Timothy Smolka

Timothy Smolka

Datum des Interviews: Oktober 2004
Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Timothy Smolka, mein bisher jüngster Interviewpartner, besitzt großes Wissen über seine Familie. Er und seine Frau Franziska wohnen in Wien sehr nahe dem Stadttempel, eingebettet in traditionelles jüdisches Leben, das sie sich im Laufe von vielen Jahren erarbeitet haben. Geplant war das weder von ihnen noch von ihren Eltern. Im Gegenteil, Timothy und Franziska verstanden sich in ihrer Kindheit und Jugend nicht einmal als Juden. Timothy wusste, dass seine Großeltern jüdisch waren, aber dass da ein Zusammenhang mit seiner Person bestand, sagte ihm niemand. Jüdischsein wurde mit Religion gleichgesetzt und religiös waren nur die Großeltern und nicht einmal alle. Timothy und Franziska lernten und lernen seit vielen Jahren Hebräisch und jüdische Religion und haben seit vielen Jahren einen großen jüdischen Freundeskreis. Sie lesen mit ihrer Lehrerin regelmäßig in der Heiligen Schrift, feiern den Schabbat 1, gehen zu den Feiertagen in den Tempel, und jüdisches Leben wurde ein fester Bestandteil ihres Lebens.

Meine Familie
Meine Kindheit
Während dem Krieg
Nach dem Krieg
Glossar

Meine Familie

Meine Urgroßeltern väterlicherseits, also die Eltern meines väterlichen Großvaters, hießen Moritz und Johanna Smolka. Johanna Smolka, geborene Offer, wurde 1845 geboren. Sie lebten in Caslau, in Böhmen, das bis 1918 zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörte und heute zu Tschechien gehört. Der Urgroßvater Moritz Smolka besaß ein kleines Geschäft mit Futtermitteln, Mehl und Hülsenfrüchten en gros. Er starb sehr jung, im Jahre 1888, nachdem er aber neun Kinder gezeugt hatte, die alle in Caslau geboren wurden: meinen Großvater Albert und seine acht Geschwister, Olga, Otto, Anton, Friederike, die bereits als Baby starb, Max, Franz, Bohumil und Karl. 

Nach dem Tod ihres Mannes führte meine Urgroßmutter Johanna das Geschäft weiter, aber da sie davon nicht acht Kinder ernähren konnte, musste sie die Hilfe Familienangehöriger in Anspruch nehmen. Es gibt Aufzeichnungen meines Großvaters über seine Kindheit, und da ich es besser nicht erzählen kann, lasse ich am besten ihn selber sprechen [Anm.: Der folgende Text wurde vom Original abgeschrieben, also weder wurde die Grammatik noch die Rechtschreibung verändert]:

‚Ich bin im Jahre 1879 als sechstes Kind armer, jüdischer Eltern, die einen kleinen Kaufmannsladen in Caslau betrieben, zur Welt gekommen. Meine Geschwister waren Olga, die Erstgeborene, Otto, Anton, Max und Franz; nach mir gesellten sich noch zwei Knaben, Bohumil und Karl, dazu. Meine Erinnerungen reichen bis an das vierte Lebensjahr zurück. Wir wohnten damals in einem einstöckigen Haus und übersiedelten in ein benachbartes, ebenerdiges Gebäude, welches durch den Hof mit dem ersteren in Verbindung stand. Der Umzug erfolgte zur Gänze durch das Hoffenster. Ich entsinne mich, dass mein Vater sich mit den vielen Kindern gefreut hatte. Als ehemaliger Soldat hielt er viel auf Disziplin, und in den wenigen Räumen, die uns zur Verfügung standen, wurde auf peinliche Ordnung gesehen. Meinem Vater schwebte anscheinend eine Art Kasernendrill vor, insbesondere was das Schlafengehen und Aufstehen betraf, das er mit Vorliebe überwachte. Jedes Kind musste seine Kleider und Wäsche sorgfältigst zusammenlegen, in der Früh wurde eine Art Appell veranstaltet, und die Wasch-Zeremonie nahm, ich erinnere mich bis zu meinem fünften Lebensjahr, mein Vater vor. Ob kalt, ob warm, der halbe Oberkörper musste entblößt werden und selbst unter Zähneklappern wurde eine gründliche Waschprozedur vorgenommen.

Ich hatte eine aus dem Deutschen und Tschechischen gemischte Muttersprache. Vielleicht war ich noch nicht einmal vier Jahre alt, als mein Vater mich öfter auf den Schoß nahm und auf mein Verlangen immer wieder das Lied vorsang: ‚Wer will unter die Soldaten, der muss haben ein Gewehr’, wobei die starken Kniebewegungen den größten Kinderjubel hervorriefen.

Ich dürfte bereits das fünfte Lebensjahr erreicht haben, als mein Vater kränklich zu werden begann und sich einer Kur in Karlsbad unterziehen musste. Großes Staunen erweckten mitgebrachte Spielsachen, die ersten und letzten, an die ich mich entsinne. Im Frühjahr und Sommer war es uns das größte Vergnügen, wenn Vater uns in den frühen Morgenstunden, zwischen vier und fünf Uhr etwa, weckte, um einen Morgenspaziergang im benachbarten Wäldchen zu unternehmen. Ein idyllisch gelegenes Schlösschen, ‚Russalka’ (ich glaube, dies ist auch der Name einer Märchenfee) war gewöhnlich das Ziel unseres Morgenausfluges. Nun gleich zu meinem ersten Erlebnis oder Streich: Ich habe bisher nur von meinem Vater gesprochen, der wenige Jahre darauf im Jahre 1888 im 43. Lebensjahr, gestorben ist. Von meiner Mutter, mit der mich ein viel größerer Teil meiner Erinnerungen verknüpft, später. Von meinen Brüdern waren mir naturgemäß die zwei Vordermänner, Max und Franz, am nächsten. Zu jener Zeit lebten noch meine Großeltern mütterlicherseits in Goltsch-Jenikau [Anm. heute Tschechien], und Bruder Max beschloss eines Tages, den Großeltern einen Besuch zu machen und Franz und mich mitzunehmen. Die ganze Entfernung betrug etwa acht Kilometer, in zwei Gehstunden zu erreichen. Unter Anführung von Max begaben wir uns zu Fuß über eine gerade Landstraße, um acht Uhr morgens, auf den Weg. Obwohl derselbe, wie mir heute scheint, nicht zu verfehlen war, irrten wir stundenlang umher, bis wir, ich weiß bis heute nicht, wie uns geschah, in einem Straßengraben einschliefen, ohne unser Ziel zu erreichen. Und daheim die besorgten Eltern! Der ganze Ort wurde in Bewegung gesetzt, und Vater fand uns, nachdem er mit einem Wagen die ganze Gegend abgefahren war, schlummernd und aneinander gekauert, wieder. Mitgebrachter Proviant gab uns die nötige Stärkung, und vor lauter Glück, uns wieder gefunden zu haben, wurde uns von den Eltern die Strafe erlassen.

Zu meinen Erinnerungen aus dem fünften Lebensjahr zählt noch der Besuch eines Kindergartens, wo ich Flechtarbeiten mit bunten Papierstreifen erlernte und mich durch Memorieren auch der längsten Kindergedichte, verbunden mit Fingerspielen und sonstiger Mimik, angeblich hervortat. Dies war so ziemlich die glücklichste Zeit meiner Kindheit, und sie währte im ganzen ein Jahr. Kaum hatte ich mein fünftes Lebensjahr erreicht, nahm die Krankheit meines Vaters solche Formen an, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Die in der Umgebung lebenden Verwandten meiner Mutter sahen sich veranlasst, ihr beizustehen, und da sie selbst nicht übermäßig begütert waren, geschah dies in der Weise, dass man meiner Mutter, die neben ihrem Geschäft auch noch acht Kinder zu erziehen hatte, das eine oder andere Kind abnahm.

Mich traf das Schicksal so, dass ich zu einem Onkel Salomon Pick nach Brehy bei Puclantsch [Anm.: heute Tschechien] verschickt wurde. Eines schönen Tages fuhr ein Wagen vor, dem entstieg ein älterer schwarzbärtiger Mann mit gutmütigen Augen - das war der Onkel Pick. Er nahm mich an der Hand, und nach kurzem Abschied von meiner Mutter fuhr ich mit ihm nach Brehy. Dies war meine erste Abreise aus dem Elternhaus. Die Frau dieses Onkels, Tante Minna, war die ältere Schwester meiner Mutter; eine strenge, aber gerechte Frau. Ich wurde bei ihr wie ein Kind des Hauses behandelt und kaum 5½ Jahre alt in die Schule geschickt. Es waren in Brehy mehrere Kinder da: Emma, die Älteste, war schon der Schule entwachsen, Paula, Berta und Moses waren meine Schulgenossen. Wir gingen oder fuhren bei schlechtem Wetter mit dem Wagen nach Prelantsch in die Schule. Es gab damals eine einklassige Judenschule mit deutscher Unterrichtssprache.

Nach einem mehr als einjährigen Aufenthalt in Brehy, wo ich auch anlässlich eines Gewitters großen Mut bewies, indem ich seelenruhig in einem einsamen, mir zugewiesenen Zimmer der Nachtruhe pflegte, während die gesamten Gutsbewohner voller Angst zusammenliefen. Eine ganz dicht am Fenster stehende Pappel wurde unter großem Getöse vom Blitz gestreift. Dem gut gemeinten Rat meiner Verwandten, mich zur Cousine Emma ins Bett zu legen, eine andere Schlafstätte war nicht frei, lehnte ich ab. Lieber Blitz und Donner, aber allein! Diese Vorliebe fürs Allein-Schlafen wurde mir überhaupt als Eigenart angerechnet; schon in Caslau, im Elternhause, wo es ungleich mehr Kinder als Betten gab, zog ich eine Kanapeeschublade dem Zusammenschlafen mit einem der Brüder vor. Doch auch da hat mich das Schicksal erreicht: Eine Katze ließ sich einmal zu meinen Füßen häuslich nieder und schenkte mir Vaterfreuden in Form von sechs niedlichen Kätzchen, die eines Nachts in meiner Schublade zur Welt kamen. Darob wurde ich von meinen Brüdern sehr verspottet. Ich habe bestimmt nichts dafür gekonnt.

Als ich von Brehy wieder nach Caslau heimgebracht wurde, empfing mich meine Mutter mit großer Freude. Meine Brüder habe ich nicht alle mehr erkannt, dies nahm mir besonders mein Bruder Anton sehr übel, indem er mir gleich bei meiner Ankunft zwecks leichterer Erkennung eine schallende Ohrfeige versetzte, um sofort darauf heldenhaft zu verschwinden. Beim Abendbrot fühlte ich mich wieder im Kreise meiner Familie sehr wohl, Mutter teilte jedem das Essen vor und immer erst als letzte nahm sie sich, erst dann begannen alle zu essen. Dass sie vergaß, auch meinen Teller zu füllen hat mich sehr gekränkt und rief einen ausgiebigen Tränenfluss bei mir hervor. Mutter machte sofort ihren Fehler wieder gut, indem sie die letzte Portion mit mir teilte. Für meine Brüder galt ich von da an als überempfindlich und war für sie erledigt. Ich habe in diesem Alter überhaupt mit Tränen nicht sehr zurückgehalten, die Pölster meines Bettes in Brehy mussten mein ganzes Heimweh in sich aufnehmen. Mein armer Vater kränkelte weiter, für mich war deshalb daheim nicht lange Platz. Kaum waren die Ferien vorüber, wurde ich nach Goltsch-Jenikau zu anderen Verwandten verschickt.

Ich lebte zuerst ein Jahr lang bei einer dort verheirateten Schwester meiner Mutter, Tante Mathilde Offer. Den Onkel Samuel Offer bekam ich wenig zu Gesicht, da er oft mehrmals in der Woche geschäftlich nach Wien fuhr. Das einzige Kind des Hauses war Theodor, ein Junge meines Alters, bockig, verzogen und boshaft. Als Liebling einer dort lebenden, wohlhabenden Großtante, Gott habe sie selig, die Tante Edel, die ihrem Namen keine Ehre machte, erlaubte er sich allerlei Streiche, von welchen Tante Edel kühl seiner Mutter, Tante Mathilde, gegenüber behauptete, ich hätte sie verbrochen. Ich nahm die Straften ruhig hin, fasste aber eine derartige Verachtung und einen Hass der Verleumderin gegenüber, dass ich, sooft ich ihr begegnete, anstelle eines Grußes vor der Tante ausspuckte. Dies trug mir wieder einige Strafen ein, die ich aber gerne hinnahm, da meine Rachegelüste doch immerhin gestillt waren. Aber auch die Tante rächte sich über ihren Tod hinaus, indem sie mich als einzigen ihrer Neffen enterbte. In Goltsch-Jenikau wurde ich wieder zur Schule geschickt. Ich kam in die 2. Klasse der dortigen Simultanschule für jüdische Knaben und Mädchen. Die dortige jüdische Gemeinde war sehr fromm, alle Riten der mosaischen Religion wurden streng beachtet. Ich lernte alle Gebräuche kennen, die seit Jahrtausenden im Judentum überliefert werden. Ich habe sie alle streng beachtet und trotzdem habe ich mich einmal erdreistet, am Tischebow [Anm.: Tisch’a be’Aw], dem Trauertag zur Erinnerung an die Zerstörung des Tempels, in einem nahe gelegenen Teiche mit noch einigen, Abtrünnigen’ zu baden. Dass wir damals nicht alle ertrunken sind, wurde von den alten Jenikauer Juden als großes Wunder angesehen.

In der Schule stellte ich meinen Mann; da ich musikalisch war, was mein Gesangslehrer bald konstatierte, wurde ich zum Chorknaben im Tempel ernannt. Dies war eine große Ehre, auf die ich sehr stolz war, gab mir doch die schwarze Kutte mit dem schwarzen Käppchen einen großen Vorzug vor den anderen Kindern. Tante Mathilde schien bald meiner überdrüssig geworden zu sein (ich weiß bis heute nicht warum), und so übernahm mich ein in Jenikau ansässiger Bruder meiner Mutter, der erst kurze Zeit verheiratet war. Meine Großeltern mütterlicherseits waren in Jenikau ansässig gewesen und waren schon gestorben, ehe ich in das Städtchen kam. Ihr Sohn Isidor übernahm das Geschäft, und ich tummelte mich oft in seinem Büro herum, wo die Mysterien einer Kopierpresse, der eisernen Kassa, von Stampiglien und Geschäftspapieren, große Anziehung auf mich ausübten. Ich verbrachte in den ganzen drei Jahren in Goltsch-Jenikau, schloss dort mit Gleichaltrigen ewige Freundschaften, also Freundschaften, die wirklich Zeit meines Aufenthaltes anhielten. Ich hatte die Aufgabe, meinem Onkel täglich die Zeitung zu bringen und auf der Post nach Briefen zu fragen. Eines Tages wurde mir eine offene Karte ausgehändigt, in der meine Schwester mitteilte, dass mein Vater gestorben sei. Dies machte auf mich einen niederschmetternden Eindruck, obwohl mir der Begriff für die Tragweite dieses Ereignisses noch fehlte. Die beiden Onkeln Samuel und Isidor nahmen mich im Wagen nach Caslau zum Begräbnis mit. Wir kamen an, als sich der Leichenzug vorm Elternhaus bereits in Bewegung setzte. Meine Mutter presste mich in Tränen aufgelöst an sich, der Tempeldiener machte sofort auch an meinem Gewand die symbolische Zeremonie des „Krischneidens“ [Anm.: kleiner symbolischer Riss an der Kleidung] als Zeichen der Trauer. Eine Kompanie Veteranen begleitete den Trauerzug bis zum Friedhof, ein Tambour schlug auf eine mit schwarzem Tuch bedeckte Trommel; die jüdische Gemeinde dürfte sich die zugedachte Musik der ehemaligen Kriegskameraden meines Vaters wohl verbeten haben. Ich fuhr noch am selben Tag nach Jenikau zurück, ohne eine Ahnung zu haben, was dieser Tag für meine Mutter und uns unversorgte Kinder bedeutete.

Die Verwandten nahmen sich auch weiter meiner Mutter an, Onkel Eduard, ein Bruder meines Vaters, nahm meinen ältesten Bruder Otto zu sich in die Lehre, Schwester Olga und Bruder Franz hielten sich abwechselnd bei Tante Terese (auch eine Schwester meiner Mutter) auf. Max und ich waren in Goltsch-Jenikau. Max war schon damals ein großer Raudi [sic]. Eine Messerstecher-Affäre mit seinem Freund Hugo Lawecki trug ihm den Namen ‚Räuberhauptmann’ ein, und die Verachtung, die ihm von den Jenikauer Juden gezollt wurde, übertrug sich automatisch auch auf mich als seinen Bruder. In die Periode meines damaligen Aufenthaltes in Jenikau fällt auch die Zeit meiner ersten Liebe und meiner ersten Zigarette. ‚Sie’ war sieben; ich wurde rot, wenn ich Luisen begegnete und träumte von ihr. Mit neun Jahren verführte mich ein Schneidergeselle zu meiner ersten Zigarette. Am Rand eines Brunnens zog ich den Tabakrauch ein, was ich wiedergab verschwand in der Tiefe des Brunnens.

Eines alten Hausmöbels entsinne ich mich, der kleinen buckligen Anitschka, die schon bei meinen Großeltern ungefähr 30 Jahre im Dienst gestanden hatte und vom Onkel Isidor übernommen worden war. Sie war sehr gut zu mir, konnte wundervolle Geschichten erzählen und lehrte mich das Gruseln. Ihr Lieblingsmärchen, das ich durchaus für wahr hielt, war das vom feurigen Mann. Eine Geschichte, die auf das Phosphoreszieren der toten Weidenbäume im Sümpfen, Irrlichter vielleicht, zurückzuführen war. Anitschka nahm mich auch stets in Schutz, wenn Onkel Isidors Frau, Tante Klara, zur Verbesserung meiner Erziehung Gewaltmittel anwenden wollte. Ein treuer Begleiter zu jener Zeit war mir der große, schwarze Hund Beroun. Er ging mir nicht von den Fersen, wenn ich auf meinen Streifzügen die Obstbäume in Onkels Garten plünderte, und als ich mich eines Nachts übergeben musste, eine Folge des unmäßigen Obstgenusses, ließ er sämtliche Spuren meiner Sünde in seinem Magen verschwinden und rettete mich dadurch vor Strafe.

