Rosa Rosenstein

The wedding picture of Rosa Rosenstein and Maximilian Weisz

Rosa Rosenstein
Wien
Österreich
Interviewer: Tanja Eckstein
Datum des Interviews: Juli 2002

Im Sommer 2002 lernte ich Rosa Rosenstein kennen. Ich war sehr aufgeregt, sie interviewen zu dürfen, denn es passiert nicht oft, dass ich Interviewpartnern dieses Alters - sie war immerhin schon 94 Jahre, also fast ein Jahrhundert alt - und noch dazu aus Berlin, meiner Heimatstadt, begegne. Unverkennbar war ihr Berliner Dialekt und nach kurzer Zeit stellte sich Vertrautheit her. Weil sie nicht mehr gut zu Fuß war und auch nicht mehr gut sehen konnte, holte ich ihr jedes Mal ihre Zigaretten und den Aschenbecher aus dem Nebenzimmer ins Wohnzimmer. Manchmal schaffte sie es, nachdem sie mir die Tür geöffnet hatte, nicht ins Wohnzimmer zurück. Dann saßen wir auf dem langen Flur, direkt vor der Wohnungstür, dicht gedrängt auf einer kleinen Bank, und sie erzählte mir Geschichten aus ihrem Leben, lustige und traurige. Ich liebte ihre Geschichten und wurde nicht müde, sie immer wieder zu besuchen. Ihre wunderbar lebendige Art zu erzählen, die Sätze zu Bildern werden zu lassen, das ist und bleibt vermutlich ein einmaliges Erlebnis in meiner Interviewertätigkeit.
Rosa Rosenstein starb im Februar 2005.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Meine Schulzeit
Mein Mann
Meine Geschwister
Während des Krieges
Nach dem Krieg
Glossar

Meine Familiengeschichte

Meine Urgroßeltern kannte ich nicht. Meine Großeltern und meine Eltern sind in Galizien geboren.

Meine Familie väterlicherseits heißt Braw. Die einzigen Braws, die existieren, bis heute noch, gehören zu meiner Familie. Es gibt Brav mit ‚v’ geschrieben, es gibt Braf mit ‚f’ geschrieben, aber wir schreiben uns mit ‚w’. Mein Bruder hat ein bisschen nachgeforscht und sagt, der Name kommt aus dem Hebräischen, nämlich von Biraw und das heißt ‚Sohn des Rabbiners’, Raw steht für Rabbiner.

Die Großeltern väterlicherseits habe ich nie kennen gelernt, denn meine Großmutter, Rivka Finder, geborene Braw, ist gestorben, da war ich noch nicht auf der Welt. Nach ihr wurde ich benannt, auf Deutsch Rosa, auf Jüdisch Rivka. Und den Großvater, Zwi Finder, habe ich auch nicht kennen gelernt. Der hatte angeblich nach dem Tode seiner Frau ‑ sie starb mit 54 Jahren an Krebs ‑ eine Junge geheiratet und ist weggezogen, so dass mein Vater überhaupt keinen Kontakt zu seinem Vater hatte. Meine Großmutter hatte meinem Vater vor ihrem Tod das Versprechen abgenommen, für seine jüngeren Geschwister zu sorgen.

Mein Vater, Jakob Braw, wurde am 6. Juni 1881 in Gorlice [Polen], in der Nähe von Tarnow [Polen] geboren. Er hatte sechs Geschwister: Gitl, Chana, Gusta, Zilli, Reisl und Nathan.

Gitl starb vor dem 2. Weltkrieg.

Chana, verheiratete Federman, hatte drei Kinder. Alle wurden im Holocaust ermordet.

Gusta, verheiratete Eberstark, hatte sechs Kinder. Alle wurden ermordet.

Zilli kam nach Berlin, lernte einen Herrn Weinhaus kennen, und 1914 fuhr sie mit ihm nach Amerika. Auf dem Schiff heirateten sie. In New York besaßen sie zusammen mit ihrer Schwester Reisl und dessen Mann ein Geflügelgeschäft. Zilli wurde 104 Jahre alt.

Reisl kam mit ihrem Mann von Galizien nach Berlin. Er war Bäcker und sein Name war Wind. In Berlin wurde ihr Sohn Josef geboren. Sie sind 1915 über Mexiko nach New York eingereist. Sie starb in New York.

Nathan kam nach Berlin und war sehr lebenslustig. Er hat sich erkältet und starb mit 26 Jahren an einer Lungenentzündung. Er wurde auf dem Friedhof in Weißensee [Anm.: Stadtteil von Berlin] beerdigt.

Mein Großvater mütterlicherseits, Angel Arthur Goldstein, wurde in der Nähe von Krakau geboren. Er war Verwalter eines Gutes. Damals haben Juden Güter gehabt. Der Gutsbesitzer hat in Krakau [Polen] gelebt, und mein Großvater war Verwalter dieses Gutes in der Nähe von Krakau. Ich kann mich erinnern, dass wir zu Hause ein Bild von dem Großvater mit dem langen weißen Bart und mit dem Käppi hatten.

Meine Großmutter, Bacze Goldstein, geborene Schiff, wurde 1850 geboren. Sie hatte zwei Perücken, die musste ich immer in die Grenadierstrasse [Anm.: Strasse in Berlin] zum Aufkämmen tragen.

Meine Mutter, Golda Braw, geborene Goldstein, wurde am 1. August 1884 in Tarnow geboren. Sie war die einzige Tochter. Sie hatte sieben Brüder: Jonas, Heinrich, Adolf, Hermann, Ignatz, Janik und Nuchem. Ihre älteren Brüder lebten auch in Berlin.

Onkel Jonas, jüdisch Joine, hatte in Berlin ein Klaviergeschäft. Seine erste Frau starb ungefähr 1918 an der Spanischen Grippe. Mit seiner zweiten Frau Hella und den Kindern Reuben und Dorit flüchtete er nach der Machtübernahme Hitlers in den 1930er-Jahren und emigrierte nach Palästina. Dorit und Reuben lebten zuerst im Kibbutz. Reuben verließ den Kibbutz in den späten 1950er-Jahren und nahm sein, durch die Emigration nach Palästina unterbrochenes Studium, wieder auf. Er wurde Professor für moderne Philosophie an der Universität Tel Aviv. Er heiratete Nelly, hatte aber keine Kinder. 
Dorit und ihr ebenfalls aus Berlin stammender Mann David Ross übersiedelten gemeinsam mit Onkel Joine und Tante Hella in den Moschaw Atarot, nördlich von Jerusalem. Der Kibbutz wurde im Unabhängigkeitskrieg 1948 geräumt. Die Mitglieder wurden in dem
verlassenen Templer-Dorf Wilhelmina, etwa 20km östlich von Tel Aviv, angesiedelt. Dorit und Jakob haben 3 Söhne: Ilan, Gad und Ehud, die selbst Kinder und, zum Teil, Enkelkinder haben. Joine ist in den 1950er-Jahren gestorben, Hella in den 1980er-Jahren. Jakob ist
vor ein paar Jahren gestorben, Dorit vor einigen Wochen.

