.

Auf serbisch heisst das Napolicari (Hälftler). Es war vier Kilometer von Calma entfernt. Da ist er jeden Tag heraufgefahren und hat die täglichen Arbeiten koordiniert.

Als 1918 die Agrarreform kam, hat er sich zurückgezogen, denn man hat den Eigentümern nur ein Minimum an Land gelassen, und das war dann nicht mehr rentabel.

Er hat das Geschäft ganz meinem ältesten Bruder Julius übergeben und hat sich zurückgezogen. Bis 1922 hat er noch in Calma gelebt, und dann ist er zu meiner ältesten Schwester Eugenie nach Zemun gezogen. Er hat von dem Geld, das er erworben hatte, gelebt.

Wir hatten einen Gick und einen Fiaker zu Hause, und zwei Pferde und einen Diener, welcher auch der Kutscher war. Aber am Schabbat ist er nie gefahren.

Bei der Großmutter Hani war noch alles koscher, aber mein Vater hat eine Reform des jüdischen Glaubens gemacht. Er hat es so gemacht, dass es einfacher war und gepasst hat. Er hat Samstags nicht geraucht, er hat keine Reisen gemacht am Schabbat.

Man hat Pesach (Fest des ungesäuerten Brotes) und Jom Kippur (Versöhnungstag) streng gehalten. Man hat zu Jom Kippur die Kapure geschlagen. Ich kann mich noch an das spezielle Messer fürs Schlachten und den Schleifstein erinnern.

Das hat aber niemand mehr benutzt, es wurde nur für die Kapurehendeln benützt. In Calma hat man nur Gänse und Hühner gegessen, und die hat mein Vater nur für die Feiertage koscher geschächtet.

Er hat immer sehr viel gelesen und hatte eine riesige Bibliothek mit deutschen und serbischen Büchern. Die hat er auch alle mitgenommen, als er nach Zemun übersiedelt ist.

Dort hat er ein Zinshaus gekauft, und ich habe mit meinen Eltern dort gewohnt. Eugenie, meine älteste Schwester, hat mit ihrer Familie auch dort gewohnt.

In Zemun ist mein Vater dann auch immer Schabbes in die aschkenasische Synagoge gegangen.

Seine politische Einstellungen waren gemäßigt serbisch national. Er hat die Samostoli Demokrati gewählt, welche eine bürgerliche Partei war. Sozialisten gab noch keine.

1942 wurden alle 500 Juden von Zemun von Volksdeutschen Polizisten auf Viehwaggons verladen und nach Jasenovac gebracht, wo sie ermordet wurden.

Einer von den Volksdeutschen, der meinen Onkel Leopold kannte, hat ihm dann berichtet, dass mein Vater noch am Bahnhof mit einem Holzbeil erschlagen worden ist. Für die alten Leute war eine Kugel zu schade.

Meine Mutter Berta Bergl war 1867 in Szonta in Südungarn geboren worden. Sie hatte noch einen Bruder, Aladar, den ich nie gesehen habe.

Der lebte in Budapest. Und natürlich waren da noch ihre Halbgeschwister aus der zweiten Ehe ihrer Mutter mit Adolf Klopfer.

Meine Mutter hat erst in Calma Deutsch gelernt. Sie hat jeden Freitag die Kerzen für Schabbat gezündet, bis sie zu alt wurde, da hat das dann meine Schwester Eugenie übernommen. Sie ist auch nach Jasenovac deportiert worden und nicht mehr zurückgekehrt.

Meine Mutter hat acht Kinder geboren, von denen sind sechs erwachsen geworden. Zwei sind als kleine Kinder gestorben. Es war ein großer Unterschied in den Jahren. Der älteste Bruder Julius war 24 Jahre älter als ich, und nach meiner jüngsten Schwester Laura war eine Pause von 14 Jahren, bis ich geboren wurde.

Eugenie wurde 1892 geboren und war mit Laza Rosenberg verheiratet. Sie ist zu ihrem Mann nach Zemun übersiedelt, und er hat dort ein Geschäft mit Leder und Geschirr für Pferde betrieben.

Lazar kam aus dem von Calma vier Kilometer entfernten Dorf Divos, wo sie die einzige jüdische Familie waren. Sie hatten zwei Söhne: Teodor und Ervin. Teodor, war mit Elvira Brunner verheiratet, die mit den Schwiegereltern in Jasenovac 1942 ermordet wurde.

Teodor hat als Kriegsgefangener in Deutschland überlebt. Er war Offizier und hat in der jüdischen Abteilung des Kriegsgefangenenlagers den Krieg überlebt. Die Deutschen haben sich da an die internationalen Konventionen gehalten.

Er hat, als er zurückkam, Vlasta Milanovic-Spicer geheiratet, und sie sind nach Israel ausgewandert. Sie haben einen Sohn, Elieser. Ervin wurde auch nach Jasenovac deportiert und hat überlebt.

Es gab einen Großausbruchsversuch von ungefähr 1500 Gefangenen. Es war schon ziemlich gegen Ende, und man hat gehört, dass jetzt alle
Übriggebliebenen umgebracht werden soll.

Dabei sind alle, bis auf 78 Gefangene, umgekommen. Ervin war einer von den 78. Bis dahin hat er überlebt, da er Automechaniker war und man ihn gebraucht hat. Er hat dann 1948 Aleksandra geheiratet und ist nach Israel ausgewandert.

Da ich, bis meine Eltern 1924 auch nach Zemun übersiedelt sind, schon zwei Jahre bei meiner Schwester Eugenie gewohnt habe und dort zur Schule gegangen bin, hatte ich zu diesem Teil der Familie einen besonders engen Kontakt.