Mein Abgangszeugnis von der Schule händigte mir mein gutartiger Lehrer Strießnig mit den Worten aus: ‚Ich will Gnade vor Recht ergehen lassen und habe dir lauter Einser gegeben; auch in Sitten, trotz deiner Streiche’. Onkel Isidor entließ mich, den 9½-jährigen, und wünschte mir fürs Gymnasium in Caslau, das ich nun besuchen sollte, viel Glück. Er gab mir einen großen Sack Kirschen, den ich meiner Mutter heimbringen sollte, und ich begab mich auf den Weg zum ungefähr 30 Minuten entfernten Bahnhof. Ich weiß nicht, wie es geschah, als ich an den Bahnhof kam, war der Sack leer; ich muss die Kirschen wohl in meinem Abschiedsschmerz in Gedanken allein aufgegessen haben. Das mitgebrachte Zeugnis hat meine Mutter sichtlich erfreut. Jetzt hieß es, für die Aufnahmeprüfung ins tschechische Gymnasium, von der deutschen Volksschule kommend, umlernen. Ich wurde von der Lehrerin Plackova in acht Wochen einem unerhörten Drill unterzogen und bestand die Prüfung. Zähneklappernd vor Aufregung kam ich dann nach Hause, um bald darauf mit dem Besuch des Gymnasiums zu beginnen. Gleichzeitig mit mir begann auch ein in Caslau ansässiger Vetter, Max Smolka, diese Schule zu besuchen. Unser Klassenvorstand, Professor Marek, ein stattlicher Mann mit blondem Vollbart, dem Aussehen nach mehr Germane als Tscheche, rief mich und meinen Vetter beim Vornamen, um uns zu unterscheiden. Von nun ab war ich nur Vojtech, zu Hause aber nach wie vor Bertjik gerufen. Vojtech stellte sich im Nu aufs Tschechische um und ging dann so weit, dass er unter dem Einfluss der Umgebung, ein glühender Patriot wurde. Ich brachte ein Semester nach dem anderen recht gute Zeugnisse heim; vier Jahre vergingen ziemlich ereignislos. Ich lernte herzlich wenig, entsprach fast immer und wenn ich zum Beispiel in Geschichte oder Geographie hängen blieb, nahm ich die frühen Morgenstunden zu Hilfe, um das Fehlende einzupauken. Auf einem solchen, dem Studium gewidmeten, Morgenspaziergang, es war wohl im Juni und etwa vier oder fünf Uhr Früh, traf ich unseren Direktor Müller. Er war sehr empört, mich so zeitlich [sic] auf zu sehen und meinte, ich gehörte um diese Zeit noch ins Bett, was meinen Männerstolz sehr verletzte.

Während der Ferien fuhr ich immer wieder nach Brehy zu Picks und tummelte mich mit dem anderen Vetter, Max Pick, in den Feldern herum, wobei ich von ihm sexuell aufgeklärt wurde. Mein Vetter Max Smolka war in Caslau mein Kumpane, und er war es, der mir bei den weiteren Versuchen, das Rauchverbot zu übertreten, Gesellschaft leistete. Wir gingen zu diesem Zweck immer weit hinter die Stadt, um nicht erwischt zu werden. Wie aus der Versenkung emporgestiegen, begegnete uns einmal plötzlich Klassenvorstand Marek, um uns, leutselig wie immer, anzusprechen. Stracks verschwand meine Zigarette in der Hosentasche. Ich stand tapfer, wie aus Lykurgs Zeiten [Anm.: Lykurg ist der Name des legendären Gesetzgebers von Sparta], Rede und Antwort und verbiss den Schmerz einer mächtigen Brandwunde, die ich mir am Bein zuzog. Max hatte die Geistesgegenwart, seine Zigarette rechtzeitig wegzuwerfen. Dieser Professor Marek hatte überhaupt die angenehme Eigenschaft, stets dort zu erscheinen, wo man ihn am wenigsten brauchen konnte:

Beim Besuch des Caslauer Theaters war immer eine Bewilligung des Klassenvorstandes notwendig, wohl eine Art Zensur. Nun, zu meinem Pech, erschien auch hier einmal der Lehrer plötzlich hinter mir im Stehparterre, als ich einmal heimlich einer Aufführung beiwohnte. Und dazu gerade in dem Moment, als ich voll Begeisterung Beifall klatschte. Die Strafe für mich bestand darin, dass Marek mich beim Kragen nahm und so eigenhändig an die Luft beförderte.

In Caslau gab es nur ein Untergymnasium. Meine Mutter hatte den sehnlichsten Wunsch, wenigstens einen ihrer Söhne studieren zu lassen, und nachdem meine älteren Brüder die kaufmännische Laufbahn betreten hatten, war ich zum Studium bestimmt. Ihr heimlicher Wunsch war wohl, mich Rabbiner werden zu lassen. Ich selbst hatte tausend, also noch keine fixen Pläne. Mutter brachte mich nach Prag und wollte mich in ein deutsches Obergymnasium schicken. Ich aber wehrte mich energisch und setzte es durch, weiterhin eine tschechische Schule besuchen zu dürfen. Damals lebte noch mein Großvater Smolka in Prag, und er übernahm es, mich unterzubringen. So wohnte ich also bei einer Frau Lederer, die mehrere Zimmer vermietet hatte. Mein Mittagessen bekam ich beim israelitischen Freitischverein, Abendbrot beim Onkel Eduard Smolka. Durch Stunden geben verdiente ich mir einige Gulden im Monat, die ich zur Seite legte. Daheim ging es wirtschaftlich recht schlecht; Mutter musste das Geschäft aufgeben und zog nach Prag, wo sie sich durch Unterstützung ihrer Geschwister und Vermieten von Zimmern kümmerlich fortbrachte.

Nach der sechsten Klasse trat ich aus dem Gymnasium aus und fand eine Stelle als Praktikant in einer Eisenwarenfabrik. Während der dortigen Lehrzeit besuchte ich Abendkurse der Handelsschule, ich war aber im ganzen zweimal dort. Als ehemaliger Gymnasiast lehnte ich mich gegen das „du“ eines nervösen Professors in frecher Weise auf, worauf er die Türe öffnete, meinen Hut in weitem Bogen hinauswarf und unter großem Hohngelächter meiner ‚Kameraden’ mich aufforderte, dem Hut schleunigst zu folgen. Hut und Smolka sah er niemals wieder. Ich habe mir meine kaufmännischen Wissenschaften später durch Privatstudium angeeignet, lernte fleißig deutsche Stenographie, die tschechische konnte ich zur Genüge, und begann mit dem Studium fremder Sprachen, die mich ganz besonders interessierten. Mein Chef war ein sehr tüchtiger Mann, aber nicht sehr fortschrittlich. Er fand es unerhört, als ich eines Tages mit einem auf Raten gekauften Fahrrad vor dem Geschäft abstieg und verbat mir derartige Neueinführungen. Hingegen duldete er es recht gern, wenn man täglich bis acht Uhr Abend im Büro saß, sonntags bis Mittag und an Feiertagen den ganzen Tag arbeitete. Diesbezüglich hat es nie einen Anstand gegeben. Als besonderes Merkmal blieb mir ein Sprachfehler von ihm in Erinnerung und seine Schrift, die kein Mensch entziffern konnte, hingegen hielt er auf eine kalligraphische Schrift bei seinen Angestellten. Die Fabrik war in Cenkov, das Büro in Prag. Es war eine mittelgroße Eisenwarenfabrik mit circa 300 Arbeitern, Praktikanten hatten damals nur eine geringe Bezahlung. Nach dreimonatlicher [sic] Probezeit rief der Chef mich in sein Privatbüro und überreichte mir mit feierlicher Miene ein geschlossenes Kuvert, aus dem ich später eine Zehnguldennote entnahm, mein erstes verdientes Geld; ich war damals sechzehn Jahre alt.

Zu meinen größten Vergnügungen zählten in meinem damaligen Alter Theaterbesuch und Billardspiel. Um mir die Mittel zum Besuch des Theaters zu beschaffen, habe ich mich als Statist verdungen, wofür ich anstelle des Honorars Freikarten bekam. Diese Statisterei musste ich daheim natürlich streng verheimlichen, ebenso meine fleißige Betätigung als Mitglied der Theaterclaque. Die Ausgaben, die meine Kaffeehausbesuche mit sich brachten, deckte ich aus den Verdiensten, die mir aus Stundengeben zuflossen. Ich konnte mir sogar aus dem Überschuss selbst erst italienischen, dann französischen Unterricht bezahlen. Eine weitere große Leidenschaft war mir die Musik. Schon in Caslau bekam ich meine erste Geige, und den ersten Musikunterricht gab mir ein dortiger Mauteinnehmer. Viel habe ich bei ihm zwar nicht erlernt, doch setzte ich in Prag dieses Studium mit großer Hingabe fort, und es gab Tage, wo es mir gelang, trotz meiner vielfachen Beschäftigungen vier bis fünf Stunden zu üben. Ich wurde dann Mitglied eines Orchestervereins und verdiente mir auch ab und zu durch Mitwirkung in kleinen Kapellen, die sich in obskuren Wirtshäusern produzierten, ein weiteres Taschengeld.

Mein Chef konnte mich nicht leiden, ich weiß bis heute nicht warum eigentlich. Einst tat er mir einen großen Affront an, indem er, als er während seine Familie auf Urlaub war, einen zweiten Praktikanten bei sich schlafen ließ, um nicht allein zu sein. Diese Bevorzugung des anderen konnte ich ihm in kindischer Weise lange nicht vergessen. Nach dreijähriger intensiver Lehrzeit trat ich wegen zu geringer Bezahlung, ich hatte damals monatlich dreißig Gulden Gehalt, aus, um eine Stelle als Beamter bei der Assicurazione Generali anzunehmen. Ich hatte dort gleich um zehn Gulden mehr Gehalt (Entlohnung). Ich blieb auch dort nicht lange, denn gegenüber von meinem Bürofenster lockte mich eines Tages eine neue Firmentafel der ‚Berlitz School of Languages’ an. Ich riskierte den Weg über die Straße, sprach dort beim Direktor Mayour vor, um zu erforschen, wie teuer englische Stunden seien. Mayour, ein erst kürzlich aus Frankreich zugereister lebhafter Mann, frischer Mathematikprofessor, sprach nur wenige Brocken deutsch, gar nicht tschechisch. Seine Unbeholfenheit gab mir Mut zu der Frage, ob er einen kaufmännischen Leiter zu seinem Unternehmen benötige und bot ihm meine Dienste als eine Art Sekretär an. Er fand an mir scheinbar Gefallen und engagierte mich sofort mit 25 Gulden pro Woche mit der Verpflichtung auch tschechischen und deutschen Unterricht zu geben, natürlich auch mit der Berechtigung, die englischen Kurse gratis zu besuchen.’ So hatte das mein Großvater aufgeschrieben und nun erzähle ich weiter:

Nachdem die Kinder der Urgroßeltern erwachsen waren und fast alle in Wien lebten, mieteten sie für ihre Mutter in Baden bei Wien eine Villa und sorgten für sie. Die Söhne wunderten sich oft, was die Mutter mit dem Geld, das sie ihr zukommen ließen, denn treibe, aber sie fragten sie nie danach. Erst nach ihrem Tod fand man ein Büchlein, in dem sie gewissenhaft jeden Betrag notiert hatte: Jeden Monat schickte sie je einen Gulden an arme Kinder ihrer früheren Kunden in Caslau. So eine gute Frau war die Urgroßmutter. Als sie starb, hinterließ sie ein Testament, in dem sie unter anderem verfügte: ‚Ich wünsche, dass der Freitag als Familientag auch nach meinem Tode weiter gehalten wird, auch dann, wenn vielleicht einmal ein Geschwisterpaar in Streit geraten und böse sein sollte. Dieses ‚Böse sein’ darf nie länger als bis zum kommenden Freitag dauern, und bei der Familienzusammenkunft muss man sich wieder die Hände geben und sich so lieb begrüßen, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Ich wünsche auch, dass über den gewesenen Verdruss, kein Wort mehr gesprochen wird.’ Die Familie war eigentlich nicht religiös und dafür bezeichnend ist, dass die Urgroßmutter darauf bestand, eingeäschert zu werden. Das geschah aber zu einer Zeit, in der es in Wien noch kein Krematorium gab. Der Leichnam musste deshalb nach Passau überführt werden. Die Asche wurde im September 1916 am Zentralfriedhof am 1.Tor beigesetzt. Jetzt erzähle ich erst einmal alles, was ich über die Geschwister meines Großvaters weiß:

Olga war das älteste Kind und die einzige Tochter der Urgroßeltern. Sie wurde 1871 geboren und von ihren sieben Brüdern sehr verehrt und geliebt. Ihr Ehemann Otto Glaser stammte aus Pilsen und sie lebten gemeinsam in Prag. Kinder hatten sie keine. Otto starb nach 10jähriger Ehe, woraufhin Olga zu ihrer Mutter nach Baden übersiedelte. Als dann die Urgroßmutter starb, übersiedelte sie wiederum, diesmal in eine Fünfzimmerwohnung nach Wien, die sie teilweise untervermietete. Nach dem Einmarsch der Deutschen im März 1938, floh sie mit ihrem jüngsten Bruder Karl, dessen Frau Karla, die nicht jüdisch war, und Hansi, Karls Sohn aus erster Ehe, nach Prag. 1942 wurde sie, 71jährig, ins Ghetto Theresienstadt 2, weiter nach Treblinka 3 deportiert und ermordet.

Otto Smolka wurde 1872 geboren. Er war in erster Ehe in Wien mit einer Jüdin, Stefanie, geborene Zimmermann, verheiratet. Sie hatten zwei Töchter, Elisabeth, Lilli genannt, und Margarete. Otto war Kaufmann und Besitzer einer Metallwarenfabrik, an der sich später mein Großvater beteiligte und die er, nach dem Tod seines Bruders, übernahm. Otto und seine Frau ließen sich scheiden und beide heirateten ein zweites Mal. Otto heiratete Albertine Isler, eine Schweizerin, und Stefanie heiratete Alexander Lehmann. Bereits 1928 starb Otto an einer schweren Krankheit.

Ich weiß, dass Ottos Tochter Lilli den Holocaust in Griechenland und in Deutschland überlebte, kenne aber leider ihre Emigrationsgeschichte nicht. Nach dem Krieg emigrierte sie weiter nach Brasilien, kam aber in den 1950er- Jahren nach Wien zurück. Sie war mehrere Male verheiratet, ihr letzter Ehemann war Tscheche und hieß Frantisek Ceska. Auch von dem war sie geschieden und starb kinderlos im Jahre 2001 in Wien.

Margarete, die bereits vor ihrer Schwester Lilli nach Wien zurückkam, überlebte den Holocaust in Australien, übersiedelte nach dem Krieg auch nach Brasilien und heiratete den holländischen Juden Rene Klein. In den 1950er-Jahren zogen sie nach Wien. Sie wohnte mit ihrem Mann in Grinzing. Rene besaß die Generalvertretung einiger Auslandsfirmen und führte ein Lampengeschäft im 9. Bezirk. Er starb 45jährig an einem Herzinfarkt. Margarete starb 1994 im Maimonides Zentrum, dem jüdischen Altersheim, in Wien.

Anton wurde 1873 geboren, und nach Erzählungen meines Vaters, war er viele Jahre gelähmt und wurde im Rollstuhl gefahren. Er lebte mit seiner jüdischen Ehefrau Louise in Baden bei Wien. Anton starb 1923 und Louise starb 1938 in Baden. Beide liegen in einem Grab am jüdischen Friedhof in Baden begraben. Sie hatten eine Tochter, deren Namen ich nicht weiß, die mit ihrem Ehemann in einem Lager in Polen ermordet wurde.

Maximilian, Max genannt, wurde 1876 geboren. Er war in Wien in erster Ehe mit Elise Feichtmaier, verheiratet. Lissi, wie seine Frau genannt wurde, trat zum jüdischen Glauben über. Sie wohnten im 9. Bezirk, in der Gussenbauergasse 1 und bekamen drei Kinder: Valeria, Rudi und Henriette. Henriette starb bereits 15jährig, im Jahre 1919. Sie liegt am Zentralfriedhof am 1. Tor in der jüdischen Abteilung begraben. Nach ungefähr 15 Jahren Ehe trennte sich Maximilian von seiner Familie und wohnte fünf Jahre allein im ‚Hotel Post’ im 1. Bezirk, am Fleischmarkt.

Valeria, Vally genannt, war Sozialistin, und in erster Ehe mit dem Conferencier Fritz Schik verheiratet. Aus dieser Ehe stammt die Tochter Eva. In zweiter Ehe war Vally mit Ernst Bauer verheiratet. Diese Ehe mit Ernst soll eine wirkliche Liebesheirat gewesen sein. Sie bekam ihre zweite Tochter, die sie Hanna nannte. Sie wohnten im 9. Bezirk, in der Fuchsthallergasse 12. Ernst flüchtete 1938 nach Budapest, wo er starb. Unter welchen Umständen er starb, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, ob er jüdisch war. Vally musste ab Januar 1939, wie alle Jüdinnen, den Zusatznamen Sara annehmen. Sie war als Jüdin und als aktive Sozialistin vielen Demütigungen und Repressalien ausgesetzt. Ihre Tochter Hanna war 1938 ungefähr sechs Jahre alt. Sie überlebte den Holocaust bei ihrer Großmutter Lissi in Wien. Nach dem Krieg kam sie nach England und wurde dort von einer kinderreichen Familie adoptiert. Hanna wurde Krankenschwester und arbeitete in einem Spital. Sie lebt noch heute in England, leider habe ich keinen Kontakt zu ihr. Vally nahm sich 1943 in der Wohnung ihrer Mutter in der Gussenbauergasse mit Veronal das Leben und starb im Elisabethspital.