Adolf besaß einen Zeitungskiosk. Adolf und sein Bruder Heinrich sind von Berlin aus mit ihren Frauen und ihren Töchtern nach Kanada gegangen. Der eine hatte eine Tochter, der andere zwei Töchter.

Hermann war ein sehr schöner Mann. Er arbeitete in Berlin in der Schneiderei meines Vaters und heiratete Mizzi, die eine Christin war und zum jüdischen Glauben übergetreten ist. 1926 gingen sie nach Kanada, wo er jung gestorben ist.

Ignatz wurde zuerst der Kompagnon meines Vaters, dann wurde er Gutsverwalter in Polen. Er war mit Barczszinska, Bronka genannt, verheiratet. Sie hatten keine Kinder. Bronka überlebte den Krieg versteckt in einem Kloster. Ignatz wurde auf der Flucht nach Budapest ermordet.

Jannik geriet im 1. Weltkrieg in Gefangenschaft und kam nach Sibirien.

Nuchem war der Jüngste. Er war Fähnrich im 1. Weltkrieg, so nannte man Einjährig-Freiwillige. Dadurch war er gleich ein Rang höher als ein einfacher Soldat, ist aber bei einem Gasangriff der anderen Seite verschüttet worden und war lange im Spital. Er hat nachher in Galizien geheiratet.

Meine Großeltern mütterlicherseits habe ich erst richtig wahrgenommen, da war ich ungefähr fünf oder sechs Jahre alt. Sie haben im westlichen Teil von Galizien gelebt. Damals gehörte das zu Österreich-Ungarn; Polen wurde es erst 1922. Ein großer Teil von Polen hat zur Österreich-Ungarischen Monarchie gehört.

Wir sind mit unserer Mutter von Berlin aus im Jahre 1913 die Großeltern in Galizien besuchen gefahren. Wir hatten so schöne Mäntel bekommen, karierte Pepitamäntel und weiße Hütchen mit herunterhängenden Kirschen.

Die Großeltern kamen nie nach Berlin zu Besuch. Mein Großvater ist 1913 ‑ er war auf dem Feld, um die Ernte zu beaufsichtigen ‑ an einem Hitzschlag gestorben. Jetzt war meine Großmutter allein, und meine Mutter hat sie zu sich nach Berlin geholt. Die Großmutter hat dann bei uns gelebt. Die Brüder meiner Mutter kamen nach Berlin, wenn sie ihre Mutter sehen wollten. Und dadurch bekamen wir immer noch wunderbare Lebensmittel, denn der eine war im 1. Weltkrieg in Rumänien stationiert, dort gab es noch alles. Da brachte er uns Rucksäcke voll Mehl und Reis.

Meine Kindheit

Mein Vater war Schneider - Heimschneider. In späteren Jahren hatten wir eine Herrenkonfektion en gros und ein Detailgeschäft. Mein Vater wurde nicht eingezogen, er wurde im 1. Weltkrieg vier Mal gemustert, aber immer wieder zurückgestellt, weil er furchtbare Krampfadern hatte. Und das war sein Glück! Er war zu Hause und konnte für uns sorgen. Er ist zu den Bauern gefahren und hat Lebensmittel für uns besorgt, damit wir nicht verhungern. Er hat uns auch die Schuhe besohlt. Meine Mutter konnte auch alles. Wir haben keinen Hunger gehabt. Irgendwann war das Essen schon knapper, da hat man Kohlrüben gegessen. Das ganze Haus hat danach gestunken. Die Marmelade war aus Kohlrüben, und das Brot war auch aus Kohlrüben.

Meine Mutter war mit meinem Vater sehr lange verlobt. Das war eine Ehe, die noch bestimmt wurde. Sie waren entfernt verwandt miteinander. Meine Eltern haben am 7. Februar 1907 in Galizien geheiratet. Ich bin nach zehn Monaten gekommen. Ich wurde am 25. Dezember 1907 in Berlin geboren. Auf meinem Geburtsschein ist mein Name noch Rosa Goldstein, nach meiner Mutter. Meine Eltern hatten zuerst eine jüdische Hochzeit. Irgendwann mussten meine Eltern noch einmal heiraten, standesamtlich, weil die Ehe sonst nicht anerkannt worden wäre. Nachher wurde auf meinem Geburtsschein angemerkt: ‚Jakob Braw erkennt Rosa Goldstein als seine Tochter an. Und sie führt den Namen des Vaters.’ Ich habe diesen Geburtsschein noch.

Meine Schwester Betty war die zweite und wurde 1909 geboren, Erna war die dritte, sie wurde 1911 geboren, und Cilly war die jüngste Schwester, sie wurde 1913 geboren. Mein Bruder Arthur, jüdisch Anschel, war der Jüngste. Er wurde 1915, während des 1. Weltkrieges, geboren. Wir rufen ihn immer noch Anschi. Er war jetzt mit seiner Frau zu Besuch hier bei mir.

Alle fünf Geschwister sind miteinander sehr verbunden. Jeder hat einen anderen Charakter, aber wir waren nie böse aufeinander. Gut, wir haben jeder eine andere Meinung gehabt, aber wir haben uns nie richtig gezankt. Das kommt in wenigen Familien vor.

Meine Eltern waren in Deutschland Ausländer. Ich war auch nie eine Deutsche. Ich habe drei Staatsbürgerschaften gehabt, aber ich war nie Deutsche. Ich war zuerst Österreicherin. Seinerzeit, als ich in Berlin zur Welt kam, war ich Österreicherin. Ich bin 1907 geboren, aber erst 1922 war Polen entstanden. Ab 1922 war ich Polin, denn ich galt noch nach den Eltern, ich war ja noch nicht volljährig. Dann habe ich einen Ungarn geheiratet, da war ich Ungarin, und nach dem Krieg habe ich einen Österreicher geheiratet, da war ich wieder Österreicherin.