Vallys Tochter Eva war damals 16 Jahre alt, sie überlebte das KZ Auschwitz [Polen]. Nach dem Krieg heiratete sie einen Dr. Gutfreund und im Jahre 1952 wurde ihre Tochter Ilse geboren. Sie bekam noch vier Kinder: Monika, 1960 geboren, Stefan, 1962 geboren, Renate, 1964 und Klaudia, 1972 geboren. Die Ehe ging auseinander, Eva lebte in Bad Ischl und schrieb Kurzgeschichten für Zeitungen. Später lernte sie den Schriftsteller Dr. Berger kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod zusammenblieb. Ob sie noch lebt oder nicht, weiß ich leider nicht.

Maximilians Sohn Rudi, über den ich kaum etwas weiß, wurde um die Jahrhundertwende geboren. Er emigrierte 1938 nach England, änderte nach dem Krieg seinen Namen von Rudi Smolka in Frank Smail, wurde Kaufmann, heiratete und ist Vater einer Tochter Gilian und eines Sohnes Rony. Über Rony weiß ich nichts, Gilian ist verheiratet und hat drei Kinder. Rudi kehrte nicht nach Österreich zurück, er blieb mit seiner Familie in England.

In zweiter Ehe war mein Großonkel Maximilian mit Berta, geborene Schumann, verheiratet. Sie war keine Jüdin und erst 17 ½ Jahre alt, als sie Max kennen lernte. Die Familie besaß eine Parfümerieerzeugung in Wien, und Max hatte meines Wissens in seiner Wohnung, im

1. Bezirk, in der Bäckerstrasse, ein Geschäft, wo in Handarbeit Stofftiere erzeugt wurden.

Berta und Max bekamen zwei Kinder: Kurt und Elvira, die im Alter von acht Jahren an einer schweren Diphtherie - und Scharlacherkrankung starb. Nach dem Einmarsch der Deutschen flüchtete Kurt nach Budapest, um als ‚Mischling’ nicht im Krieg an die Front zu müssen und Berta flüchtete mit Max über Budapest nach Brünn. Berta kaufte in Brünn eine Wohnung und eine Fabrik auf den Namen ‚Max Smolka’. Es gelang ihr nicht, Max zu retten, der 1942 im KZ Auschwitz ermordet wurde.

Berta ging 1943 ohne ihren geliebten Mann Max wieder nach Wien zurück. Ihr Sohn Kurt hatte den Holocaust in Budapest überlebt und kam nach dem Krieg nach Wien zurück. Bertas Mutter hatte die Parfümerieherstellung weitergeführt und auch die Wohnung gerettet. Berta hatte Anfang der 1920er-Jahre mit ihrer Firma die Urzelle der INKU Firmengruppe gegründet. Die INKU AG, Interessengemeinschaft für Kunsthandwerk und Handel, seit 1969 INKU - Leistungsgemeinschaft, wurde von Kurt 1949 übernommen. Die INKU war ein führendes Unternehmen im Bereich Raumausstattung, Herstellung von Bodenbelägen und Tapeten. Kurt heiratete Auguste, Guggi genannt, und sie bekamen zwei Töchter, Christiane und Dorothea und einen Sohn Michael. Guggi war stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsrates der INKU, aber in erster Linie selbständige Geschäftsfrau. Sie führte 20 Jahre das Kindermodengeschäft ‚Prinzess’ am Kohlmarkt.

Christiane ist verheiratet mit Kurt Mohr, und sie haben zwei Töchter Katharina und Carolin. Beide sind verheiratet und haben Kinder. Sie leben in der Nähe von Wien. Dorothea ist mit Andrew Demmer, der jüdischer Herkunft ist, verheiratet. Sie leben in Purkersdorf und haben drei Töchter und einen Sohn Georg Andreas. Zwei Töchter sind verheiratet und haben auch schon Kinder. Eine 22jährige Tochter und ein 21jähriger Sohn sind noch unverheiratet. Michael, Kurts Sohn, lebt in Wien und hat die Firma der Eltern übernommen. Auch er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Kurts Ehefrau Auguste starb bereits 1984, Berta lebte bis ins hohe Alter in der Wohnung in der Bäckerstrasse und starb mit über 90 Jahren im Altersheim in Klosterneuburg, und Kurt starb im Jahre 2002.

Ein weiterer Bruder meines Großvaters war Franz Smolka, der 1877 geboren wurde. In welchem Jahr Franz nach Wien kam, weiß ich nicht. Auch er war zweimal verheiratet. Seine erste Frau Flora Zimmermann, die 1884 geboren wurde und die Tochter von Sigmund und Cäcilie Zimmermann war, war die Schwester der ersten Frau seines Bruders Otto. Er heiratete sie 1904 in Wien. Mit Flora hatte er zwei Söhne: Fritz und Hans.

Franz hatte während des Ersten Weltkriegs in Wien Geschäfte mit dem Erzherzog Salvator gemacht, und war dadurch in Konkurs gegangen. Die Familie erzählte, da man den Erzherzog nicht gut klagen und einsperren konnte, sperrte man den Juden Franz ein. Flora erkrankte und starb 1917 innerhalb von vier Wochen. Mit seiner zweiten Frau Maria Malina aus Baden, die nicht jüdisch war, hatte er einen Sohn Heinz. Mit den Söhnen Heinz und Hans aus erster Ehe, übersiedelten sie im Jahre 1920 nach Argentinien. Fritz war zu dieser Zeit 14 Jahre alt und besuchte erst einmal in Brünn [heute Tschechien] eine Fachschule. Franz und seine Frau mussten in Argentinien hart um eine Existenz kämpfen und zogen einige Jahre später nach Brasilien. Franz kaufte nach mehreren missglückten Versuchen sich selbständig zu machen, Boden in einem Pinienwald, den er urbar machte. Die Familie hatte sich inzwischen um zwei Mädchen, die Zwillinge Vlasta Flora Johanna und Maria Anna Magdalena und den jüngsten Sohn Peter vergrößert. Franz gelang es, ein Sanatorium, heute würde man sagen, einen Wellness Club, zu gründen, das der ‚besseren Gesellschaft’ als Erholungsstätte diente. Fritz war, bevor er nach Rio de Janeiro [Brasilien] emigrierte, noch ungefähr 1 ½ Jahre in der Firma seines Onkels Maximilian, in der Bäckerstrasse in Wien, angestellt. In Rio heiratete er Maria Narcisa Sampaio und wurde Vater von sieben Kindern. Er starb im Jahre 1969 in Rio.

Vlasta und Maria leben in den USA. Vlasta heiratete Roger Halle und sie bekamen drei Kinder: Roger, Maria Rita und Peter Hiram. Maria heiratete Nigel Chattey. Hans war in erster Ehe mit Alice und in zweiter Ehe mit Irmgard verheiratet und starb 1975. Peter, der jüngste Sohn, kam 1952 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Als mein Großonkel Franz 1956 starb, übernahmen seine Frau und seine langjährige Sekretärin das Sanatorium und führten es weiter. Maria starb 1976, zwanzig Jahre nach ihrem Mann, in Rio. Fast die ganze Familie blieb in Brasilien. Kinder, Enkelkinder und Urenkel wurden katholisch erzogen, und wussten nicht, dass sie jüdischer Herkunft sind. Vor wenigen Tagen fand ich über das Internet, und zwar über das Telefonprogramm Skype, einen Felipe Smolka und rief ihn an. Es stellte sich heraus, dass er der Ururenkel von Franz Smolka ist. Er lebt 27jährig in Atlanta und ist Fachmann für Telekommunikation. Seine Familie aber ist weiterhin in Sao Paulo [Brasilien] und seine Großmutter, die bereits per Internet mit mir in Kontakt getreten ist, seine Mutter und, ich glaube, eine seiner Schwestern, sind Direktorinnen einer Gesamtschule in Rio. Das sind alle Nachkommen von Franz Smolkas ältestem Sohn Fritz.

Gottlieb, tschechisch Bohumil Smolka, wurde 1880 geboren. Er lebte in Pardubice, in Böhmen und wurde von allen Bohusch genannt. Mit seiner Frau Olga hatte er drei Kinder: Heini, Margit und Fritz. Über den Beruf meines Großonkels weiß ich nichts. Margit flüchtete über Paris nach Argentinien und war mit einem Mann namens Max Hermann verheiratet. Die Ehe blieb kinderlos. Sie hatten in Argentinien eine Bijouteriewarenerzeugung und nach ihrer Pensionierung übersiedelten sie nach Israel in den Kibbutz 4 ihres Bruders Fritz, der 1940 auf einem illegalen Transport einer jüdischen Jugendorganisation nach Palästina geflohen war. Während der Flucht auf dem Schiff, lernte er seine spätere Frau Ruth kennen. Gemeinsam mit anderen Tschechen gründeten sie im Norden Israels, im Galil, den tschechischen Kibbutz Neot Mordechai. Sie haben zwei Töchter, Nurit und Dorit. Nurit lebt in der Nähe von Hadera in Pardess Hanna, ist verheiratet und hat vier Kinder. Von Beruf ist sie Krankenschwester. Dorit ist verheiratet mit Rami Laner, auch sie haben vier Kinder. Rami stammt auch aus dem Kibbutz des Vaters, und nach dem Militärdienst gründeten sie am Golan den Kibbutz Mevo Hama, wo sie heute noch leben.

Bohumil, Olga und ihr älteste Bruder Heini Smolka wurden 1942 aus Pardubice nach Theresienstadt deportiert. Den letzten Tag vor der Deportation verbrachte Berta, Maximilians Frau mit ihnen zusammen. Sie erzählte nach dem Krieg über diesen furchtbaren Abschied von ihrem Schwager und seiner Familie. Von Theresienstadt wurden Bohumil, Olga und Heini 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Karl Smolka wurde 1882 geboren, war der jüngste Bruder meines Großvaters und alle Geschwister liebten ihn sehr. In erster Ehe war er mit Martha, geborene Ulrich, verheiratet, mit der er einen Sohn Hans hatte. Sie wohnten in Wien, im 3. Bezirk, wo Karl Auslagepuppen und Reklamebuchstaben herstellte. Von Martha ließ er sich scheiden, als Hans ungefähr zwölf Jahre alt war und heiratete Karla. Karl, Karla, Hansi und Karls Schwester Olga flohen 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich, zusammen nach Prag. Dort trafen sie oft Karls Bruder Maximilian und Berta. Karls Schwester Olga und sein Sohn Hansi wurden ins Ghetto Theresienstadt deportiert und in Auschwitz ermordet. Karl überlebte in Prag den Holocaust, blieb nach dem Krieg mit seiner Frau in Prag und wurde Angestellter der israelitischen Kultusgemeinde. Im Jahre 1959 erkrankte er an Leukämie und starb im Januar 1960. Er liegt auf dem jüdischen Friedhof in Prag begraben.

Mein Großvater Albert wurde am 13. Februar 1879 geboren und kam, ich glaube, im Jahre 1905 nach Wien. Wie mein Großvater selbst berichtete, war er sehr musikalisch und spielte als junger Mann mit seiner Geige in Gast - und Kaffeehäusern auf und verdiente sich so seinen Lebensunterhalt. Als er 1938 nach London emigrierte, wollte er unbedingt seine Geige mitnehmen. Die Geige ist wahrscheinlich nicht sehr wertvoll, aber er musste nachweisen, dass sie keinen Wert hat. Und so ging er zu einem Geigenbauer im Konzerthaus und holte sich die Bestätigung, dass das vorgelegte Instrument ein minderwertiges Produkt sei. Diese Geige existiert noch immer und ist im Besitz meines Bruders, denn als Kind bekam er beim Großvater einige Zeit Geigenunterricht.

Mein Großvater war ein Reisender, bevor er sich in Wien niederließ. Ein bisschen führte er das Leben eines Bohemiens. Doch dann entschloss er sich zu einem angemessenen bürgerlichen Leben und beteiligte sich an der Metallwarenfabrik seines Bruders Otto. Die Firma war zunächst in der Kaiserstraße, im 7. Bezirk, später übersiedelte sie nach Schwechat, denn Schwechat liegt an einem Fluss und sie wandelten die Wasserkraft mit Turbinen in Energie um. Auf dem Areal stand wahrscheinlich schon vor 1563 eine Mühle. 1849 brannten das Schloss Thurnmühle, das ein ehemaliges Jagdschloss der Kaiserin Maria Theresia 5 war, die Mühle und die Wohngebäude ab. Der Brauereibesitzer Anton Dreher kaufte 1859 den gesamten Besitz, ließ das Schloss restaurieren, die alte Mühle abreißen und errichtete 1863 eine Dampfmühle, die bis 1902 im Betrieb war. Im selben Jahr pachteten der Industrielle Ferdinand Schar, mein Großonkel Otto und mein Großvater Albert Smolka den Besitz, ließen die Gebäude zu einer Metallwarenfabrik umbauen, und stellten Schnallen und Pferdebeschläge her. Im Jahre 1916 kauften sie schließlich mit Kriegsanleihen das gesamte Objekt. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Fabrik von meinem Vater Peter Smolka zu einer Sportartikelfirma umgestaltet und ‚Tyrolia’ genannt.

Mein Großvater sagte immer, er hätte die Großmutter auf einem ‚Heiratsmarkt’ am Gardasee kennen gelernt. Er sei dorthin gefahren, um eine Braut zu finden; das war anscheinend üblich. Meine Großmutter kam vielleicht auch aus diesem Grund mit ihren Eltern an den Gardasee und sie erzählte, dass das, was sie sofort am Großvater bewunderte, seine Koffer mit den vielen Etiketten aus aller Welt waren. Sie lernten sich kennen, und es wurde eine große Liebe.

Der Großvater heiratete im Jahre 1910 die Großmutter Vilma, geborene Wottitz, die am 15. Jänner 1889 in Wien geboren wurde. Ihre Eltern waren der ‚Börsianer’ Isidor Wottitz und Malvine, geborene Sternklar, die 1866 in Lemberg [heute Ukraine] geboren wurde. Mein Großvater Albert sagte immer: ‚Im Jahre 1866 gab es zwei Katastrophen: die verlorene Schlacht bei Königgrätz [Anm.: preußisch-österreichischer Krieg] und meine Schwiegermutter wurde geboren.’ Die Eltern von Isidor Wottitz waren der Sprachlehrer Bernhard Wottitz und Johanna, geborene Deutsch. Sie lebten und starben in Wien und sind am Zentralfriedhof begraben.

Meine Großmutter Vilma hatte fünf Jahrgänge am Mädchen-Lyzeum des Wiener Frauen-Erwerb-Vereins absolviert, danach die höhere Fortbildungsschule der ‚Josefine Fraenkel’ besucht und hatte eine musikalische Ausbildung. Bei der im Mai 1907 abgehaltenen mündlichen Prüfung waren die Schulresultate meiner Großmutter folgende: Geschichte der Musik, Klavierspiel, Harmonielehre und die Kenntnisse in Bezug auf allgemeine und pädagogische Bildung: ‚sehr gut’. Auf ihrem Abschlusszeugnis stand: ‚Auf Grund dieser Ergebnisse wird Fräulein Wottitz, Vilma für den Unterricht im Klavierspiele an Lehrerinnenbildungsanstalten unter Gebrauch des Deutschen als Unterrichtssprache befähigt erklärt. Wien, den 7. Mai 1907 Die k.k. Prüfungskommission für das Musiklehramt an Mittelschulen und Lehrerbildungsanstalten.’

Ein Urgroßvater mütterlicherseits hieß Moses Josef, genannt Moische Jossl Hernes. Er besaß in der Bukowina [Teil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie] ein Gut mit einer Branntweinproduktion und war für damalige Begriffe ein sehr reicher Mann. Die Urgroßmutter hieß Chanzie Hernes und war eine geborenen Goldhagen. Die Urgroßeltern hatten zehn Kinder: Naftali, Helene, Klara, Koppel, Marie, Kalman, Toni, Josefine, Berl und meine Großmutter Berta, die alle in Slobozia Banilei, in der Bukowina [heute nördliche Teil Ukraine, südliche Teil Rumänien], geboren wurden und im 1. Weltkrieg nach Wien kamen.

Naftali Hernes wurde 1874 geboren. Er lebte in Wien im 6. Bezirk, in der Aegidigasse 14, und war Kaufmann. Seine Frau Jente, die Jetti genannt wurde, bekam fünf Kinder: Toni, Lotte, Max, Eva und Josefine. Toni heiratete nach dem Tod meiner Großmutter mütterlicherseits meinen Großvater. Über Lotte weiß ich nur so viel, dass sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Holocaust ermordet wurde. Max war mit Trude verheiratet und hatte eine Tochter. Ihnen gelang die Flucht vor dem Holocaust nach England. Nach dem Krieg besaß Max in London einen Schuhgroßhandel und starb in den 1960er-Jahren. Josefine war in Wien Besitzerin eines Hutmachergeschäftes. Sie emigrierte mit ihrem Mann nach Amerika, wo sie als Innenarchitektin arbeitete und in den 1980er-Jahren starb. Eva (genannt Emmy) war mit einem Herrn Gruder verheiratet. Sie hatte den Beruf einer Modistin im Hutmachergeschäft ihrer Schwester Josefine gelernt. In London, wohin ihr 1938 die Flucht gelungen war, arbeitete sie in ihrem Beruf weiter. Sie starb geschieden und kinderlos 1996 in London. Mein Großonkel Naftali arbeitete manchmal mit im Stoffgeschäft meines Großvaters. Er starb 1941 im Rothschild Spital [jüdisches Spital in Wien]. Jetti wurde 1942 aus dem Altersheim im 10. Bezirk, in der Alxingergasse, nach Theresienstadt und von Theresienstadt in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet.

Helene war mit Samuel Lautmann verheiratet und hatte drei Kinder: Lotte, Dolio und Bronia.

Klara war mit Simche Marmorosch verheiratet, sie hatten vier Kinder: David wurde im Holocaust ermordet, Toni war mit Bernhard Sucher verheiratet, Muniu war mit Chaja verheiratet und Rachel Josefine, Mausi genannt, wurde 1912 geboren und lebt in einem Altersheim in Ramat Gan [Israel]. Klara und Simche starben in Israel.

Koppel war verheiratet mit Sali. Sie hatten sechs Kinder: Lotte, Lea genannt, Shimku, Regine, Ginzia genannt, Nita, Tema und Blima. Koppel starb in Israel, Blima lebt in Paris, Lea studierte in Straßburg Medizin und war in Paris Kinderärztin, wo sie vor wenigen Jahren starb. Shimku war in Israel Dermatologe, hat einen Sohn Eldat und starb in Israel.

Marie war mit Herrn Blumenthal verheiratet. Sie hatten drei Kinder: Klara, Tonka, verheiratete Kugel und Muniu, der Bronja heiratete.

Kalman war verheiratet mit Babi. Sie hatten drei Kinder: Poldi wurde im Holocaust ermordet, Ali und Tuzi. Kalman starb in Israel.

Toni heiratete in erster Ehe Loniu Buchbinder und in zweiter Ehe Rudolf Kohn. Aus der Ehe mit Loniu hatte sie einen Sohn Martin. Toni starb in Israel, Martin lebt in New York.

Josefine war verheiratet mit Max Wollner. Sie hatten zwei Kinder: Erika und Paul. Josefine starb in den USA, Erika lebt in den USA.

Berl war verheiratet mit Dora. Sie hatten drei Kinder: Mali und Bubi wurden im Holocaust ermordet, was aus Klara wurde, weiß ich nicht.

Meine Großmutter Berta, jüdisch Brancie, wurde am 1. August 1888 geboren. Während des 1. Weltkrieges kamen die Urgroßeltern nach Wien, wo meine Urgroßmutter Chanzie 1917, im Alter von 65 Jahren gestorben ist. Nach dem Tod seiner Frau verließ der Urgroßvater Wien und ging zurück in die Bukowina. Dort heiratete er ein zweites Mal und starb 1920.

In Dolina [heute Ukraine], in Galizien, lebte die Familie Jekel. Das sind meine Vorfahren mütterlicherseits. Mein Ur-Urgroßvater, von dem ich auch ein Foto besitze, hieß Moses Jekel. Er soll Gemeindevorsteher in Dolina gewesen sein. Er war der väterliche Großvater meines mütterlichen Großvaters Max Jekel, alias Jäckel, alias Jaeckel. 

Die Urgroßeltern hießen Abraham Jekel und Jente, geborene Tanne. Abraham wurde 1857 geboren. Wann sie aus Dolina nach Wien übersiedelten, weiß ich nicht genau. In Wien wohnten sie in der Jenullgasse Nummer 5, im 13. Bezirk. Abraham starb 1929, Jente überlebte den Urgroßvater um ein Jahr und wurde 1930 in Wien beerdigt. Beide liegen in einem Grab auf dem Zentralfriedhof am 4. Tor. Sie hatten vier Söhne: Salomon, Herschel, meinen Großvater Mendel, in Wien hieß er Max, und Julius. Mein Großvater wurde am 4. Juli 1889 geboren. Die älteren Brüder des Vaters meiner Mutter, Salomon und Herschel, hießen noch Jekel recte Tanne, nach dem Geburtsnamen der Mutter. Die jüdische Hochzeit war zur Zeit ihrer Geburt staatlich nicht anerkannt, und deshalb bekamen sie als uneheliche Kinder den Namen der Mutter.

Herschel und seine Frau wurden im Holocaust ermordet. Es ist wahrscheinlich, dass Herschel in Wien Hermann hieß und eine Frau namens Malwine geheiratet hatte. Sie wurden 1941 in Riga [heute Lettland] ermordet. Sie hatten zwei Kinder, Lilli und Max, die in Wien geboren wurden. Beiden gelang die Flucht vor dem Holocaust. Lilli lebte in London und arbeitete zuletzt als Kassiererin in einem Dinner Clubs. Sie hat einen Sohn Peter und starb in den 1990er-Jahren in London. Max emigrierte nach New York [USA], studierte Medizin und wurde praktischer Arzt. Er hat einen Sohn Howard. In späteren Jahren arbeitete Max als Psychiater und seine letzten Jahre verbrachte er in Florida, wo er starb.

Julius, ein jüngerer Bruder des Großvaters, war mit Regine Weinreb verheiratet. Die Ehe war kinderlos. Ihnen gelang die Flucht vor dem Holocaust nach England. Julius starb ungefähr 1970 in London.

Mein Großvater Mendel fuhr gemeinsam mit seiner Mutter in die Bukowina, um eine Frau zu finden. Zur Heirat angeboten durch einen Schadchen 6 war eine Tochter des Urgroßvaters Hernes, namens Toni. Mein Großvater sah während des Besuchs Tonis ältere Schwester Berta, in die er sich sofort verliebte, und er beschloss, nicht Toni, sondern Berta zu heiraten. Berta, also meine Großmutter, war aber schon mit 20 Jahren eine geschiedene Frau, was für die Zeit damals außergewöhnlich war. Das war so gekommen: Bereits als Kind war Berta einem wesentlich älteren Mann versprochen worden. Als es zur Hochzeit kommen sollte, ging sie zu ihrem Rabbiner und sagte: ‚Ich kann diesen Mann nicht heiraten, denn ich liebe ihn nicht.’ Und der Rabbiner entgegnete: ‚Mein Kind, es ist eine große Sünde, ein Verlöbnis zu lösen. Du wirst diesen Mann heiraten, gleich nach der Hochzeit gehst du nach Hause, und ich verspreche dir, du wirst von ihm geschieden werden.’ Das heißt, sie ging praktisch nach ihrer Hochzeit als geschiedene Frau nach Hause. Die Familie hatte keine große Hoffnung, Berta bald wieder verheiraten zu können, und so war das eine äußerst glückliche Fügung, dass auch Berta sich in den Mann verliebte, der gekommen war, um sich um ihre jüngere Schwester Toni zu bewerben.

Mein Großvater, der zwischen den Jahren 1906 und 1908 nach Wien gekommen war, sich ab dieser Zeit Max Jäckel nannte, hatte eine Kaufmannslehre absolviert und mit seinem Bruder Salomon, genannt Salo, ein Stoffgeschäft in der Mariahilferstrasse Nummer 82 eröffnet.

Salomon war verheiratet mit Babele. Sie hatten einen Sohn Bernhard, Benno genannt und eine Tochter Aurelia, Rella genannt. Rella war mit einem Herrn Austin heiratete. Das Geschäft auf der Mariahilferstrasse 82 wurde 1938 arisiert und hieß dann Müller. Benno hatte einen Sohn Hans Georg, später nannte er sich Juan Jorge und eine Tochter Daisy, die 1937 in Wien geboren wurde. Benno starb in Kolumbien, wohin die Familie vor dem Holocaust flüchtete. Daisy betrieb in Kolumbien auf einer Farm biologischen Gemüseanbau. Sie hat zwei Söhne und lebt heute in der Nähe des einen Sohnes in Boca Raton, Florida. Ich glaube, Aurelia lebt in Los Angeles. Salomon und Babele, der Bruder und die Schwägerin meines Großvaters, starben in den USA, wohin sie 1938 geflüchtet waren.

Nach einiger Zeit eröffnete mein Großvater Max ein eigenes Stoffgeschäft in der Mariahilferstrasse Nummer 58. Drei Jahre nach der Hochzeit der Großeltern wurde meine Mutter Lotty Jäckel am 20. Mai 1913 geboren. Meine Großmutter fuhr zur Entbindung ihres ersten Kindes, das war damals üblich, zu ihrer Mutter, und so wurde meine Mutter auf dem Gut der Urgroßeltern in Slobozia Banilei, in der Bukowina, geboren. Wenige Wochen nach der Geburt kehrte die Großmutter dann zum Großvater nach Wien zurück. Fünf Jahre später wurde am 18. Juli 1918 meine Tante Anita und dreizehn Jahre später, am 16. März 1926, wurde Siegfried Michael in Wien geboren. Die Familie wohnte in Hietzing, wo der Großvater in der Jagdschlossgasse 27 ein Haus gekauft hatte. Berta hatte ihrem Vater bei ihrer Hochzeit versprochen, ein ordentliches jüdisches Haus zu führen und das befolgte sie auch. Es wurde mit viel Aufwand koscheres Fleisch besorgt, denn das war damals in Lainz [Teil des 13. Bezirkes] nicht so leicht: Man kaufte es in Mariahilf [6. Bezirk], übergab es dem Fahrer der Straßenbahnlinie 59, der es bis zur Endstation Lainz mitnahm, wo es dann vom Hauspersonal abgeholt wurde. Machmal war es auch so, dass die Aufgabe des Lehrlings, den mein Großvater im Geschäft hatte, unter anderem darin bestand, das koschere Fleisch nach Lainz ins Haus der Großeltern zu bringen. Als ein Verehrer meiner Mutter einmal am Jom Kippur 7, dem höchsten jüdischen Feiertag, zu Besuch kam und auf Befragen sagte, er wäre mit der Tramway gekommen, wurde er hinausgeworfen, denn am Jom Kippur ist es unter anderem auch verboten, mit der Straßenbahn zu fahren. Andererseits war Berta nach der letzten Mode gekleidet, hatte einen modernen Haarschnitt, einen Bubikopf, und war mitunter blondiert. Sie liebte es auch, im Sommer nackt im Garten in der Sonne zu liegen - sie war also nicht in allem das Bild einer frommen jüdischen Frau.

Das Geschäft meines Großvaters wurde 1938 durch seinen Großhandelskunden Komolka arisiert. Im Jahre 1948 bekam mein Großvater, der mit seiner zweiten Frau Toni vor dem Holocaust nach London geflohen war, bei der Rückstellungsverhandlung das Geschäft zurück. Er kam aus London nach Wien zu Besuch und nach einer Woche sagte er: ‚Ich kann nicht hier bleiben, ich sehe die Leute auf der Straße, die mich zehn Jahre vorher angespuckt haben. Ich gehe nach London zurück.’ Er bot das Geschäft meiner Mutter an, aber sie hatte weder Lust noch die Absicht, ein Stoffgeschäft zu besitzen. Daraufhin löste der Ariseur Komolka das Geschäft ab und betrieb es weiter. Heute ist es noch immer im Familienbesitz der Komolkas.

Wir betraten dieses Geschäft nie, das gehörte dem Ariseur und war für uns nicht existent. Die Schwester meiner Mutter, meine Tante Anita, kam nach dem Krieg von Zeit zu Zeit nach Wien, um uns zu besuchen. Sie war 1936 nach London emigriert und hatte dort den in Wien geborenen Kaufmann Georg Kaufmann (einem Sohn des Malers Isidor Kaufmann) kennen gelernt und geheiratet. Sie bekamen nach dem Krieg, 1952, ihren Sohn Peter, der in London lebt. Anita hatte nach dem Krieg nicht mehr die Absicht, sich in Wien wieder niederzulassen und sagte immer: ‚Da bin ich hinausgeschmissen worden, da komme ich nicht mehr zurück, aber ich komme euch besuchen.’ Als sie wieder einmal zu Besuch war, fuhr sie mit meiner Mutter in ein Kurhotel in die Steiermark. Dort waren die beiden Damen, 70 und 75 Jahre alt, mit dem Rad unterwegs, die Tante stürzte und zog sich einen Schenkelhalsbruch zu. Sie kam in Wien ins Spital, und danach wohnte sie bei meiner Mutter zur Rekonvaleszenz. Da sie in dieser Zeit Puppen für ihre Enkelinnen nähte und dazu eine bestimmte Art von Stoff in Geschäften suchte, wurde ihr von einer Verkäuferin in Hietzing gesagt, dass das einzige Geschäft, dass diesen Stoff führe, der Komolka in der Mariahilferstrasse sei. Meine Mutter sagte, sie fahre gern mit dem Auto hin, aber betrete dieses Geschäft nicht und warte eben draußen. Meine Tante Anita ging hinein, blickte sich im Geschäft um, und sagte: ‚Es hat sich aber sehr verändert.’ Worauf der Besitzer fragte: ‚Kennen Sie denn dieses Geschäft?’ ‚Ja, das war das Geschäft meines Vaters’, sagte meine Tante. ‚Sie sind die Tochter von Max Jäckel? Kommen Sie bitte in mein Büro!’ Und dann erzählte er folgendes: ‚Meine Mutter war Jüdin! Mein Vater arisierte das Geschäft Ihres Vaters und meine Mutter arbeitete den ganzen Krieg über im Geschäft. Niemand kam darauf, dass sie Jüdin war, und so überlebte sie den Holocaust.’ Ich könnte nun doch einmal hineingehen, vielleicht werde ich es auch irgendwann tun.

Mein Großvater Max Jäckel starb am 16. Dezember 1951 in London, Tante Anita starb 1995 in London.

Zuerst wohnte die Familie meines Vaters im 3. Bezirk, in der Weißgerberlände 44. Der Großvater hatte diese Wohnung ausgesucht, weil dort die Pressburger Elektrische 8 vorbeifuhr, mit der er jeden Tag in die Fabrik nach Schwechat fuhr. Mein Vater, Harry Peter Smolka, wurde am 17. September 1912 in Wien als tschechischer Staatsbürger geboren, denn mein Großvater lehnte als ein glühender Republikaner die Habsburger, und Österreich als das Produkt der Habsburger, ab. Er optierte nach dem 1. Weltkrieg und der Auflösung Österreich - Ungarns 1920 für die Tschechoslowakei. Die Schwester meines Vaters, meine Tante Doris Johanna, wurde am 1. Mai 1918 in Wien geboren. Als die Kinder in die Schule kamen, musste mein Großvater als Ausländer, ich glaube, das fünffache Schulgeld zahlen, und 1928 nahm er dann doch die österreichische Staatsbürgerschaft an. In der Emigration in London war mein Großvater dann ein feindlicher Ausländer, weil Österreich nicht mehr existierte, denn Österreich war 1938 von Deutschland annektiert worden, und er wurde interniert. Meinem Vater gelang es dann, für seinen Vater die tschechische Staatsbürgerschaft zurückzubekommen, und so wurde der Großvater freigelassen und war kein feindlicher Ausländer mehr. Um 1949 bekamen die Großeltern dann die englische Staatsbürgerschaft.

Als mein Großonkel Otto 1928 starb, übernahm mein Großvater die Fabrik in Schwechat. Zu dieser Zeit war mein Vater 16 Jahre alt und erklärte seinem Vater sehr deutlich, dass er nicht beabsichtige, jemals den Betrieb zu übernehmen und Kapitalist zu werden. Er sah es als unmoralisch an, eine Ware zum Betrag X zu kaufen und zum Betrag Y zu verkaufen. Daraufhin nahm sich der Großvater einen Kompagnon in die Firma, weil er nicht das Geld hatte, die Kinder seines Bruders Otto - Elisabeth und Margarete - auszuzahlen.

Woher die politische Gesinnung meines Vaters, der kein Kapitalist werden wollte, kam, weiß ich nicht. Ich glaube aber, dass das eine Frage der Generation der jungen Juden in Wien in dieser Zeit war. Mein Vater war sehr angetan von der Paneuropabewegung 9 des Grafen Coudenhove Kalergi 10 und gründete mit 16 Jahren eine paneuropäische Jugendbewegung. Meine Mutter, die von einer Cousine auf einen Ausflug dieser Jugendbewegung mitgenommen wurde, lernte meinen Vater an ihrem 16. Geburtstag kennen. Sie erzählte mir, dass sie als Studentin für die internationale Arbeiterhilfe sammelte, also war auch sie links eingestellt. Die paneuropäische Jugendbewegung, die mein Vater gegründet hatte, wurde vom Bundeskanzler Seipel 11 als ‚zu linkslastig’ aufgelöst.

Am 8. September 1930 starb meine Großmutter mütterlicherseits im Alter von 42 Jahren im Sanatorium Purkersdorf an einer schweren Krankheit. Vorerst blieb der Großvater mit den drei Kindern allein. Für die Betreuung der Kinder hatte er Dienstpersonal - ein Kindermädchen und eine Haushälterin. 1934 heiratete er Toni, die Nichte seiner ersten Frau Berta und Tochter seines Schwagers Naftali. Toni war fleißig, sehr lieb und übernahm die Mutterrolle für den Bruder meiner Mutter, denn er war noch ein Kind. Aber auch sie arbeitete sehr viel im Geschäft mit, so dass er weiterhin von einem Kindermädchen betreut wurde. Toni starb 1984 in London.

Ab ihrem 17. Lebensjahr schlief meine Mutter zwar noch zu Hause, aber der Mittelpunkt ihres Lebensinteresses war mein Vater geworden. Sie maturierte 1930 und begann danach Medizin zu studieren. Ich weiß aber, dass meine Mutter mit ihrem Vater 1933, wahrscheinlich bevor sie verheiratet war, einmal mit der Elektrischen nach Pressburg [Bratislava: Slowakei] fuhr und sich den Film ‚Im Westen nichts Neues’ (der in Österreich verboten war) nach dem gleichnamigen Buch von Remarque 12 ansah.

Meine Eltern heirateten 20-jährig, am 12. April 1933, im Rathaus auf dem Standesamt. Mein Vater war ein bewusster Jude, aber als Linker war er der Meinung, Religionen bringen die Menschen nur auseinander, und im Sozialismus werden einmal alle Menschen gleichberechtigt sein. Er trat aus der Kultusgemeinde aus, denn zu dem Zeitpunkt konnte man standesamtlich nur heiraten, wenn man keiner Religionsgemeinschaft angehörte. Ich glaube aber, meine Mutter blieb Mitglied der Kultusgemeinde. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich sagte mein Großvater mütterlicherseits zu meinem Vater, es sei jetzt nicht die Zeit, sich von seinen Leuten zu distanzieren und bat ihn, dass er ihm die Vollmacht geben möge, ihn wieder in die Kultusgemeinde einzuschreiben. Meinem Vater war das egal und er sagte: ‚Mach was du willst!’ Nach dem Krieg, als meine Eltern wieder in Wien waren, wollte die Kultusgemeinde von meinem Vater die Kultussteuern für die Jahre seit 1938. Mein Vater sagte, er sei doch 1933 ausgetreten, und sie sagten, das stimme, aber er sei 1938 wieder eingetreten. Mein Vater wollte einen Vergleich, aber sie waren nicht bereit dazu. So zahlte er und trat danach, auch im Namen seiner Frau und Kinder, aus der Kultusgemeinde aus. Und so waren wir bis auf weiteres ohne religiöses Bekenntnis.