Meine Mutter hat koscher gekocht. In Berlin, in der Grenadierstrasse, waren nur jüdische Geschäfte. Da war das koschere Fleischgeschäft von Sussmann, da waren Hühnergeschäfte, das war alles koscher. Dort hat man eingekauft. Alles war bei uns koscher. Blau zum Beispiel war für milchig, dafür hatten wir blaukarierte Handtücher. Und die rotkarierten waren für fleischig. Das Geschirr war genauso extra, abgewaschen wurde auch separat. Die Tischtücher waren extra, rot für täglich, sonst hat man weiß gedeckt. Das war sehr schön zu Hause. Das Pessach-Geschirr [Pessach: Fest, das an den Auszug der Juden aus Ägypten erinnert] stand in einem riesengroßen Koffer auf dem Hängeboden. Es war sehr feierlich, wenn es dann heruntergenommen wurde. Und meine Mutter hat Gänse gekauft und im Pessach-Geschirr ausgebraten, damit wir Schmalz hatten. Die Gänseleber zu Pessach war wunderbar.

Meine Eltern sind in jüdische Bethäuser gegangen, das eine hieß ‚Ahavat Zedek’ und das andere ‚Ahavat Chaim’. Die Betstuben waren auf irgendeinem großen Hinterhof.

Wir haben in Berlin in der Templiner Straße gewohnt. Wir hatten eine große Berliner Vier-Zimmer-Wohnung. Die Toilette war in der Wohnung, und wir hatten ein Badezimmer. Es war ein sehr primitives Badezimmer, aber es war eine Badewanne drin, und ein großer Ofen, der mit Holz zum Heizen war, damit man heißes Wasser zum Baden hatte.

Wir vier Schwestern waren zusammen in einem Zimmer. Es war schmal und hatte im Eck ein Fenster. Auf der einen Seite standen zwei Betten, und auf der anderen Seite standen auch zwei Betten, und eine große Kommode mit Spiegel stand neben der Tür. Jedes Mädchen hatte einen eigenen Schubkasten - in dem hatten wir unsere Wäsche - und andere Schubkästen mit allem möglichen Krimskrams. Dann hatten wir einen Schrank, in dem die Kleider hingen.

Die neuen Sachen kamen immer zu den Feiertagen, zu Pessach und zu Rosch Haschana [Jüdisches Neujahr]. Zu Rosch Haschana kamen immer die Wintersachen. Das waren beige Mäntel, fertig gekauft. Natürlich habe ich mir gleich an der Seite ein Dreieck eingerissen. Das wurde dann genäht, gestopft, aber trotzdem mit der Zeit sah es schäbig aus. Dann haben wir wieder neue Mäntel bekommen, da trug ich schon den alten von meiner Schwester, weil meiner nicht mehr in Ordnung war. Meine Mutter hat mit mir geschimpft. Ich habe überhaupt nichts auf Kleidung gegeben. Da hat sie zu mir gesagt: ‚Rosa, wenn du wenigstens fünf Minuten länger vor dem Spiegel stehen würdest.’ Meine Mutter sagte immer: ‚An dir ist ein Junge verloren gegangen. Wie kann man so seine Sachen zerreißen?’ Ich habe immer alle Sachen genau wie meine Schwester bekommen. Ihre Sachen hingen ein halbes Jahr im Schrank, jedes Mal hat sie etwas herausgenommen und hat gefragt: ‚Na, gefällt dir das?’ Dann hat sie es zurückgehängt. Wenn sie begonnen hat ihre Sachen zu tragen, waren meine schon längst begraben, waren schon Putzlappen. Ich habe nicht aufgepasst, was ich anziehe und wie meine Haare aussehen. Die Hauptsache war, dass der Rock weit genug war, und die Schuhe sollten nicht drücken, damit ich gut laufen konnte. Zum Friseur ging ich erst, nachdem ich einen Bubikopf-Haarschnitt hatte, aber auch nur wegen der Arbeit im Geschäft meines Vaters. Zuerst hatten wir lange Zöpfe, die wurden frühmorgens, wenn wir in die Schule gegangen sind, geflochten. Mein Vater hat immer das Frühstück zum Mitnehmen gemacht. Meine Mutter hat ja mitgearbeitet; sie sollte sich ausruhen. Und dann sind wir an Mutters Bett gegangen, und sie hat die Zöpfe geflochten.

Mein Bruder schlief im kleinen Zimmer auf einem Diwan. Das Zimmer war zur Strasse. Es stand noch ein Schreibtisch in seinem Zimmer, und ein großer Fauteuil stand neben dem Kachelofen. Damals haben ja alle Kachelöfen gehabt. Den Kachelofen haben wir im Winter allein geheizt.

Dienstmädchen hatten wir nur als wir klein waren, weil meine Mutter unserem Vater in der Schneiderwerkstatt geholfen hat. Ein Dienstmädchen hieß Elsa, das andere Emma. Die beiden waren aus Pommern. Das Dienstmädchen wohnte bei uns, aber für sie wurde nur ein Bett aufgestellt. Das war früher primitiv. Die Mädels kamen alle vom Land und waren froh, dass sie sich erhalten konnten. Die Emma war eine Sabbatistin 1, die ist nur zu Juden gegangen. Am Schabbat war ihr Feiertag, am Sonntag hat sie gearbeitet. Die Sabbatisten ‑ das war eine Sekte ‑ die haben auch kein Schweinefleisch gegessen.

Meine Schulzeit

Ich habe eine jüdische Mädchenschule besucht, heute würde man sagen eine ‚Höhere Töchter Schule’. Wir mussten Französisch lernen, und Englisch war Wahlfach. Natürlich war ich zu faul für Englisch, da habe ich nur Französisch gelernt. Damals gab es keine Vorschule. Es fing in der neunten Klasse an, und es ging hinauf bis zur ersten. Die neunte Klasse war wie heute die erste Klasse, und die erste war die letzte. Die nannte man Lyzeum.

Ich habe überhaupt keinen Kontakt gehabt mit Christen. Meine Eltern auch nicht, nur geschäftlich, aber privat nicht. Aber eine christliche Jugendfreundin hatte ich, die wohnte im selben Haus. Mit der bin ich mitgegangen, wenn sie beichten ging.

Für drei Stunden, drei Mal in der Woche, haben wir bei Dr. Selbiger, das war der Lehrer, biblische Geschichte und Hebräisch lesen gelernt. Die Schreibschrift haben wir nicht gelernt, die Druckschrift haben wir gelernt. Ich konnte alle Gebete. Ich musste ja auch beten. Meine Großmutter hat da aufgepasst. Früh morgens hat man gebetet ‚Modim anachnu lo’, und abends hat man das ‚El Male Rachamim’, das Abendgebet, gesagt.