Die väterlichen Eltern waren von der jugendlichen Hochzeit in keiner Weise begeistert und machten erst einmal eine Reise nach Ägypten, um dann ihr Urteil zu sprechen. Nach dieser Reise sagte der Großvater zu meinem Vater: ,Wenn du beschlossen hast zu heiraten, musst du wissen, dann stehst du auf eigenen Füßen.’ Mein Vater, der einige Semester Jus studiert hatte, aber Journalist werden wollte, hatte schon als junger Mann mit drei anderen jungen Leuten eine Zeitschrift mit dem Titel ‚Der neuen Jugend’ herausgegeben. Einer der Mitherausgeber war sein Jugendfreund, der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky 13. Mein Vater hatte auch ein Jahr an der ‚London school of Economics’ studiert und zu dieser Zeit als Korrespondent der Wiener Zeitung ‚Der Tag’, deren Redaktion sich im 9. Bezirk, in der Canisiusgasse befand, gearbeitet. Nun ging er, 20-jährig, in die Redaktion der ‚Neuen Freien Presse’ und sagte zum Chefredakteur, er wolle als Korrespondent nach London gehen. Man muss sich das vorstellen, ein selbstbewusster junger Mann, der mit 20 Jahren und wenig Berufserfahrung erklärt, er wolle Korrespondent dieser großen, bedeutenden Zeitung werden. Der damalige Korrespondent der ‚Neuen Freien Presse’ war ein bereits alter Mann, der aus London nicht mehr sehr viele Berichte schrieb, und sie sagten: ‚Wenn Sie glauben, Sie können das, dann gehen Sie nach London und probieren Sie es.’ Meinem Vater war bereits sehr früh klar, Hitler hatte 1933 in Deutschland die Wahlen gewonnen, dass für ihn, als jungen Journalisten und Juden, der deutsche Markt verschlossen sein würde. Die Redaktion Wiener Zeitung ‚Der Tag’ gab meinem Vater noch ein Schreiben mit der Bitte mit nach England, ihm bei seiner journalistischen Tätigkeit behilflich zu sein. Wenige Wochen später übersiedelten meine Eltern nach England.

Durch sein Studium in England wusste er von einem Untermietzimmer, wo er nach der Ankunft in London mit meiner Mutter wohnen konnte.

Mein Vater arbeitete dann fünf Jahre in London als Korrespondent der ‚Neuen Freien Presse’. Später wurde er auch Korrespondent des ‚Prager Tagblattes’. Ideologisch wurde er Kommunist, ich glaube aber nicht, dass er je Mitglied einer kommunistischen Partei war. Im Jahre 1935 besuchte er als Journalist die Sowjetunion und schrieb danach ein Buch mit dem Titel ‚Vierzigtausend gegen die Arktis’ über eine Stadt, die in der Arktis gegründet wurde. Wie er uns später erzählte, besichtigte er sogar ein Straflager und erkannte nicht, was dort mit den Leuten geschah. Seine kommunistische Einstellung wurde in keiner Weise beeinflusst. Später sagte er, er habe es sich angeschaut und habe es nicht gesehen.

Mein Bruder Thomas Gordon wurde am 27. Februar 1936 in London geboren.

Siegfried Michael, der Bruder meiner Mutter, wurde 1938 durch einen Kindertransport 14 nach England gerettet. Er war damals erst 12 Jahre alt und lebte in einem Internat in London und besuchte eine Boarding school. Er wurde Chemiker, heiratete Jean, geborene Levy, und sie bekamen zwei Töchter. Joanna Berta wurde 1950 geboren und Ruth Fiona 1952. Siegfried Michael lebt schwerkrank als Witwer in Nottingham [England].

Nachdem meine Eltern fünf Jahre in England gelebt hatten, erhielten sie 1938 die englische Staatsbürgerschaft. Im März 1938, die Deutschen waren schon in Österreich, wurde mein Vater vom österreichischen Gesandten in London in sein Büro eingeladen und der sagte: ‚Smolka, ich kann nicht sehr viel für Sie tun, aber ich werde Ihnen einen neuen Pass auszustellen, der zehn Jahre gültig ist. Bis dahin wird der Spuk vorbei sein.’ Durch den Besitz der englischen Staatsbürgerschaft waren meine Eltern in der glücklichen Lage, für ihre Eltern und ihre Geschwister zu garantieren und sie so nach England zu holen. Am Tag vor dem Anschluss 1938 15 rief mein Vater seinen Vater in Wien an und sagte: ‚Es wird gefährlich, lasst alles stehen und liegen, setzt euch in die Pressburger Elektrische, und ich hole euch in Bratislava ab und bringe euch nach London. Der Großvater reagierte wie viele andere und sagte: ‚Unsinn, was soll uns schon geschehen!’ Aber ich glaube, sie kamen dann doch im Sommer oder im Herbst 1938 nach England und konnten zum Glück noch sehr viel mitnehmen.

Meine Tante Doris heiratete in London den Wiener Arzt Erich Horowitz, mit dem sie zusammen für zwei Jahre nach Edinburgh [Schottland] ging, wo Erichs Diplom nostrifiziert wurde. Danach emigrierten sie nach Kenia, wo er zunächst als Leibarzt eines Sultans arbeitete und nach dem Tod des Sultans mit der Tante umherfuhr und im Busch lebende Afrikaner impfte und medizinisch betreute. Am 31. März 1940 wurde ihre Tochter Jaqueline Delia in Nairobi geboren, und 1942 ließen sie sich in Nairobi nieder, wo Erich eine Praxis eröffnete. Jacqueline besuchte die Schule in Nairobi und wurde 18jährig nach London geschickt, wo sie eine Ausbildung als Röntgenassistentin absolvierte, um dann in ihrem Beruf zu arbeiten. Bis zum Jahre 1963, so lange Kenia englische Kolonie war, lebten Onkel Erich und Tante Doris in Nairobi, dann übersiedelten sie nach London. Erich praktizierte noch einige Jahre als Arzt, bevor er in Pension ging. Tante Doris starb am 29. Juni 1985 in London an Brustkrebs. Erich Horowitz lebte noch mindestens fünf Jahre als pensionierter Arzt in London. Jaqueline heiratete im März 1965 in der liberalen jüdischen Synagoge Brian Philip Holt und bekam zwei Kinder. Sie starb am 14. September 2000 an Brustkrebs.

Meine Kindheit

Ich wurde am 12. Oktober 1938 in London geboren. Mein Vater arbeitete ab 1938 im neu gegründeten Informationsministerium, meine Mutter arbeitete im Verlag eines Bekannten als Sekretärin, um mit ihrem Gehalt ihren Vater und seine Frau Toni zu unterstützen.

Im Jahre 1940 marschierten die Deutschen in Paris ein, und meine Eltern waren überzeugt, dass sie früher oder später auch England erobern würden. Ein Freund, ein amerikanischer Journalist, der in London gelebt hatte und nach Amerika zurückgegangen war, schickte ihnen ein Telegramm, in dem stand: ‚Schickt uns die Kinder, wir werden uns um sie kümmern!’

Während dem Krieg

Die Eltern waren der Ansicht, wenn sie draufgehen, sollen wenigstens die Kinder überleben, denn mein Vater war sicher, als Journalist, der auch über Österreich berichtete, auf der ‚Schwarzen Liste’ der Gestapo zu stehen. Meine Mutter fand daraufhin ein junges Mädchen, die nach Amerika fuhr um ihren Freund, einen Amerikaner, zu heiraten. Sie beteiligte sich an den Reisekosten dieses Mädchens unter der Bedingung, dass sie uns nach Amerika mitnimmt und auf uns aufpasst. In Glasgow wurden wir dieser jungen Frau übergeben. Nach einigen Wochen erhielten meine Eltern einen Brief von vollkommen fremden Leuten, in dem sie schrieben, wie sie sich freuten, uns aufnehmen zu dürfen. Es stellte sich heraus, dass dieser Journalist dasselbe Telegramm an 16 verschiedene Freunde in London geschickt hatte, die alle ihre Kinder in Sicherheit bringen wollten, und so musste er die vielen Kinder in der Bekanntschaft verteilen. Ich war zu dieser Zeit noch keine zwei Jahre, mein Bruder war viereinhalb Jahre alt. Wir kamen zu einem sehr reichen Ehepaar nach Scarsdale, nahe New York. Der Pflegevater, ein Verleger, und seine Frau hatten drei erwachsene Kinder. Der Sohn war, glaube ich, schon in der Armee oder wurde 1941 in die Armee eingezogen, die Töchter studierten bereits. Ich war ein dickes, lustiges Baby und alle freuten sich über mich. Mein Bruder war sehr betroffen durch die Trennung von den Eltern, und daher wahrscheinlich kein so freundliches Kind. Er ist auch heute noch davon überzeugt, dass ich sehr vorgezogen wurde, aber wir lebten beide dort wirklich in Saus und Braus; im Sommer fuhren wir zum Beispiel immer nach Vermont, wo die Familie ein Ferienhaus mit einem ziemlich großen Gelände und einem Teich hatte. Es war wunderschön!

Mitten im Krieg, im Jahre 1943, kam ein Freund meiner Eltern, auch ein Verleger, beruflich nach Amerika. Meine Eltern hatten ihn gebeten uns zu besuchen, und er kam nach London mit der Mitteilung zurück: Den Kindern geht es sehr gut, sie sind bei Millionären, ihr werdet ihnen nie das bieten können, was die ihnen bieten, und es wäre das Gescheiteste, die Kinder überhaupt dort zu lassen und Neue zu machen. Daraufhin verkaufte meine Mutter alles Wertvolle, das waren wenige Schmuckstücke, die sie als Erinnerung an ihre Mutter besaß und ließ uns nach England zurückkommen. Ich war nun viereinhalb Jahre alt, und ich erinnere mich, wie wir auf das Schiff gebracht wurden. Wir gingen in Philadelphia auf ein portugiesisches Schiff, denn Portugal war ein neutrales Land. Auf dem Schiff waren viele, wahrscheinlich hauptsächlich jüdische, Kinder. Auch die 13jährige Tochter unseres Hausarztes und Freundes meiner Eltern, der geholfen hatte, mich auf die Welt zu bringen, die ein Jahr in Amerika gewesen war, war Passagierin, und sie passte nun auf uns auf. Ich weiß aus Erzählungen meines Bruders, dass irgendwann ein deutsches U-Boot auftauchte, die Besatzung auf das Schiff kam, und die Kinder versteckt wurden. Im April 1943 kamen wir in Lissabon an, wurden dort von einem Kollegen meines Vaters abgeholt, und nach zwei oder drei Tagen in Lissabon flogen wir mit einem Flugzeug nach Schottland. Von dort fuhren wir mit dem Zug nach London zu unseren Eltern.

Ein halbes Jahr später wurden wir in London ausgebombt, und meine Mutter zog mit uns aufs Land. Mein Vater arbeitete weiter in London und kam immer am Wochenende auf Besuch. Wir wohnten mit unserer Mutter bei einem Lehrerehepaar, das vier eigene Kinder und ein Kind von einer Schwester in Australien aufgenommen hatte. Wir waren also sieben Kinder im Haus, und dort lebten wir bis zum Kriegsende. Für mich und meinen Bruder war das eine sehr schöne Zeit, weil unsere Mutter und viele Kinder mit uns zusammen waren.

Als Mitarbeiter der sowjetischen Abteilung des britischen Informationsministeriums wurde mein Vater 1944 nach Moskau geschickt, um in London über die politische Lage zu berichten, denn die Engländer hatten beschlossen, gemeinsam mit der Sowjetunion, Krieg gegen die Deutschen zu führen. Details weiß ich nicht sehr viele über diese Zeit, aber ich weiß, dass er in Moskau verschiedene österreichische Kommunisten kennen lernte, so auch Ernst Fischer 16, dessen Nichte ich dann viele Jahre später heiratete. Anfang 1945 ging meine Mutter mit uns nach London zurück. London wurde nicht mehr bombardiert, und es war anscheinend klar, dass der Krieg entschieden ist. In London erlebten wir die Feierlichkeiten anlässlich des Kriegsendes. Ich kann mich genau erinnern, dass mein Bruder und ich in der Nacht wach wurden und auf die Strasse liefen. Unsere Eltern schliefen friedlich in ihren Betten, und unsere nächtliche Exkursion kam nur deshalb ans Tageslicht, weil unsere Eltern am nächsten Tag Bekannte trafen, die uns gesehen hatten und natürlich nicht ahnten, dass wir allein unterwegs waren.

Nach dem Krieg

Mein Vater fuhr 1945 als Kriegskorrespondent ins zerstörte Wien, beschlagnahmte als englischer Besatzungsoffizier die arisierte Villa seines Schwiegervaters, und wir kamen mit unserer Mutter 1946 nach Wien in das großväterliche Haus, das Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen war. Verwandte des Ariseurs, er hieß Stockhammer, wohnten mit uns im Haus bis zur Rückstellungsverhandlung im Jahre 1947.

Ich weiß nicht, wann in meinem Vater die Absicht reifte, nach Wien zurückzugehen. Irgendwann war er der Meinung, dass man die Heimat aufbauen müsse, und dass er dazu vonnöten sei. Mein Bruder und ich hatten zu Wien und zu Österreich überhaupt keine Beziehung. Wir sprachen nur Englisch, die Eltern hatten, außer mit ihren Eltern, in England nicht Deutsch gesprochen. Sie wollten auch nicht Deutsch sprechen, sie wollten ‚Englisch’ sein.

Im Jahre 1945 erlebte mein Vater den Neuanfang der KPÖ, und er hatte viele kommunistische Freunde, lernte Literaten kennen, zum Beispiel Hans Weigel 17, der damals schon in Wien war. Zunächst arbeitete er als Korrespondent für den ‚Daily Express’ und dann auch für die Londoner ‚Times’. Später schrieb er für die Zeitung „Neues Österreich“, beteiligt daran waren die SPÖ [Sozialdemokratische Partei], ÖVP [Österreichische Volkspartei] und KPÖ [Kommunistische Partei Österreichs].

Mein Vater erkrankte sehr früh an Multiple Sklerose. Als ich zwölf Jahre alt war, war er 38 Jahre alt und bekam einen Rollstuhl. Er hatte ab 1945 in Wien die Spitzen der Kommunistischen Partei um sich geschart, das waren viele Juden, die behaupteten, keine Juden zu sein, so ähnlich wie es auch in meinem Elternhaus war. Er war nicht mehr imstande, seinen Beruf als Journalist auszuüben und musste - er hatte sich ja bereits als 16jähriger geweigert Kapitalist zu werden - die rückgestellte Firma seines Vaters nun doch übernehmen, die zu dieser Zeit fast am Boden lag. Er begann, mit dem Rollstuhl, in die Hochschule für Welthandel zu fahren, dort die Basis für Handelswissenschaften zu erlernen und beendete die Hochschule mit der 1. Staatsprüfung. Er baute den Betrieb seines Vaters wieder auf und machte ihn zu einem führenden Weltklassebetrieb, der Sportartikel und Schibindungen erzeugte. Mein Vater war nun Industrieller, hatte wahrscheinlich mehr Geld zur Verfügung als seine Freunde und dadurch, dass er physisch stark gehandicapt war, fanden die gesellschaftlichen Treffen immer im Haus meiner Eltern statt. Als Anfang der 1950er-Jahre die Stalinistischen Prozesse 18 in den sozialistischen Ländern stattfanden, gab es einen slowakischen Außenhandelsminister namens Loebl 19. Er war Jude, wurde verhaftet und gefragt, was er für Verbindungen zum Westen habe. Und in diesem Zusammenhang nannte er meinen Vater. Von Stund an wurde mein Vater von seinem Freundeskreis fallen gelassen. Die damalige Frau von Ernst Fischer kam weinend zu meinen Eltern und bat um Entschuldigung, dass sie den Kontakt zu ihnen abbrechen müsse. Sie glaube zwar diesen ganzen Spuk nicht, aber sie könne in ihrer Situation nicht mehr mit ihnen verkehren. Der Großteil der Leute blieb aber einfach aus. Zu meiner Mutter, die damals als Dolmetscherin bei einer Weltfrauenkonferenz war, kam man und sagte: ‚Bitte verlasse den Raum, du hast bei uns nichts mehr zu suchen.’

Ich bekam davon nicht sehr viel mit, ich war 12 Jahre alt, aber was ich sehr wohl bemerkte, war, dass die Freunde wegblieben und dass es dem Vater, zusätzlich zu seiner physischen Erkrankung, psychisch furchtbar schlecht ging. Die Eltern glaubten zunächst, dass alles ein schrecklicher Irrtum sei. Mein Vater ging zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und bat, um die Verbindung zur Partei nicht vollkommen zu verlieren, um den Kontakt mit wenigstens einigen Genossen. Man  erlaubte zwei Genossen, mit ihm weiter Kontakt zu haben; einer davon war sein Jugendfreund Tibor Barta, damaliger Direktor des Globus Verlages, und der andere war Fritz Glaubauf, ein Freund, mit dem er nicht mehr sehr viele Berührungspunkte hatte. Einmal traf ich einen ehemaligen Freund der Eltern in der Stadt, der grüßte mich, aber mehr auch nicht. Irgendwann, ich war 16 oder 17 Jahre alt, sagte ich zu meinen Eltern, dass ich endlich wissen wolle, was damals passiert sei, und dann erzählten sie es mir. Die Eltern hatten uns vorher damit nicht belasten wollen und nicht bedacht, dass es eine viel größere Belastung war, zu sehen, da gibt es irgendetwas Schreckliches, worüber man nicht reden darf. 1956 [20 ( siehe Ungarnaufstand)] lösten sich meine Eltern von der Kommunistischen Partei.