Meine Schwestern gingen auch in diese Schule. Ich musste dann aus der Schule; über mich wurde verfügt. Mir wurde vorgeschrieben, wie lange ich in die Schule gehen darf, dann musste ich die Handelsschule machen, weil mein Vater mich im Geschäft gebraucht hat. Ich musste erst einmal so eine Art Praktikum in einer fremden Firma machen. Wir hatten eine jüdische Sekretärin, die heiratete, und ich musste ihre Arbeit übernehmen. Wir hatten auch ein Detailgeschäft, Herrenkonfektion. Ich war in dem Betrieb, wo genäht wurde, und meine Schwester Betty, die dieselbe Handelsschule besuchte wie ich, hat dann in dem Detailgeschäft gearbeitet.

In der Handelsschule hat man in einem halben Jahr alles lernen müssen: Maschine schreiben, Stenographie, Buchführung, und alles in großem Tempo. Ich habe Mitschüler gehabt, die 20 Jahre alt waren, und ich war 15 Jahre alt, aber ich war besser als die anderen. Meine Mutter war nie in der Schule, um sich zu erkundigen, wie ich studiere. Es gab keine Klagen.

Ich habe dann für meine Arbeit im väterlichen Geschäft 100 Mark Taschengeld gekriegt. Ich war nicht einmal bei der Krankenkasse angemeldet. Wenn ich das gehabt hätte, würde ich heute von Deutschland eine andere Pension kriegen. Meine Schwester Betty dagegen hat beim Staatsanwalt gearbeitet, die kriegt eine herrliche Pension aus Deutschland.

Wir waren immer zionistisch eingestellt. Mein Bruder zum Beispiel war schon als 14jähriger in einem zionistisch-sozialistischen Bund und trug die blauen Hemden, die die getragen haben.

Alle meine Geschwister waren in jüdischen Vereinen mit zionistischem Einschlag. Es gab ja deutsche Juden, die gesagt haben: ‚Um Gottes willen, was haben wir dort zu suchen, Deutschland ist unsere Heimat.’ Aber das war es nicht für uns, wir waren ja Polen. Ich war im jüdischen Turnverein ‚Bar Kochba’. Das war ein jüdischer Verein, halb Sport, halb Unterhaltung. Im Sommer haben wir im Grunewald trainiert, Leichtathletik gemacht, und im Winter waren wir in der Turnhalle. Ich habe mich nicht getraut, auf die Stangen zu klettern oder auf dem Barren zu balancieren, aber andere Spiele, Völkerball und Medizinball, haben mir Spaß gemacht.

Durch die jüdischen Vereine habe ich Freunde gehabt, auch Burschen. Wir sind zum Beispiel Pfingsten ins Grüne rausgefahren. Da gab es eine Eisenbahn bis Frankfurt an der Oder, das war dritter oder vierter Klasse, da konnte man auf dem Boden auf dem Rucksack sitzen, und eine Decke hatte man zum Liegen. Wir sind in der Nacht gefahren, das war aufregend! An einem See haben wir dann geschlafen - Burschen und Mädchen. Einige Nächte haben wir in Heuhaufen bei Bauern geschlafen. Ich hatte Martha, eine gute Freundin, die immer neben mir war. Berlin hat doch wunderschöne Seen. Tretboot fahren zum Beispiel, das war immer mittwochs, und gepaddelt sind wir auch. Ich konnte nicht schwimmen, aber wir sind gerudert. Ich habe drei Mal angefangen das Schwimmen zu lernen; beim dritten Mal habe ich es aufgegeben. Das erste Mal, als ich versucht habe, schwimmen zu lernen, da hat mich der Schwimmlehrer an der Angel gehabt, und ich musste die Bewegungen machen. Und das zweite Mal habe ich ein Brett bekommen und musste das Brett vor mich herschieben. Zum Schluss hat der Lehrer gesagt: ‚Jetzt ohne Brett!’ Das habe ich nicht gemacht. Ich war feige. Ich habe Angst gehabt, ich gebe es zu. So ist das Leben.

Den Sommer haben meine Eltern eine Sommerwohnung gemietet. Als wir noch klein waren, war die erste Sommerfrische in Fichtenau, an einem See. Da haben wir die Betten und das Geschirr mitgenommen. Mein Vater ist zum Wochenende rausgekommen. Er hat gearbeitet, und wir waren mit der Mutter zusammen. Mutter hat gekocht, und wir haben ‑ genauso wie zu Hause ‑ Suppe mit Nudeln gegessen.

Wir haben alles gehabt. Wir haben wunderbar gegessen, wir haben das Beste und das Schönste eingekauft; Gänse hat man gebraten. Ich hab in der Schule manches Mal mit den Kindern Brote getauscht, damit ich ein Schmalzbrot kriege, und habe dafür mein belegtes Butterbrot mit Käse gegeben. Es hat uns an nichts gefehlt.

Mein Vater hat meine Mutter vergöttert. Er hat alles für sie und für seine Töchter getan. Meine Schwester sagt immer: ‚Was willst du denn, du warst doch der Liebling vom Papa.’ Mein Vater war ein guter Mensch. Er war nur für seine Frau und seine Kinder da. Mein Vater hat nicht geraucht, mein Vater hat nicht getrunken. Das Einzige, was er tat, war: Früh morgens, bevor er in die Werkstatt ging, hat er einen Schluck Slibowitz getrunken - ein Gläschen Slibowitz zum Frühstück. Manches Mal, wenn meine Mutter gefragt hat: ‚Sag, Jakob, was soll ich zum Mittagessen machen?’ Hat er gesagt: ‚Weißt du was? Für mich einen Milchreis mit Zucker und Zimt, das ist das Beste.’ So war er! Und wir mussten geräucherte Rinderbrust haben, bei Sussmann, in der Grenadierstrasse eingekauft. Und genau so war es mit der Kleidung: Wenn meine Mutter zu ihm gesagt hat: ‚Jakob, du musst schon neue Schuhe haben. Du musst schon endlich einen anderen Anzug haben,’ nein, er wollte nicht. Aber wenn ich etwas verlangt habe, habe ich alles bekommen.

Meine Mutter war eine Leseratte wie ich. Sie hat nur ein Jahr in Galizien die Schule besucht. Sie hatte sieben Brüder, die haben alle studiert. Der Großvater hat immer gesagt, es ist genug, wenn ein Mädchen seinen Namen schreiben kann und Brot backen, braten und buttern kann. Sie kamen doch vom Lande, und das war genug. Meine Mutter hat mir erzählt, das erste, was sie sich in Berlin gekauft hat ‑ sie hat nachher ja auch gearbeitet in Berlin ‑ war Grillparzer [Anm.: Österr. Schriftsteller 1791-1872], eine ganze Reihe Bücher von Grillparzer. Lesen und Schreiben hatte sie sich selber beigebracht. Wir hatten zu Hause eine richtige Bibliothek. Wir hatten einen Arbeiter, der war ein älterer Herr, und wir waren doch vier Mädchen zu Hause. Und der hat immer gesagt: bei den fünf Frauen im Hause Braw ist die Mutter die Klügste und die Schönste. Als wir ausgewandert sind, als Hitler kam, hat mir das Herz wehgetan, weil wir alle Bücher zurücklassen mussten.