Am 29. April 1946 kamen wir nach Wien und am 2. Mai gingen wir bereits in die Schule. Wir wurden zur Volksschule gebracht, und es wurde uns gezeigt, wie wir nach Hause zu gehen haben. Wir sprachen kein Wort Deutsch, ich ging in die zweite Volksschulklasse. Eine Lehrerin konnte etwas englisch. Sie war aber Lehrerin in der Mädchenklasse, und darum wurde ich in die Mädchenklasse versetzt. Man gab noch zwei andere Buben dazu, damit ich nicht so einsam war unter den vielen Mädchen. Am Nachmittag kam immer eine Volksschullehrerin zu uns nach Hause, die nicht unterrichten durfte, weil sie Mitglied der Nazipartei gewesen. Sie unterrichtete uns in deutscher Sprache. Bis zum Sommer waren wir praktisch perfekt in der deutschen Sprache, und mein Bruder kam im Herbst schon ins Gymnasium.

Die Großeltern väterlicherseits wollten in London bleiben, aber dann starb 1950 die Urgroßmutter Malvine, die Mutter meiner Großmutter Vilma in London, und da übersiedelten sie dann doch 1952 nach Wien. Ihre letzten Jahre verbrachten meine Großeltern in dem Kurort Baden bei Wien. Mein Großvater starb am 30. April 1962 und die Großmutter Vilma 1967 in Baden.

Ich wuchs in dem Bewusstsein auf, dass wir eine jüdische Familie sind, aber nicht religiös. Das hatte zur Folge, dass mein Bruder und ich für die jüdische Gesellschaft nicht jüdisch waren und nicht dazu gehörten, aber jüdisch genug waren für die Antisemiten. Das Judentum für uns war eigentlich nur negativ beladen, denn über den Holocaust wurde sehr viel in der Familie gesprochen, darüber, dass viele Verwandte ermordet wurden. Wir hatten auch Verwandte und Bekannte in England, die nach Palästina gegangen waren, um für den Staat Israel zu kämpfen, und manche verloren dabei ihr Leben. Mit Israel waren meine Eltern immer solidarisch. Mein Vater verleugnete nie seine jüdische Herkunft, seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, wohl aber die Religion - bis zu seinem Tode. Als kleiner Junge sagte ich immer: ‚Wir sind keine Juden, denn wir glauben nicht an Gott, aber mein Großvater ist Jude, denn der geht immer in die Synagoge in der Abbey Road.’ Dass auch ich jüdisch bin, war mir in den ersten Tagen in Wien noch nicht bewusst, aber es wurde mir dann schnell bewusst gemacht: Ich spielte oft mit einem Buben auf der Straße vor dem Haus. Als wir einmal zu streiten begannen, kam ihm seine Großmutter zu Hilfe und sagte zu mir: ‘Geh ham, du Jud’. Das war das erste Zusammentreffen mit der Tatsache, dass ich Jude bin, dass ich anscheinend etwas anderes bin als die anderen. Als ich das zu Hause meinem Vater erzählte, sagte er: ‚Wenn dir das noch einmal jemand sagt, dann verprügel ihn.’ Und ich sagte: ‚Aber wenn er größer und stärker ist als ich?’ ‚Dann verprügelst du ihn trotzdem’, sagte mein Vater. Und genau so praktizierte ich das dann.

Ich war in der Klasse der einzige Jude. Wir wohnten in Mauer, und ich ging in Wien im 1. Bezirk in die Oberstufe der Stubenbastei [Anm. Gymnasium]. In den fünfziger Jahren begann man in Amerika schwarze Kinder in die Schulen zu integrieren, in die bisher nur Weiße gingen. Da waren große Aufregungen, besonders in Little Rock in Arkansas, und schwarze Kinder wurden verprügelt. Wir hatten einen Biologieprofessor in der Schule, er war Kriegsinvalide, und der sagte, was sich in Amerika an Rassismus abspiele sei furchtbar, so etwas wäre in Österreich nie möglich. Und ich sagte: ‚Aber Herr Professor, es sind doch erst 12 Jahre her, dass in Österreich jüdische Kinder aus den Schulen hinausgeschmissen wurden.’ Daraufhin sagte er, ich würde an Verfolgungswahn leiden, so etwas hätte es in Österreich nie gegeben. Ein Mann, der im Krieg war und sehr wohl wusste, was passiert war, nicht hatte wegschauen können, log einfach.

Oder wenn ich auf Schikurs mit der Klasse fuhr, erzählten Lehrer von ihrer herrlichen Kriegszeit, und ich wusste sehr genau, dass ich auf der anderen Seite stehe. Ich hatte wenig Kontakt zu meinen Mitschülern und glaubte immer, das läge daran, dass ich sofort nach der Schule nach Hause nach Mauer fuhr, daher wenige Berührungspunkte mit den anderen Kindern hatte.

Anlässlich des 25sten Matura-Jubiläums machte ich einen Schulkollegen ausfindig, der inzwischen in Berlin lebt. Er war von sudetendeutschem Adel, und nach der Maturafeier übernachtete er bei meiner Frau und mir. In der Früh beim Frühstück sagte ich:

‚Weißt du, ich war ja nie in die Klasse integriert, weil ich in Mauer gewohnt hab und alle anderen Kinder im 1. und 3. Bezirk.’ Und er sagte:

‚Das kann doch nicht dein Ernst sein!’

‚Na sicher, wieso nicht?’

‚Lebst du hinterm Mond?’ Und dann erzählte er, dass alle wussten, dass ich ein jüdisches Kind war, und die anderen Kinder waren zum Beispiel Kinder eines Nazianwaltes, eines Ariseurs usw. ‚Deswegen hast du nie dazugehört!’

Es dauerte also 25 Jahre, bis ich drauf kam, warum ich nicht dazugehörte. Das war ein perfekter Verdrängungsmechanismus! Der Antisemitismus, den ich von meinen Mitschülern erlebte, war in Österreich zu dieser Zeit völlig normal, und ich glaube, er hat nie aufgehört, obwohl meine Kinder behaupten, dass sie in der Schule keine antisemitischen Erfahrungen gemacht haben.

Als ich 12 Jahre alt war, kam mein mütterlicher Großvater aus London zu Besuch nach Österreich, verbrachte den Sommer mit uns auf einem Bauernhof in Tirol und fragte mich:

‚Kannst du dir vorstellen, eine Nichtjüdin zu heiraten?’ Ich sagte: ‚Selbstverständlich, es sind doch alle Menschen gleich, ich mache keinen Unterschied.’

Und da sagte er: ‚Dort in der Bücherstellage sind Gedichte von Heine, gib sie mir!’

Ich brachte sie ihm und er suchte das Gedicht von der Donna Klara heraus, die mit dem Heiß geliebten Ritter zusammen ist, und sie sagt ständig etwas über die gottverdammten Juden und darauf sagt er nach der gemeinsamen Liebesnacht zu ihr: ‚Ich, Sennora, Eur Geliebter, bin der Sohn des vielgelobten, großen, schriftgelehrten Rabbi Israel von Saragossa.’

Mein Großvater sagte: ‚Wenn du eine Nichtjüdin heiratest, wird immer dieses Thema aufkommen. Wenn man streitet, wirst du plötzlich der Jude sein!’ Ich hielt das für Unsinn, aber ich liebte den Großvater sehr, also widersprach ich ihm nicht, und als ich älter war, verstand ich sehr genau, was er gesagt hatte.

Meine Frau lernte ich als 14jähriger auf einer Geburtstagspartie kennen. Damals waren meine Freunde größtenteils jüdische Kommunistenkinder, die vielleicht nicht mehr Kommunisten und noch nicht wieder Juden waren. Franzi war gerade 12 Jahre alt, die Nichte von Ernst Fischer, der ja bis 1951 ein Freund der Familie war, und sie verehrte mich sofort. Wir fuhren nach unserer ersten Begegnung auf einen Schikurs zusammen, sahen uns dann aber eher zufällig höchstens einmal im Jahr.

Nach der Matura begann ich, auf ausdrücklichen Wunsch meiner Eltern, Welthandel zu studieren. Mein Wunsch war es aber immer schon, Medizin zu studieren. Mein Bruder beschloss kurz vor der Matura, dass er Medizin studieren will, und die Eltern wollten, dass einer von uns Brüdern dem Vater im Betrieb helfen müsse. So wurde ich massiv unter Druck gesetzt. Ich begann mit dem Welthandelsstudium und inskribierte auch Russisch, denn ich hatte große Freude daran, Sprachen zu lernen. Nach ungefähr einem Monat gab es eine Auseinandersetzung mit den Eltern und ich sagte zu meinem Vater, er solle mich in Ruhe lassen, nachdem ich schon ihm zuliebe Welthandel studiere. Daraufhin sagte er, wenn mich das wirklich nicht interessiere, müsse ich mich nicht opfern. Am nächsten Tag inskribierte ich an der medizinischen Fakultät. Mein Bruder hatte dann doch keine sehr große Freude an der Medizin und ging in den väterlichen Betrieb; so war die Welt wieder in Ordnung. Am Anfang meines Medizinstudiums begegnete mir Susanne Fischer, die ältere Schwester meiner Frau, die ich schon kannte und die auch Medizin studierte. Ich bat sie, mir jemanden zu nennen, mit dem ich weiter Russisch lernen könne, und sie bot mir an, bei ihr Unterricht zu nehmen. So kam ich dann in das Haus Fischer - als Schüler der Susi. Bald begann ich mich für die jüngere Schwester Franzi zu interessieren. Franzi fuhr im Alter von 22 Jahren nach London, ich fuhr auch nach London, erkundigte mich vorher nach ihrer Adresse und besuchte sie dort. Es wurde Liebe daraus. Ein Jahr später, 1963, heirateten wir in Wien.

Meine Frau, Franziska Fischer, ist die Tochter von Otto Fischer und Dr. Philippine Fischer. Beide kamen aus Graz. Philippine oder Phini, wie sie genannt wurde, kam aus einer gutbürgerlichen jüdischen Familie und Otto Fischer - nicht jüdisch - war der Sohn einer monarchistischen Offiziersfamilie mit drei Söhnen, die alle drei nach Zusammenbruch der Monarchie Sozialdemokraten geworden waren. Otto war an der Marineakademie in Pula [heute Kroatien] und im 1. Weltkrieg an den Wolfgangsee übersiedelt. Als er 1918 als Seekadett ausgemustert wurde, war die Monarchie zu Ende, und er hatte weder einen Beruf noch sonst irgendetwas. Sein Vater war schon tot, und er begann Technik zu studieren. Alle drei Brüder lebten bei der Mutter Agnes Fischer, geborene Planner von Wildinghof, in Graz. Sie war von Offiziersadel, am Offizierstöchterinstitut in Hernals erzogen und in Graz aufgewachsen. Philippine Fischers Mutter Regine Bendiner, geborene Singer, war bereits in jungen Jahren Besitzerin einer Geflügelgroßhandlung in Graz. Nach der Heirat mit Josef Bendiner verkaufte sie auf Wunsch ihres Gatten ihr Geschäft und arbeitete mit ihm zusammen in seiner Landesproduktengroßhandlung. In der Mittelschul- und Studentenzeit kam Philippine schon zur sozialdemokratischen Bewegung. Sie studierte Jus und lernte sehr bald den Sozialdemokraten Otto Fischer kennen. Sie war lange mit ihm liiert, bis sie 1933 heirateten. Mein Schwiegervater Otto Fischer war in Graz in den Bürgerkrieg 21 involviert, wurde angeschossen, kam ins Spital und die Ärzte mussten ihm ein Bein amputieren. Er wurde durch den Ständestaat zum Tode verurteilt, aber der Chirurg und Leiter des Krankenhauses erklärte, dass von seinem Spital keine Patienten verhaftet werden und außerdem erklärte er, dass Otto Fischer zu krank sei, um zum Tode verurteilt zu werden. Er wurde dann nach Hause entlassen und von seinem Schwager in einer Nacht und Nebel Aktion über die Grenze in die Tschechoslowakei, nach Prag, gebracht, wo er mit einer Prothese versorgt wurde, und, wie viele Schutzbündler 22, die geflohen waren, nach Moskau eingeladen. So emigrierten meine Schwiegereltern Otto und Philippine Fischer 1934 von Prag nach Moskau. In Moskau wurden 1937 Susanne Rosa und 1940 Franziska geboren. Die jüdische Großmutter Regine Bendiner floh 1939 aus Graz auf abenteuerliche Weise mit einem Durchreisevisum nach England, mit einem Schiff nach Leningrad und von Leningrad mit dem Zug nach Moskau zu ihrer Tochter, ihrem Schwiegersohn und der ersten Enkeltochter. Das alles ohne ein Wort Russisch zu sprechen. Als meine Frau das Licht der Welt erblickte, war die Großmutter bereits da, die das strikte Verbot meiner Schwiegereltern einhielt, vor den Kindern über Religion zu sprechen. Andererseits lief mein nichtjüdischer Schwiegervater erfolgreich quer durch Moskau, um für sie Schabbesleuchter aufzutreiben, damit sie am Schabbat Kerzen anzünden kann. Meine Frau wusste als Kind, die Großmutter liest am Samstag komische Bücher, das war natürlich ein Gebetbuch, die Großmutter bäckt jedes Wochenende Mohnstriezeln, warum weiß man nicht, und sie zündet Kerzen an; so sind halt Großmütter. Im Jahre 1941, als die Deutschen die Sowjetunion überfielen, wurden die Frauen und Kinder der Familie an den Ural evakuiert. Der Vater arbeitete im historischen Institut in Moskau und 1941 wurde das Institut nach Taschkent in Usbekistan evakuiert. Otto Fischer kam 1945 zusammen mit seinen Brüdern Ernst und Walter, alle waren in die Sowjetunion emigriert und Kommunisten geworden, nach Wien zurück. Meine Schwiegermutter mit den beiden Töchtern und der Großmutter kamen Ende 1946 über Wien nach Graz in das elterliche Haus, das arisiert worden war und zurückgestellt wurde.

Zuerst versuchte meine Schwiegermutter, den elterlichen Großhandelsbetrieb wieder zum Leben zu erwecken, sah dann aber keine Zukunft darin, und so wurde der Betrieb wieder ruhen gelassen. Die Familie übersiedelte 1951 nach Wien, meine Frau war zu dieser Zeit elf Jahre alt, und meine Schwiegermutter nahm eine Konzipiententätigkeit auf. Im Alter von 50 Jahren absolvierte sie ihre Anwaltsprüfung, gründete eine Kanzlei, mit der sie die Familie erhielt, denn der Vater als Politiker verdiente wenig. Sie war als Anwältin hauptsächlich mit Pensionsfragen und Wiedergutmachungszahlungen für Juden beschäftigt, also auch von Juden umgeben. In fortgeschrittenem Alter kam sie mit uns zu Jom Kippur in die Synagoge, aber sie betonte immer: ,Nur euch zu Liebe!’ Die meisten Geschwister meiner Schwiegermutter, nur eine Schwester, die in Prag lebte, lebte konfessionslos, führten in Südamerika, wohin sie emigriert waren, sehr wohl ein jüdisches Leben. Als meine Frau 19jährig für drei Monate ihre Onkel und Tanten in Buenos Aires besuchte, erlebte sie das erste Mal in ihrem Leben praktizierende jüdische Familien.

Unsere Tochter Eva Johanna wurde am 21. Februar 1968 geboren und unser Sohn Stefan Jakob am 22. Januar 1970. Unsere Kinder waren in der Volksschule außerordentliche Hörer im katholischen Religionsunterricht, weil meine Frau und ich der Meinung waren, der Großteil der Kinder in der Klasse geht in den Religionsunterricht, sollen sie auch gehen. Wir waren außerdem der Meinung, die Kinder sollen wissen, dass die Menschen verschieden leben und dass es Christen, Moslems und Juden gibt. Wenn wir im Sommer mit ihnen in Jugoslawien Urlaub machten, besichtigten wir zum Beispiel auch eine Moschee. Wir waren zu Chanukkafeiern 23 mit den Kindern in Wien in der Synagoge, auch mit den Kindern meines Bruders. Ich hatte in den ersten zwei Gymnasiumsklassen am evangelischen Religionsunterricht teilgenommen, weil meine Eltern fanden, man soll wissen, woran ein Großteil der Bevölkerung glaubt. Die Lehrerin meiner Kinder fragte mich aber wiederholt, wann ich denn vorhätte, die Kinder taufen zu lassen. Und ich sagte ihr, dass ich das keineswegs vorhabe und sicher nie tun werde. Irgendwann bekamen sie die Aufgabe, über ‚Unser größtes Fest: Ostern’ zu schreiben. Meine Tochter schrieb in ihr Heft: Unser größtes Fest heißt Pessach 24 und das größte Fest der Christen heißt Ostern. Also scheinen wir sie doch nicht so wertfrei erzogen zu haben, wie wir uns das eingebildet hatten.

Mein Bruder, Kaufmann von Beruf, genauso areligiös wie ich aufgewachsen, wurde ein ebenso bewusster Jude wie ich und beschloss irgendwann, eine jüdische Frau zu finden. Er fand eine, verliebte sich, und deren mütterliche Großmutter sagte zu ihm sinngemäß: ‚Wenn du nicht in der Synagoge heiratest, werde ich den Kontakt zu euch abbrechen und meine Enkelin nicht mehr sehen!’ Und so trat mein Bruder lange vor mir in die Kultusgemeinde ein, um seine Frau zu heiraten. Seine Kinder wurden von Geburt an jüdisch erzogen. Mein Vater lud den Rabbiner nach Hause ein, um sich mit ihm zu unterhalten, und dann fragte ihn der Rabbiner, ob er und meine Mutter nicht auch der Kultusgemeinde beitreten wollten, aber das lehnte mein Vater entschieden ab. Er sagte: ‚Was meine Kinder machen ist ihre Sache, ich akzeptiere es und kann es durchaus gutheißen, aber das hat mit mir nichts zu tun.’

Die Frau meines Bruders, Dalia Charlotte Semenowsky, wurde am 19. Oktober 1944 in Jerusalem geboren. Sie bekamen zwei Söhne und eine Tochter, die in Wien geboren wurden: Alexander Marc Smolka, 1965 geboren und selber Vater von vier Kindern, Tevya Peter, 1991 geboren, Aviel Max, 1993 geboren, Michaela Fanny, 1996 geboren und Johanna Miriam, 1997 geboren. Felix Albert Smolka wurde 1967 geboren und hat zwei Kinder: Rebekka Lotty, 2001 geboren und Jona Ernst Smolka, 2003 geboren und Ruth Merle, 1971 geboren, die mit dem Israeli Hadar Porat verheiratet ist, erwartet Anfang 2005 Zwillinge. Ruth und ihr Mann leben seit dem Sommer 2003 in Tel Aviv. Außer Ruth und ihrem Mann leben alle in den USA.

Eva war ungefähr zehn Jahre alt, als der vierteilige amerikanische Fernsehfilm ‚Holocaust’ gesendet wurde. Sie wollte sich den Film ansehen und nach dem ersten Teil sagte sie: ‚So etwas könnte uns doch jederzeit wieder passieren!’ Wir erschraken sehr, weil wir genau das gemacht hatten, was wir unseren Eltern vorgeworfen hatten: Zugehörigkeit zum Judentum war nichts Positives für unsere Kinder, es war nur negativ und hatte Verfolgung zur Folge. Ich arbeitete im Spital und eines Tages kam ich mit einem Medizinstudenten, den ich mit ausbildete, ins Gespräch. Vom ersten Tag an hatte ich gewusst, dass er Jude. Als ich ihn fragte, sagte er: ‚Ja, du auch?’ Ich antwortete: ‚Sicher bin ich Jude, aber ich bin nicht Mitglied in der Gemeinde.’ Er fragte mich, warum ich nicht Gemeindemitglied sei. Und ich erklärte, wie das kam, dass meine Eltern auch in unserem Namen ausgetreten waren und dass ich mit Religion nichts zu tun habe. Und da sagte er zu mir: ‚Du bist Jude, und du tust dir nichts Gutes, wenn du nicht dazu gehörst!’

Es waren mehrere Ereignisse, auch der Antisemitismus, den ich aber direkt nicht zu spüren bekam, dass meine Frau und ich beschlossen, dass es falsch sei, nicht dazuzugehören, nicht Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu sein. Ich sprach mit dem Rabbiner und er sagte, es sei kein Problem, da ich von jüdischen Eltern und meine Frau von einer jüdischen Mutter abstammen. Eines versprach ich dem Rabbiner: Wir werden lernen!

Wir wurden Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, begannen, in die Synagoge zu gehen und lernten gemeinsam mit unseren Kindern zehn Jahre lang jede Woche einmal die jüdische Religion. Unser Lehrer Mendi Moshkovitz kam jeden Mittwoch um sieben Uhr abends, um halb neun gingen die Kinder schlafen, und wir saßen mit ihm bis Mitternacht und sprachen im wahrsten Sinne über Gott und die Welt. Er wurde ein wirklicher Freund der Familie, auch der Kinder.

Mein Vater starb am 4. November 1980, im Alter von 68 Jahren, in Wien. Meine Frau und ich waren Mitglieder der Kultusgemeinde, unsere Kinder auch, und irgendwann sagte meine Mutter:

‚Es ist doch idiotisch, ihr seid alle in die Kultusgemeinde eingetreten, ich bin jüdisch geboren und jüdisch aufgewachsen, ich will auch wieder eintreten.’ Ich sprach mit dem Rabbiner und natürlich gab es keinen Grund, warum meine Mutter nicht Mitglied der Kultusgemeinde werden sollte. Also gingen wir gemeinsam ins Matrikelamt und sagten, meine Mutter möchte in die Kultusgemeinde eintreten, sie hat einen jüdischen Geburtsschein, und wir haben alles dabei. Die Beamtin, ein relativ junges Mädchen sagte: ‚Nein, das geht leider nicht.’

‚Warum soll das nicht gehen? Ich hab schon mit dem Rabbiner gesprochen, er weiß davon und hat Ihnen Mitteilung gemacht.’ Ich war entsetzt! Aber sie sagte: ‚Nein, es geht auf gar keinen Fall - heute. Ich hab mir in der Früh beim Frühstück den Finger verletzt und kann nicht mit der Schreibmaschine schreiben.’ Daraufhin durfte ich die Schreibmaschinenarbeit übernehmen und nahm somit meine Mutter in die Kultusgemeinde auf.

Meine Mutter ging dann wieder zu den Hohen Feiertagen 25 in die Synagoge. In den 1980er-Jahren arbeitete sie im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes 26.

Zu meinem 50. Geburtstag schrieb mir meine Mutter folgenden Brief:

Timmy, „Mein Kleiner“, Du wirst Fünfzig. Und dies erfüllt mich mit großer Freude. Denn zur Zeit Deiner Geburt schien es zweifelhaft, ob wir alle lange würden überleben können.
Du und Deine Existenz bedeuten für mich einen wahren Triumph über die schreckliche Phase der Geschichte, die uns, und alles was uns lieb war, zu verschlingen drohte.
Und Du hast mir wirklich alles sehr leicht gemacht. Die Schwangerschaft war ein Vergnügen und ebenso die Entbindung. Ich glaube, Du kennst den Hergang. Nachdem ich für die Eltern Mittag gekocht hatte und wir gegessen hatten, fand ich, genug sei genug, rief ein Taxi und landete fünf Minuten später mit Koffer und Dorli im Tower-House Nursing-Home. Ohne Wehen allerdings. Ich wurde ins Bett befohlen und eine halbe Stunde später warst Du auch drin. Manfred kam gerade zurecht, um Dich zu begrüssen. Und etwas später schien Peter auf mit Walter Reif, um mich zu besuchen und waren bass erstaunt, schon zwei vorzufinden.
A propos leicht: ich habe Dir vielleicht niemals deutlich genug gesagt, wie dankbar ich Dir bin für Deine selbstverständliche und aktive Hilfe, um mir ein neues Heim zu schaffen, nachdem ich meine Basis verloren hatte. Aber zurück zum Wesentlichen, nämlich Dir: Du gediehst herrlich. Aber nach einigen Monaten war unser Frieden dahin. Ich ging mit Euch aufs Land zu Kuhns, es folgte ein Hin-und Her für Euch und, schließlich nach dem Fall Frankreichs Eure „Verschickung nach Amerika“, um wenigstens Euch in Sicherheit zu bringen. Dies ist auch der Grund, warum es so relativ wenige Fotos von Dir gibt. Das Leben in jener Zeit, auch nach Eurer Rückkehr, war einfach zu schwierig in jeder Beziehung - Kamera hatten wir auch keine.
Doch Du hast es geschafft, einen Beruf zu ergreifen, der Dir Freude macht und für den Du offensichtlich sehr geeignet bist; nicht ohne Grund sind Deine Patienten voll des Lobes und der Bewunderung für Dich. Und auch sonst, glaube ich, hast Du Dein Leben gemeistert mit Franzis Hilfe, trotz aller Schwierigkeiten und Spannungen, die auch Peters Krankheit mit sich brachten.
Für alles, was ich falsch gemacht habe und was Deine Entwicklung behindert hat, bitte ich Dich, mir zu verzeihen: ich habe es nicht besser gewusst. Denn ich wollte immer nur das Beste für Dich und Dir alles nur Erdenkliche ermöglichen.
Und nun, mein geliebter Sohn, hoffe und wünsche ich Dir: Möge die zweite Hälfte Deines Lebens Dir Glück, Ruhe und Zufriedenheit bringen und viel Freude an und mit den Kindern.

In Liebe,
Deine Mutter.

Meine Mutter starb am 20. Februar 2000 in Wien.

Meine Kinder gingen in den Schomer Hatzair 27 und hatten zu Hause und außer Haus ein jüdisches Leben. Nach der Matura ging unsere Tochter, zunächst für ein Jahr, nach Israel. Sie besuchte an der Hebräischen Universität in Jerusalem einen Mechina-Kurs [Kurse für Neueinwanderer, die auf ein Studium an der regulären Uni vorbereitet werden]. Dann kam sie für zwei Jahre nach Wien zurück, studierte in Wien etwas lustlos Psychologie, und lernte anlässlich einer Reise des Schomer Hatzair nach Auschwitz 28 einen israelischen Burschen aus einem Kibbutz 29 kennen und lieben und ging wieder nach Israel. Dieser Kibbutz war der einzige Schweinefleischproduzent in Israel. Und was tat Gott? Die nächste Beziehung meiner Tochter war ein sehr lieber Bub, der koscher 30 war. Daraufhin führte unsere Tochter einen koscheren Haushalt. Diese Beziehung hielt auch nicht ewig, sie machte ihren BA in Psychologie in Bar Ilan [Israel], ihren MA in Haifa [Israel] und irgendwann, es waren ungefähr elf Jahre vergangen, sagte sie, dass sie sich zu europäisch fühle, um mit den Aggressionen im Alltag in Israel auf die Dauer fertig zu werden. Sie ging nach Deutschland an die Universität in Marburg, weil die gerade dort das Thema behandelten, dass sie fasziniert: Linguistik im Zusammenhang mit Psychologie. Seither arbeitet sie an der Universität in Marburg, wohnt in Frankfurt und wird wahrscheinlich nicht mehr nach Israel zurückgehen. Nach ihrem Doktorat möchte sie, wenn es ihr gelingt, an eine amerikanische Universität gehen. Wien ist ihr zu eng geworden, sie kommt uns besuchen, aber sie will nicht mehr hier leben.

Mein Sohn war drei Jahre an der Hotelfachschule in Krems, machte sein Praktikum in verschiedenen Hotels und besuchte danach einen Aufbaulehrgang in der Gastgewerbeschule am Judenplatz, den er mit der Matura abschloss. Er arbeitete dann bei Austria Hotels International und seit drei Jahren in einem Austria-Trend-Hotel als Direktionsassistent und Food and Beverage-Manager. Er ist verheiratet, seine Frau erwartet demnächst ihr erstes Kind [Daniel Peter Smolka wurde am 30. November 2004 in Wien geboren].

Vor 15 Jahren arbeitete meine Tochter während des Studiums im jüdischen pädagogischen Institut in Wien. Das jüdische pädagogische Zentrum wurde von Israel gegründet, um jüdische Kultur in der ganzen Welt publik zu machen und die Vorstellung war, dass diese Zentren maximal fünf Jahre von Israel erhalten werden und dann so weit sind, dass sie sich selbst erhalten können. Es gab Sprachkurse, meine Frau und ich lernten dort Hebräisch. Eines Tages kamen wir von einem Urlaub zurück und Eva sagte, sie hätten überlegt, in welche Richtung das Institut noch etwas tun könnte, was wenig kostet und sie hätten einen Chor gegründet. Musikalischer Leiter sei Lev Vernik, der Dirigent des Tempelchors. ‚Und da ihr gerne singt’, sagte unsere Tochter, ‚habe ich euch schon eingeschrieben.’ So kamen wir zum Wiener Jüdischen Chor. Der Chor bestand damals mit uns zusammen aus acht Mitgliedern. Es waren außer uns, glaube ich, noch zwei Juden dabei. Die anderen waren Nichtjuden. Der Chor wuchs schnell auf ungefähr 30 Personen. Wir probten in den Räumen des pädagogischen Zentrums, aber eines Tages wurde es geschlossen, denn es hatte es nicht geschafft, sich finanziell zu erhalten. So standen wir, der Dirigent und etwa 30 Chormitglieder, vor einer Probe auf der Straße. Wir waren 30 Leute, die singen wollten, und hatten einen Dirigenten, der dirigieren wollte. Meine Frau und ich beschlossen, die Chorproben vorläufig in unserer Wohnung zu veranstalten, und ich glaubte, innerhalb von zwei, drei Wochen ein Lokal für den Chor finden zu können. Aber das gelang mir nicht. Jemand sagte, wir könnten bei der Misrachi 31 proben, die hätten ein Klavier und auch einen Raum. Aber dann sind sie drauf gekommen, dass nur maximal 50 Prozent der Mitglieder Juden sind, und so gaben sie uns den Raum nicht. Also räumten wir ein Jahr lang jeden Dienstag unser Esszimmer aus, und der Chor konnte weiter proben. Da wir den Dirigenten bezahlen mussten, kam meiner Frau die Idee, dass wir ein Konzert geben könnten. Sie ging zum Direktor des Theater Akzent und sagte: ‚Ich miete den Saal für einen Abend, und ich möchte einen günstigen Preis dafür.’ Damit war er einverstanden. Das Theater Akzent hat 440 Plätze, ich glaube, wir verkauften 460 Karten - es mussten noch Sesseln hineingestellt werden. Ich weiß nicht, wie wir das geschafft haben! Alle Chormitglieder verkauften Karten. Wir haben über alle Leute, die wir kannten, über den Betriebsrat in dem Spital, indem ich arbeitete, über den Arbeitsplatz meiner Frau, Werbung für das Konzert gemacht und die Karten verkauft. Den Großteil der Einkünfte bekam das jüdische Elternheim, dann bezahlten wir den Dirigenten und behielten etwas Geld, um den Dirigenten weiterhin bezahlen zu können. Wir gründeten einen gemeinnützigen Verein, und ich wurde Obmann. Das bin ich nun seit vierzehn Jahren. Mit 57 Jahren nahm ich meine erste Gesangsstunde, und das alles wurde eine große Bereicherung unseres Lebens. Wir haben inzwischen den vierten Dirigenten, wir geben regelmäßig Konzerte, die fast immer ausverkauft sind. Vor sechs Jahren waren wir in Israel zu einem internationalen Chorfestival. Finanziert wurden wir durch Sponsoren, das Unterrichtsministerium und das Wissenschaftsministerium. Auch Israel trug dazu bei. Wir wurden ein sehr guter Chor, und ich habe sehr viel Freude damit. Der jetzige Dirigent Roman Grinberg ist so hervorragend als Showman, als Musiker und als Lehrer. Er motiviert die Leute, es ist wirklich eine Freude!

Es gab nie eine Zeit, in der ich glaubte, nicht mehr in Österreich leben zu können. Ich habe genug jüdische Freunde, die genauso wie ich mit der Rechtslastigkeit der Regierung hier in Österreich keine Freude haben, aber man bewegt sich im Alltag wahrscheinlich auf einer Insel, wenn es gut geht, von hundert Personen, mit denen man sich umgibt und mit denen ich mich sehr gut verstehe. Ich fühle mich und die Juden in Österreich in keiner Weise bedroht. Natürlich nehme ich zur Kenntnis, dass es in Frankreich offenen Antisemitismus gibt. Und ich weiß, dass der deutsche Staat wesentlich mehr für die Juden tut als der österreichische Staat. Juden, hauptsächlich aus der ehemaligen Sowjetunion, werden in deutsche Gemeinden integriert, und die Gemeinden bekommen viel Geld dafür. Das gibt es in Österreich nicht.

Ich glaube auch, dass es in Amerika oder in England viel einfacher ist, sich in einer rein jüdischen Umgebung zu bewegen und so zu tun, als gäbe es keinen Antisemitismus. Es gibt ihn selbstverständlich, aber die jüdischen Gesellschaften an einer Universität, an einer Schule oder im Geschäftsleben sind so groß, dass man wahrscheinlich wenig berührt wird davon und es einem gelingt, sich nur mit Juden zu umgeben. Ich glaube auch, dass Antisemitismus nicht isoliert vorkommt - Antijuden, Antiausländer, Antischwarze, Antifrauen, Antischwule - das geht alles, glaube ich, Hand in Hand. Ich glaube aber nicht, dass Österreich dadurch ausgezeichnet ist. Es ist vielleicht ordinärer als in anderen Ländern. In Amerika und in England gibt es Gesellschaften, wo Juden nicht erwünscht sind. Man wird es ihnen höflicher mitteilen, als man das in Österreich vielleicht tun würde, aber so etwas gibt es hier nicht. Und es wurden meines Wissens in Österreich noch keine türkischen Asyle angezündet, was in Deutschland der Fall war. Ich arbeitete in Wien in einem Spital, in dem es eine Reihe von jüdischen Ärzten gibt. Keiner von ihnen hatte das Gefühl, das er in irgendeiner Weise diskriminiert wird. Ich bekam ohne Probleme und ganz selbstverständlich zu Jom Kippur frei. Für Rosch Haschana 32 wollte ich mir einen Urlaubstag nehmen, aber die Sekretärin des ärztlichen Direktors sagte: ‚Das ist für euch ein wichtiger Tag, Sie brauchen keinen Urlaubstag. Es gibt einen zweiten Tag, für den würde ich bitten, dass sie einen Urlaubstag nehmen, wenn sie freihaben möchten.’ Sie ist keine Jüdin. Natürlich würde man mir als Primar-Arzt keine Probleme machen, aber ich weiß auch von den Kollegen, ob das Turnusärzte waren, ob das Oberärzte waren, dass sie keine Probleme damit hatten. Vielleicht aber ist das in einem Tiroler Spital anders, als in einem sozialdemokratischen Spital der Gebietskrankenkasse. Das weiß ich nicht! Es gibt an der Wiener medizinischen Fakultät seit einigen Jahren, erstmals in der Geschichte, drei jüdische Ordinarien. Das hat es noch nie gegeben, auch in den großen Tagen der Wiener medizinischen Schule hat es ein praktizierender Jude nur bis zur Nummer zwei gebracht. Diejenigen, die Ordinarii wurden, mussten getauft sein. Ausnahme war vielleicht Tandler 33, der als Anatom in einem theoretischen Fach arbeitete. Aber auch Hoff, ein sehr bedeutender Neurologe und Psychiater, musste getauft sein, um in Wien Professor zu werden.

Es gab Zeiten, in denen ich Österreich für kurze Zeit verlassen musste, um mich in Israel zu erholen. Aber ich möchte dort nicht leben. Es ist nicht mein Land, denn mit der Mentalität der Israelis kann ich in keiner Weise umgehen. Die Aggressivität im Alltag in Israel gefällt mir nicht. Man muss immer kämpfen, ob das am Bankschalter, an der Kassa im Supermarkt oder im Straßenverkehr ist. Es gibt eine Respektlosigkeit der Menschen untereinander, und das würde mir das Leben dort nicht zur Freude gereichen lassen.