Mein Mann

Bis zum Tage meiner Hochzeit habe ich zu Hause gewohnt. Mein erster Mann war auch ein Schneider, ein Ungar vor allen Dingen. Ein fescher, junger Bursche war er. Ich habe bei meinem Vater gearbeitet, und das war in einem Fabrikgebäude mit großen Fenstern. Mein Schreibtisch stand am Fenster. Und gegenüber war auch ein Betrieb, eine Herrenkonfektion. Da saß an der Nähmaschine immer ein gut aussehender, junger Mann. Wir haben oft so hin gelächelt, her gelächelt. Ich wusste nicht, wer er ist, und er wusste nicht, wer ich bin. Mit einem Mal kommt ein Mann rauf ‑ früher sind die Händler von Geschäft zu Geschäft gegangen ‑ und bringt mir eine Kiste, ein Kilo Konfekt: ‚Der junge Mann von drüben schickt Ihnen das.’ So fing es an. Ich nahm das natürlich an und bedankte mich.

Ich war damals noch nicht 18. Ich habe mich gefreut, warum auch nicht, aber ich habe immer lange gearbeitet. Wenn man im Geschäft beim Vater ist, dann kann man nicht um fünf Uhr Schluss machen. Meine Mutter hat immer mit meinem Vater telefoniert: ‚Wann schickst du endlich das Mädchen nach Hause?’ In der Werkstatt Knöpfe annähen; helfen, wenn Sachen gepackt wurden, um sie zu verschicken; mit den Hausdienern zur Bahn gehen, wenn die Pakete mit der Bahn weggeschickt wurden ‑ das alles musste ich machen.

Wir haben Herrenkonfektion selbst gemacht und verkauft. Wir hatten eine Zeit lang eigene Detailgeschäfte. Das eine war in Neukölln, in der Hermannstrasse, und das andere Neue Friedrichstrasse, Ecke Klosterstrasse. Damals hat man viel auf Pump verkauft, auf Teilzahlung, weil die Leute arm waren. Ein Anzug hat zum Beispiel 35 Mark gekostet, dann hatte man eine Karte angefertigt, die hat 10 Mark angezeigt, und der Betrag wurde kassiert. Das hat meine Schwester gemacht. Die Kundschaft im Detailverkauf waren weniger Juden, aber die Kundschaft im en gros waren Juden, die ganze Anzüge gekauft haben. Das waren die Leute in der Provinz. Die Pakete gingen nach Essen, nach Düsseldorf, nach Duisburg. Wir hatten auch einen Vertreter, der hatte Stoffmodelle und Stoffe dabei.

Einmal bin ich früher nach Hause gegangen. Ich war in dem Geschäft Neue Friedrichstrasse, Ecke Klosterstrasse, ging über den Hackeschen Markt in die Rosenthaler Straße in ein großes Buchgeschäft. Ich habe mir die Bücher angesehen. Ich habe Bücher gekauft, ich habe Bücher geborgt, ich habe gelesen in Verleihen ‑ nur Bücher. Also, ich stand da und habe geschaut, und hinter mir höre ich plötzlich eine Stimme langsam reden: ‚Ist das schööön?’ Ich drehe mich um, und da stand er. Er hatte auch denselben Weg wie ich, er wohnte bei seiner Schwester. Er hat gefragt, ob er mich begleiten darf, er ginge denselben Weg. Habe ich gesagt:  ‚Bitte schön!’ Dabei hat sich herausgestellt, dass er der Neffe von dem Inhaber ist, bei dem er gearbeitet hat, und dass ich die Tochter von dem Inhaber von gegenüber bin. Er hat geglaubt, ich sei eine Angestellte, und ich hatte auch geglaubt, er sei nur ein Arbeiter. Er hieß Maximilian Weisz, und wir nannten ihn Michi. Er wurde am 30. November 1904 in Nitra [heute Slowakei] geboren. So hat es begonnen!

Und dann hat er mich manchmal begleitet, dann hat er mich eingeladen. Das war an einem Samstagabend, wochentags hat man ja keine Zeit gehabt. Treffpunkt war Schönhauser Allee, an der U-Bahn Ecke Schwedter Straße. Ich habe mich angezogen, habe mich zurecht gemacht, war noch beim Friseur, denn ich bin, seit ich im Geschäft meines Vaters gearbeitet hatte, immer Samstags zum Friseur gegangen. Meine Eltern haben gewusst, dass ich ein Rendezvous habe, und meine Mutter hat gesagt: ‚Nun mach doch schon, nun geh schon, du kommst doch viel zu spät!’ Habe ich gesagt: ‚Wenn er Interesse hat, wird er warten.’ Also, jedenfalls ich bin runter, kein Mensch da. Na gut, habe ich mir gedacht, ich habe mich verspätet. Also, ich gucke, fünf Minuten sind vergangen, mit einmal kommt er angelaufen, außer Atem. Was ist passiert? Ich habe mich entschuldigt, weil ich zu spät gekommen bin. Aber er dachte, ich warte an der anderen Station, also ist er eine Station weiter gelaufen und wieder zurückgelaufen.

Am Tiergarten ist das Restaurant ‚Schottenhamel’ gewesen. Ein sehr elegantes Lokal, und er sagte, er hätte noch kein Nachtmahl gegessen. Wir sind mit der U-Bahn bis zur Station Willhelmstraße gefahren, glaube ich, oben an den Linden irgendwo. Wir sind hineingegangen, und es war sehr elegant, aber ich war koscher [nach jüdischen Speisevorschriften rituell; rein]. Er hat sich eine Fleischplatte bestellt und ich Kaffee und Kuchen. Ich habe doch kein trefenes [unrein, nicht koscher] gegessen. Ich habe gesagt, dass ich koscher bin. Ich wusste nicht, wo ein koscheres Restaurant war; meine Eltern gingen nicht in Restaurants. Anschließend gab es noch Musik dort.

Ich habe drei sehr schöne Kleider bekommen, als ich verlobt war. Ein schwarzes Satin-Kleid mit weißem Satin-Einsatz, ein weißblaues Crepe de Chine-Kleid, und das dritte, das war ein dunkelblaues Stoffkleid mit Bordeaux. Ich konnte ja nicht so mit ihm ausgehen, mit den Lumpen, die ich hatte. Diese Kleider wurden von einer eleganten Schneiderei genäht.

Mein Verlobter wurde wie ein Sohn in unsere Familie aufgenommen. Er hat fleißig gearbeitet, und ich habe fleißig gearbeitet. Wir sind nur an Wochenenden ausgegangen. Und dann vergingen ungefähr sieben, acht Monate. Meine Eltern haben gesagt, das hätte keinen Sinn, sie erlauben nicht, dass ich mich herumtreibe, ich bekäme einen schlechten Ruf. Es war gerade Rosch Haschana und Jom Kippur [jüdische Versöhnungstag; wichtigste Feiertag der Juden], und meine Eltern waren im Tempel. Ich war auch im Tempel. Natürlich wurde bei uns nicht gearbeitet.

Maximilian hat auch nicht gearbeitet, weil sein Onkel auch Jude war und in der Firma nicht gearbeitet wurde. Er kam in den Tempel mich besuchen: Die Jugend hat sich da immer angesammelt, man stand da mit Freunden herum. Meine Eltern haben ihn dort zum Kaffee zu Rosch Haschana eingeladen. Es kamen auch zwei Brüder von meiner Mutter mit ihren Frauen. Und wir sitzen so, und mit einem Mal sagt mein Vater: ‚Gehen wir bitte ins Nebenzimmer!’ Meine Onkeln und mein Vater riefen dann Michi zu sich rein. Ich dachte mir, was ist denn da los? Nach einer Weile kamen sie lachend heraus, Michi strahlte, und dann wurde mir gesagt, sie hätten ihn gefragt, was für Absichten er hätte, denn sie sähen nicht ein, dass man sich so lange herumschleppt, ich käme in einen schlechten Ruf. Und er hat gesagt, er hätte die Absicht, mich zu heiraten. Damit war die Sache erledigt. Und ich habe mich sehr geärgert, dass sie das gemacht haben.

Ich habe genug Verehrer gehabt. Zum Beispiel hat mich ein Verwandter aus Polen heiraten wollen. Er war acht Jahre älter als ich. Als er das letzte Mal in Berlin war, war ich ein Mädel von 14 Jahren. Als er weggefahren ist, war ich 15. Manchmal hatte er mich mitgenommen in einen Zirkus, manchmal in eine Nachmittagsvorstellung einer Operette. Sein Vater hatte in Oswieczim [poln. Stadt Auschwitz] eine Fleischerei und einen Pferdehandel, wie die Juden das so in der Provinz gehabt haben. Er musste zurück nach Hause, weil er der einzige Sohn war. Und wie er sich verabschiedet hat, da sagte er zu mir: ‚Rosa, wenn du 18 bist, heirate ich dich.’ Und ich mit meiner großen Klappe sagte zu ihm: ‚Natürlich!’

Irgendwann kam ein Brief an mich, aber an meinen Vater adressiert. Und er fragte, ob ich mich erinnere, jetzt wäre die Zeit, ich sei 18 Jahre alt. Ich war so stolz auf diesen Brief! Ich habe ihm zurückgeschrieben, ich hätte das Angebot bekommen, aber es seien drei Jahre vergangen, ich hätte mich verändert, er hätte sich verändert, man sähe ganz anders aus und so weiter. Und da hat er zurückgeschrieben, ich solle ihm ein Bild schicken von mir, und er hat mir auch ein Bild von sich geschickt. Ich habe ein Passbild geschickt, auf dem meine Haare zu Berge standen. Da hat er zurückgeschrieben, auf dem Bild könne man nicht viel sehen, und da habe ich ihm geschrieben: ‚Wenn du Interesse hast, bitte komm nach Berlin.’ Er hat mir gar nicht gefallen, es hat mich nur stolz gemacht, und ich habe die Realität gesehen: Er war eine gute Partie. Ich war sehr nüchtern damals, ich hatte überhaupt keine Phantasie.

Dann kam die Antwort, er könne nicht kommen, er hätte keinen Pass, ich solle kommen. Ich war schon auf dem Weg, mir einen Pass zu besorgen, da hat sich meine Mutter eingemischt. Sagt sie zu mir: ‚Rosa, überleg! Du, ein Berliner Mädchen mit deinem Wissen, du willst nach Polen heiraten?’ Das war schon Polen damals. ‚Du kannst kein Wort polnisch. Willst du in einer Kleinstadt leben, in einem Fleischerladen bedienen?’

Ich habe überhaupt nicht mehr geantwortet. Damals war ich außerdem verliebt in meinen Jugendfreund Samy. Wir wohnten im selben Haus. Kennen gelernt habe ich ihn, da war ich zehn, elf Jahre alt, und er war vier Jahre älter. Damals ist er immer stolz an mir vorbeigegangen, und ich habe noch mit Puppen gespielt. Als ich dann schon fast 18 war, war auch er in mich verliebt. Wo er mich hat fassen können, hat er mich gehabt und geküsst. Einmal waren wir auf Sommerfrische. Ich war mit meinem Bruder dort, der war damals noch klein. Samy wollte mit mir schlafen. Seine Schwester war meine Freundin, ein bildschönes Mädel, genauso alt wie ich, und ich sage zu ihm: ‚Samy was würdest du sagen, wenn das deine Schwester, die Nina, machen würde?’ Und er sagt mir: ‚Die tut so was nicht.’ Von dem Augenblick war es aus, ich habe ihn nicht mehr angesehen. So stolz war ich! Er war amerikanischer Staatsbürger, in Amerika geboren, auch seine Geschwister. Seine Eltern waren in Amerika und sind nach Deutschland zurückgekommen. In zwei Monaten war er weg. Er ist nach Amerika gegangen. Ich weiß nicht, ob er noch lebt ‑ er muss ja schon 100 Jahre alt sein ‑ aber ob er je gewusst hat, warum es zu Ende war?

Mir hatte das ja nicht gefallen, was mein Vater und meine Onkeln da mit Michi gemacht hatten, aber bitte! Michi hat gestrahlt, und ich war sehr verlegen, aber wir sind noch anschließend ins Kino gegangen. Das geschah alles im November, und am 30. November hatte er Geburtstag. Ich weiß noch, ich habe doch am 25. Dezember Geburtstag, da habe ich als Geburtstagsgeschenk von ihm einen herrlichen Kristallteller bekommen. Das war der erste Teller, den ich geschenkt bekam, und ich habe mir noch gedacht: ‚Ein Teller als Geburtstagsgeschenk? Ein Kristallteller?’ Aber der Schliff war außergewöhnlich schön. Michi war sehr spendabel, ich habe oft Geschenke bekommen.