Im Herzen bin ich noch immer ein Linker, sicher ein heimatloser Linker, aber darum gefällt mir manches an der israelischen Politik nicht. Auf der anderen Seite sehe ich aber, dass es Begin 34 von einer rechten Partei gelungen ist, Frieden mit Ägypten zu machen, dass Sharon 35 sich anscheinend bemüht, eine friedliche Lösung mit den Palästinensern herbeizuführen und die linken Regierungen mit allen ihrem Idealismus es eigentlich keinen Schritt weiter gebracht haben. Das ist ein Dilemma in mir!

Noch eine zweischneidige Sache: Ich besitze eine Wohnung in Israel, und das ist ein sehr schönes Gefühl. Also muss ich doch irgendwo im Hinterkopf mit dem Gedanken leben, dass ich immer dort hingehen kann und mir das Sicherheit vermittelt.

Zusätzliche Personendaten

Bauer, Valerie [geb. Smolka, gesch. Schik]: Wien, 1.10.1902 - Wien, 29.4.1943

Chattey, Maria [geb. Smolka]: Brasilien, 30.6.1922

Ceska, Elisabeth [geb. Smolka]: Wien, 1905 - Wien, 2001

Glaser, Olga [geb. Smolka]: Caslau,  23. 4.1871 - Vernichtungslager Treblinka, 1942

Gutfreund, Eva [geb. Schik]: Wien, 1927

Gutfreund, Ilse: Wien, 1953

Halle, Vlasta [geb. Smolka]: Brasilien, 30.6.1922

Klein, Margarete [geb. Smolka]: Wien, 1907 - Wien, 1994

Smail, Frank [geb. Smolka, Rudolf]: Wien, ? - London?

Smolka, Anton:  Caslau, 11.6.1873 - Baden, 1923

Smolka, Auguste: ? - Wien, 1984

Smolka, Berta [geb. Schumann]: Wien, 11.5.1899 - Wien, 21.10.1992

Smolka, Bohumil [Gottlieb]: Caslau, 2.8.1880 - KZ Auschwitz, 1943

Smolka, Elise [geb. Feichtmaier]: München, 13.12.1878 - Wien, 3.7.1959

Smolka, Flora [geb. Zimmermann]: 1884 - Wien, 30.4.1917

Smolka, Franz [später Francisco]: Caslau, 6.12.1877 - Brasilien, 15.11.1956

Smolka, Friederike: 8.11.1874 -1 2.12.1874

Smolka, Fritz [später Frederico]: Wien, 15.11.1906 - Brasilien, 23.7.1969

Smolka, Fritz: Pardubice, 1920ger - Israel, Kibbutz 

Smolka, Hannah: Wien, 1932?

Smolka, Hans [später: Joao Jorge]: Wien, 5.3.1910 - Brasilien, 29.11.1975

Smolka, Hans: Wien, 21.4.1919 - KZ Auschwitz, 1944

Smolka, Heini: Pardubice, 5.2.1911 - KZ Auschwitz, 1943

Smolka, Heinz: Wien, 22.10.1919

Smolka, Henriette: Wien, 17.1.1904 - Wien, 16.11.1919

Smolka, Johanna [geb. Offer]: 1847 - 14.1.1916

Smolka, Karl: Caslau, 20.12.1882 - Prag, 1960

Smolka, Kurt: Wien, 5.5.1920 - Wien, 13.11.2002

Hermann, Margit [geb. Smolka]: ?

Smolka, Louise [geb. Lichtenstein] : 28.9.1875 - Baden, 1938

Smolka, Maximilian : Caslau, 7.12.1876 - KZ Auschwitz, 24.11.1942

Smolka, Maria [geb. Malina]: Baden bei Wien, 1895 - Brasilien, 4.11.1976

Smolka, Olga [geb. Kohn]: ? - KZ Auschwitz, 1943

Smolka, Otto: 27.12.1872 - 7.8.1928

Smolka, Peter [Pedro]: Brasilien, 25.10.1929 - 1952

Hernes

Hernes, Naftali: 1874-Wien, - Wien, 4.12. 1941

Glossar

1 Schabbat [hebr

: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche. Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen.

Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

2 Theresienstadt [Terezin]

Ende des 18. Jahrhunderts gegründete Garnisonsstadt in der heutigen Tschechischen Republik, die während der Zeit des Nationalsozialismus zum Ghetto umfunktioniert wurde. In Theresienstadt waren 140.000 Juden interniert, die meisten aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, aber auch aus Mittel- und Westeuropa. Nur etwa 19,000 der Menschen, die in Theresienstadt waren, überlebten.

3 Treblinka (Vernichtungslager)

Das Lager befand sich östlich von Warschau war das zuletzt errichtete und größte nationalsozialistische Vernichtungslager im besetzten Polen. Von Juli 1942 bis August 1943 beträgt die niedrig geschätzte Gesamtzahl der Opfer in Treblinka deutlich über 1 Millionen Menschen aus ganz Europa.

4 Kibbutz [Pl

: Kibbutzim]: landwirtschaftliche Kollektivsiedlung in Palästina, bzw. Israel, die auf genossenschaftlichem Eigentum und gemeinschaftlicher Arbeit beruht.

5 Kaiserin Maria Theresia von Österreich, Erzherzogin (1717 - 1780), österreichische Fürstin aus dem Hause Habsburgs

Sie war die Ehefrau des römisch-deutschen Kaisers Franz I Stephan und Mitregentin ihres Sohnes, Kaiser Joseph II. Maria Theresia war eine der größten Herrscher- Persönlichkeiten Europas und die einzige Frau, die jemals an der Spitze des Hauses Habsburg stand. Obwohl sie selbst keine gekrönte Kaiserin war, sondern nur den Titel ihres 1745 gekrönten Gatten trug, leitete sie die Regierungsgeschäfte allein mit Entschlusskraft, klarem Verstand und Menschenkenntnis.

6 Schadchen

jidd.: Heiratsvermittler, Brautwerber

7 Jom Kippur

der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum. Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.

8 Pressburger Bahn

Sie wurde von 1911-1914 erbaut und war eine elektrische Straßenbahn, die  vom Vorplatz des damaligen Bahnhofs Hauptzollamt [heute Wien-Mitte] entlang dem Donaukanal bis Groß-Schwechat; und von dort am rechten Donauufer entlang und dann bis ins Zentrum von Pressburg [Bratislava, Slowakische Republik] fuhr.

9 Paneuropabewegung

1923 gründete R. N. Coudenhove-Kalergi in Wien die Paneuropabewegung mit dem Ziel der Vereinigung der Staaten Europas.

10 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus [1894 - 1972] gründete 1923 in Wien die Paneuropa-Bewegung und gab ab 1924 eine gleichnamige Zeitschrift heraus

Coudenhove-Kalergi emigrierte 1938 in die Schweiz, dann in die USA. 1940 Professor in New York; 1923-72 Präsident der Paneuropa-Union, ab 1947 Generalsekretär der Europäischen Parlamentarier-Union.                       

11 Seipel, Ignaz [1876 - 1932], Theologe, Priester und Politiker

1909-17 Universitätsprofessor für Moraltheologie in Salzburg, Oktober bis November 1918 Minister für soziale Fürsorge, 1919-20 Mitglied der Konstituierenden Nationalversammlung, 1920-32 Abgeordneter zum Nationalrat, 1921-29 Obmann der Christlichsozialen Partei, 1922-24 (am 1. 6. 1924 durch ein Attentat schwer verletzt) und 1926-29 Bundeskanzler, 1930 Außenminister; 1931 schlug er der SDAP ein Koalitionsabkommen vor, das abgelehnt wurde.

12 Remarque, Erich Maria, geboren als Erich Paul Remark [1898 - 1970] Schriftsteller, sein Roman ‚Im Westen nichts Neues’ über den 1

Weltkrieg, der das Tabu vom Heldentod der Soldaten bricht und darin von der ‚verlorenen Generation, die vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam’ spricht, wird 1929 zu einem Welterfolg und löst in Deutschland heftige Diskussionen aus.

13 Kreisky, Bruno [1911-1990]

Österreichischer sozialdemokratischer Politiker, Bundeskanzler der Republik Österreich von 1970-1983. Stammt aus einer jüdischen Familie, wurde zu einem der bekanntesten und bedeutendsten Politiker Österreichs und der Sozialdemokratie. Unter Kreiskys Kanzlerschaft wurden das Sozial- und das Rechtssystem sowie das Hochschulwesen grundlegend reformiert. Außenpolitisch geschätzt; startete er einige Initiativen im Nahostkonflikt. Kreisky versuchte zwischen Israel und den arabischen Staaten zu vermitteln, wurde aber von vielen Juden und Israelis als ‚Verräter‘ betrachtet, weil er die zionistische Lösung für  das ‚jüdische Problem‘ ablehnte, freundliche Beziehungen zu arabischen Staatsführern unterhielt und Österreich 1980 diplomatische Beziehungen mit der PLO aufnahm.

14 Kindertransport

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rief die britische Regierung eine Rettungsaktion ins Leben, um Kinder vor dem Nazi-Terror zu bewahren. Zehntausend größtenteils jüdische Kinder aus deutsch besetzten Gebieten wurden nach Großbritannien gebracht und von britischen Pflegeeltern aufgenommen.

15 Anschluss

Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Schuschnigg am 11. März 1938 besetzten in ganz Österreich binnen kurzem Nationalsozialisten alle wichtigen Ämter. Am 12. März marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Mit dem am 13. März 1938 verlautbarten ‚Verfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich‘ war der ‚Anschluss‘ de facto vollzogen.

16 Fischer, Ernst [1899 – 1972]

österreichischer kommunistischer Politiker, Schriftsteller und Journalist. Nach der Teilnahme am Februaraufstand Emigration in die Tschechoslowakei und nach Rußland; 1945 Rückkehr nach Österreich, Staatssekretär in der ersten österreichischen Regierung  und bis 1959 Mitglied des Nationalrats. Nach Kritik an der Niederschlagung des Prager Frühlings [‚Panzerkommunismus‘] Ausschluss aus der KPÖ.

17 Weigel, Hans [1908 - 1991]

 Österreichischer Schriftsteller und  Theaterkritiker, 1938 bis 1945 Exil in der Schweiz.

18 Stalinistische Prozesse

Im August 1936, fand der erste der drei Moskauer Schauprozesse gegen so genannte KonterrevolutionärInnen statt. Der zweite begann im Januar 1937, und am 13. März 1938 ging der letzte der drei Prozesse zu Ende. Zusammen bildeten die drei Prozesse, deren Hauptangeklagte die engsten Mitarbeiter Lenins aus der Zeit der Oktoberrevolution waren, den zeitlichen und propagandistischen Rahmen für eine beispiellose Welle des staatlichen Terrors. Neben den offiziell Angeklagten, die meist noch in der Nacht der Urteilsverkündung per Genickschuss hingerichtet wurden, starben Hunderttausende nach kleineren, oft geheimen, Prozessen, wurden ohne Urteil erschossen oder gingen in den stalinistischen Lagern dem sicheren Tod entgegen… [Quelle: aus 65 Jahre Moskauer Schauprozesse/ Stalin enthauptet die Revolution].

19 Loebl, Evzen

E. Loebl 1915-1985, tschechoslawakisches Säuberungsopfer, 1949 im Slansky-Prozess verhaftet und verurteilt. Nach seiner Freilassung und Rehabilitierung 1956 übersiedelte er 1968 nach Paris.

20 Ungarnaufstand

Im Ungarischen Volksaufstand versuchten die Ungarn im Oktober 1956, sich von der sowjetischen Unterdrückung zu befreien. Er begann am 23. Oktober 1956 mit einer Großdemonstration in Budapest und endete am 4. November 1956 durch den Einmarsch der Roten Armee.

21 Bürgerkrieg in Österreich [Februarkämpfe 1934]

Die Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen bzw. der Regierung führten im Februar 1934 zum Bürgerkrieg in Österreich. Die Februarkämpfe brachen in Linz aus und breiteten sich nach Wien aus. Der unorganisierte Aufstand forderte mehr als 300 Tote und 700 Verwundete [auf beiden Seiten]. Außerdem führte er zum Verbot der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften sowie die Ausrufung 1934 des Ständestaats.

22 Republikanischer Schutzbund

1923/24 gebildete paramilitärische Organisation; sollte für die Sozialdemokraten ein Ersatz für das von den Christlich-sozialen beherrschte Bundesheer sein und war später das Pendant zur christlich-sozialen Heimwehr; wurde 1933 von der Regierung Dollfuß aufgelöst, blieb aber illegal bestehen. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg wurden viele Mitglieder verhaftet, einige flüchteten in die ČSR und in die Sowjetunion, wo unter Stalin viele umkamen, manche kämpften im Spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden.

23 Chanukka [hebr

: Weihe]: Das achttägige Chanukkafest erinnert an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. Chr. nach dem erfolgreichen Makkabäeraufstand gegen hellenisierte Juden und mazedonische Syrer. Die Makkabäer siegten und führten den jüdischen Tempeldienst wieder ein. Laut der Überlieferung fand sich Öl für nur einen Tag; durch ein Wunder hat das Licht jedoch acht Tage gebrannt, bis neues geweihtes Öl hergestellt worden war.

24 Pessach

Feiertag am 1. Frühlingsvollmond, zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, auch als Fest der ungesäuerten Brote [Mazza] bezeichnet.

25 [Die] Hohen Feiertage

Rosch Haschana [Neujahrsfest] und Jom Kippur [Versöhnungstag]

26 DÖW

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: wurde 1963 von ehemaligen Widerstandskämpfern und Wissenschaftlern gegründet. Schwerpunkte: Widerstand und Verfolgung, Exil, NS-Verbrechen, insbesondere Holocaust und NS-Medizinverbrechen, NS- und Nachkriegsjustiz, Rechtsextremismus nach 1945, Restitution und ‚Wiedergutmachung‘ nach 1945.

27 Haschomer Hatzair [hebr

: ‚Der junge Wächter‘]: Erste Zionistische Jugendorganisation, entstand 1916 in Wien durch den Zusammenschluß von zwei jüdischen Jugendverbänden. Hauptziel war die Auswanderung nach Palästina und die Gründung von Kibutzim. Aus den in Palästina aktiven Gruppen entstand 1936 die Sozialistische Liga, die sich 1948 mit der Achdut Haawoda zur Mapam [Vereinigte Arbeiterpartei] zusammenschloss.

28 KZ Auschwitz

In Auschwitz [poln. Oświęcim], etwa 60 Kilometer westlich von Krakau, befand sich der größte Komplex von deutschen Konzentrationslagern und ein Vernichtungslager während des Nationalsozialismus. Dort wurden insgesamt mehr als 1,3 Millionen Menschen aus ganz Europa deportiert. Davon wurden hier geschätzte 1,1 Millionen Menschen ermordet, eine Million davon Juden. Etwa 900.000 der Deportierten wurden direkt nach ihrer Ankunft in die Gaskammern geschickt oder erschossen. Weitere 200.000 Menschen starben durch Krankheit, Unterernährung, schwerste Misshandlungen, medizinische Versuche oder Vergasung.

29 Kibbutz [Pl

: Kibbutzim]: landwirtschaftliche Kollektivsiedlung in Palästina, bzw. Israel, die auf genossenschaftlichem Eigentum und gemeinschaftlicher Arbeit beruht.

30 Koscher

nach jüdischen Speisevorschriften rituell; rein

31 Mizrachi [hebräische Abkürzung für geistiges Zentrum] in Wilna 1902 gegründeter, weltweiter Zusammenschluss der orthodoxen Zionisten zur Verfechtung jüdisch-orthodoxer Anliegen innerhalb der Zionistischen Weltorganisation

32 Rosch Haschana [heb

: Kopf des Jahres]: das jüdische Neujahrsfest. Rosch Haschana fällt nach dem jüdischen Kalender auf den 1. Tischri, der nach dem gregorianischen Kalender auf Ende September oder in die erste Hälfte des Oktobers fällt.

33 Tandler, Julius [1869 – 1936]

Arzt und sozialdemokratischer Politiker. Ab 1910 Universitätsprofessor in Wien, 1919/20 Unterstaatssekretär für Volksgesundheit, 1919-34 Mitglied der Wiener Landesregierung. Schuf hier viele soziale Einrichtungen: Kindergärten, Schulzahnkliniken, Kinderübernahme- und Mutterberatungsstellen und andere; förderte besonders den Arbeitersport. Er erlangte deshalb als Wiener Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen (ab 1920) große Bedeutung. Er engagierte sich besonders im Kampf gegen die als ‚Wiener Krankheit‘ bezeichnete Tuberkulose und arbeitete am Ausbau der Gesundheitsfürsorge. Mit seinem‚geschlossenen System der Fürsorge‘ verwirklichte er das humanitäre Prinzip der Fürsorge. 1936 als Berater für Spitalsreformen nach Moskau berufen.

34 Begin, Menachem [1913 - 1992], Politiker

Im Jahr 1977 wurde die Likud-Partei erstmals stärkste Kraft und Menachem Begin ab Mai 1977 der erste Likud-Ministerpräsident (bzw. der erste Ministerpräsident der politischen Rechten). Im November 1977 kam es zum historischen Treffen mit Ägyptens Präsident Muhammad Anwar as- Sagat. Auf Vermittlung von US-Präsident Jimmy Carter war das Jahr 1978 gekennzeichnet durch Verhandlungen auf dessen Feriensitz Camp David, die in einem Abkommen gipfelten und im März 1979 zum israelisch-ägyptischen Friedensabkommen führten. Begin und Sadat erhielten für das Camp-David-Abkommen den Friedensnobelpreis des Jahres 1978.

35 Sharon, Ariel [geb

1928]: israelischer Politiker und ehemaliger General; ehemaliger Vorsitzende der Likud- und Gründer der Kadima-Partei; bis Januar 2006 Ministerpräsident.