Dann hatten wir eine richtig jüdische Verlobung, das war am 8. März 1928. Zur Verlobung sind seine Mutter und seine Schwester aus Budapest gekommen. Wir waren 80 Personen. Wir hatten damals eine Vier-Zimmer-Wohnung, drei Zimmer wurden ausgeräumt. Meine Mutter hat selbst das ganze Abendessen gekocht. Ich habe doch Freundinnen gehabt, und die Mädels waren alle da; ich habe sehr viele Geschenke bekommen. Es war eine richtig große Feier. Im letzten Zimmer wurde die Garderobe aufgehängt. Wir hatten vom Geschäft einen Lehrjungen, der kam und hat bei der Garderobe geholfen. Ich weiß noch, es gab Fische, und dann gab es Suppe, und dann gab es Fervel, Tarhonya, mit Geflügel, mit allem Möglichen. Und meine Mutter hatte Jahre vorher saure Kirschen in Weingeist eingelegt, für Likör. Da hatte sie Spiritus gekauft und die Kirschen reingelegt. Und sie hatte gesagt: Bei der ersten Familienfeier wird das aufgemacht und getrunken. Und das hat ein paar Jahre gedauert.

Ich habe während der Verlobungszeit Sofakissen gehäkelt, auf besondere Art, und Sofakissen gestrickt, und zur Verlobung hatte ich ach von Freundinnen Handarbeiten bekommen.

Michi hat sich dann selbständig gemacht, bis dahin hatte er bei seinem Onkel gearbeitet. Er hat Maschinen gekauft und gemietet. Er hat mit seinem Schwager zusammengearbeitet, und ich habe gesagt: ‚Das geht nur, solange wir nicht verheiratet sind, danach bin ich der Kompagnon.’ Und so geschah es.

Ich war die Erste, die geheiratet hat, ich war ja auch die Älteste. Die standesamtliche Hochzeit war ein Jahr später. Michi war ja damals auch noch gar nicht volljährig. In Ungarn war man erst mit 24 volljährig. Er musste noch die Bewilligung von den Eltern haben. Wie wir geheiratet haben, war er schon 24, aber als er die Papiere für die Hochzeit eingereicht hat, war er noch keine 24 Jahre alt. Er war Ausländer, und ich war Ausländerin. In Deutschland war man doch sehr genau. Ich war der Abstammung nach Polin und musste ein Ehefähigkeitszeugnis aus Polen haben. Wir haben die Angelegenheit Rechtsanwälten übergeben, die haben alles erledigt. Nur Geld musste man haben, sonst hätte man ja laufen und laufen und laufen müssen.

Dann haben wir geheiratet. Ich bestand auf dem Tempel in der Oranienburger Strasse. Wir sind in die Leipziger Strasse gegangen, die Brautspitze für das Brautkleid kaufen. In der Leipziger Strasse war auch ‚Michels’, das Seidengeschäft ‑ ein herrliches Geschäft! Da haben wir den Schleier gekauft, der war bestickt. Dann mussten die Blumen bestellt werden, der Strauss und die Myrthe, das Restaurant und das Essen. Am Alexanderplatz war das große Warenhaus ‚Tietz’, aber vorher war der Kupfergraben, und da war ein koscheres Restaurant. Gegenüber war die Grenadierstrasse, das ganze jüdische Viertel, da war das Restaurant, in dem wir das Essen bestellt haben.

Die standesamtliche Trauung ‑ das war nur ein Akt ‑ war schon sieben Wochen vor der jüdischen Trauung. Aber ich habe immer noch mit meinem Mädchennamen unterschrieben. Es ist mir gar nicht eingefallen, dass ich ja schon verheiratet bin. Die Trauzeugen bei der standesamtlichen Trauung waren mein Vater und Michis Onkel. Wir sind anschließend gleich wieder arbeiten gegangen. Und dann kam die eigentliche Trauung. Ich bin in die Mikwe [rituelles Tauchbad] gegangen. Die Cousine meiner Mutter hat mich dahin geschleppt. Samstagnachmittag- und Abend waren alle meine Freundinnen bei uns zu Hause. Es war lustig, mein Verlobter war da, und ich musste in die Mikwe gehen. Die hat mir dort die Fingernägel angeschaut, ob da eh kein Schmutz drunter ist, und ich musste untertauchen.

Sonntag war die Hochzeit. Vor der Trauung sind wir erst einmal zum Photographen gefahren. Der war am Anfang der Schönhauser Allee. Der Photograph war ein gebürtiger Russe, hieß Pergamentschik und war einer der besten Photographen. Dann kam Hitler, Pergamentschik ist nach Palästina gegangen und hatte dann dort ein Atelier.

Der Oranienburger Tempel war der schönste Tempel überhaupt in Berlin, und man sagte sogar, in ganz Europa. Es waren Leute geladen nur für die Trauung und Leute zum anschließenden Essen im Restaurant. Zwei Ehepaare müssen die Braut unter die Chuppa [Der Traubaldachin bei einer jüdischen Hochzeit – bedeutet das ‚Dach über dem Kopf’ und besagt, dass ein Haus gegründet wird] führen, die nennt man die Unterführer. Und bei uns waren das meine Eltern von meiner Seite, und von Michis Seite seine Schwester und sein Schwager, die auch in Berlin gelebt haben. Zwei kleine Mädchen, Töchter von einer Freundin, haben Blumen gestreut. Alle waren sehr elegant. Dann kamen wir, dann kamen die zwei Jungen, die die Schleppe getragen haben. Und dann kam die Hochzeitsgesellschaft. Meine vier Freundinnen trugen elegante Kleider in hellgrün, in hellblau, die dritte in malvenfarben, die vierte war in rosa gekleidet.

Dann wurden wir getraut. Aber bevor man getraut wird, wurde die standesamtliche Bescheinigung verlangt. In Deutschland war das Gesetz, denn die jüdische Hochzeit wurde ja nicht anerkannt ‑ obwohl das in Österreich damals anerkannt wurde und auch in der Tschechoslowakei. Die brauchten zu dieser Zeit nicht mehr zum Standesamt gehen. Darum sind damals viele Paare in die Tschechoslowakei gefahren, um sich trauen zu lassen, weil ihnen verschiedene Papiere gefehlt haben.

Die Schleppe meines Brautkleides wurde von zwei kleinen Jungen in Matrosenanzügen getragen, die sich gestritten haben, die waren fünf Jahre alt, der eine war mein späterer Neffe, und der andere war der Sohn von einer Freundin. Der eine Bub hat die Schleppe hingezogen, der andere hat sie hergezogen, und ich habe immer versucht, die Schleppe festzuhalten.

Nach der Trauung sind wir zum Essen gefahren. Das Restaurant war am Kupfergraben, direkt an der Alexanderstrasse. Nebenan stand das große Warenhaus Hermann Tietz. Ein Hochzeitsgast war Buchdrucker, ein bildschöner Junge, der hat die Einladungen und Tischkarten als Hochzeitsgeschenk gedruckt. Und die anderen Hochzeitsgeschenke waren, was man damals eben alles geschenkt hat. Heute macht man Listen. Von einem habe ich eine Couchdecke bekommen, eine Chaiselongue-Decke, die habe ich heute noch. Und von anderen Bettvorleger, Daunendecken und Kristalle.

Das Essen war gut, die Fische hatte meine Mutter gemacht, richtig polnische Karpfen, kalt und mit Geleesauce und Barches [jüdische Festbrot in Zopfform] dazu. Draußen war es kalt, und die Kellner hatten gar keine Lust zu bedienen; man musste sie antreiben. Es waren nur zwei oder drei Kellner. Nach dem Essen sollte man tanzen, es war doch genug Jugend da. Aber die Musik war auch schrecklich. Der Bruder meiner Freundin war ein wunderbarer Klavierspieler, der hat alles spielen können ‑ aus dem Kopf, ohne Noten. Der hat sich dann ans Klavier gesetzt und gespielt, da konnten wir dann richtig tanzen.

Dann sind wir in unsere Wohnung gegangen. Die war schon fix und fertig eingerichtet. Es war Wohnungsnot damals, und wir hatten eine Wohnung in der Alten Schönhauser Strasse gefunden, da war früher ein Polizeirevier drin. Das war Wohnung und Werkstatt zusammen. Die Wohnung war groß, da war ein riesengroßes Arbeitszimmer mit drei Fenstern zum zweiten Hof hinaus, dann hatte ich ein schönes Schlafzimmer, natürlich waren die Fenster auch zum Hof hinaus. Mein Vater ist mit mir einkaufen gegangen, und so konnten wir das schönste Schlafzimmer, en gros, aussuchen. Der Inhaber des Geschäftes, ein Großhändler, hat mir dann erzählt, dass ein Musiker dasselbe Schlafzimmer hatte. Das war Mahagoni, ganz dunkles Mahagoni mit Silber eingelegt. Und ein schönes Speisezimmer habe ich bekommen. Die Werkstatt war sogar schon hergerichtet, da standen schon die Zuschneidemaschinen; mein Mann hatte schon in der Wohnung gearbeitet. Die Hochzeitsgeschenke waren auch schon zum Teil in der Wohnung aufgestellt.

Dann kam die Hochzeitsnacht, und in der Früh höre ich Schließen an unserer Wohnungstür. Mein Mann springt aus dem Bett, zieht sich die Hosen an, rennt raus. Es war mein Vater! Er wollte das Zimmer einheizen, damit es warm ist, wenn ich aufwache. Und sogar im Schlafzimmer hat er eingeheizt. Na, meine Mutter war vielleicht wütend!

Am 10. Dezember 1929 wurde unsere Tochter Bessy geboren. Sie kam zehn Monate nach der Hochzeit. Am 10. Februar habe ich geheiratet, und am 10. Dezember ist sie geboren. Wir waren doch noch beide sehr jung, aber ich hatte meine Eltern. Die ersten sechs Wochen war ich zu Hause bei meinen Eltern. Mein Mann ist in unserer Wohnung geblieben. Er ist zu uns gekommen, und ich bin zu ihm gefahren. Tagsüber bin ich hingefahren und habe ein bisschen gearbeitet. Das Kind war ja bei meinen Eltern. Ich wusste, nach drei Stunden musste ich zurück sein, um das Kind zu nähren. Das ganze war ein Weg von nicht einmal zehn Minuten.

Mein Vater wurde ausquartiert, und ich habe mit meiner Mutter und dem Baby im Zimmer geschlafen. Wir hatten kein Kinderbett bei den Eltern, das Baby schlief in unserer Mitte. Dann hatte Bessy natürlich ein schönes, weißes Kinderbett zu Hause und einen weißen Kinderwagen, den mir meine Schwester geschenkt hat. Mein Vater hat nicht erlaubt, dass ich mit dem Kind rausgehe, es war ja schrecklich kalt. Er erlaubte es erst nach sechs Wochen und dann auch nur, wenn er mitging. Mein Vater hat immer, als meine zweite Tochter Lilly geboren wurde, gesagt: ‚Ich habe sechs Töchter!’

Als Bessy zweieinhalb Jahre alt war, bin ich mit ihr nach Ungarn gefahren, um die Schwiegereltern und die Verwandtschaft meines Mannes zu besuchen. Mein Mann ist in Berlin geblieben. Wir hatten ja die Werkstatt, und er konnte nicht weg.

Mein Schwiegervater besaß eine Bäckerei. Die Familie wohnte in der Vorstadt von Budapest, in Ujpest, das heißt Neupest. Ujpest ist zwanzig Minuten mit der Straßenbahn von Budapest entfernt. Budapest ist eine herrliche Stadt! Auf der einen Seite ist die Altstadt, auf der anderen Seite ist die moderne Geschäftsstadt. Es gab wunderbare Kaffeehäuser. Man konnte an der Donau am Kai sitzen, man hat Dampferfahrten gemacht ‑ ich habe mich sehr gut gefühlt. Und dann bin ich zurückgekommen nach Berlin - damals ist man doch noch mit der Bahn gefahren, und von Berlin nach Budapest, das waren 20 Stunden. Im Orient-Express bin ich nach Berlin zurückgefahren. Man hatte mir auch noch eine schöne Gans und Gänseleber und Salami eingepackt.

Ich bin angekommen, natürlich große Freude, und neun Monate später, am 6. Mai 1933, war meine zweite Tochter Lilly da. Und ich wollte doch nicht, ich wollte nur ein Kind haben, denn damals war es modern, nur ein Kind zu haben. Alle meine Freundinnen, die Schwägerin, die Schwester von meinem Mann, die hatten nur ein Kind. Die Schwester von meinem Mann wollte mir helfen. Die hat gesagt, ich soll Tee trinken und im heißen Wasser sitzen und vom Tisch springen - aber es hat nicht geholfen. Bis ich meiner Mutter erzählt habe, dass ich schwanger bin, und die hat kein Blatt vor den Mund genommen: ‚Was ist das? Willst du dich unglücklich machen? Was ist ein zweites Kind? Warum willst du das nicht haben? Der Altersunterschied ist gerade gut!’ Aber das Schlimmste war, sie hat das nachher meiner Tochter erzählt, als sie groß war. Und die hat mir dann immer gesagt: ‚Mich wolltest du ja nicht haben.’

Mein Mann, der zu Hause in Budapest bei seinen Eltern überhaupt nicht koscher war, hat sich mir ganz angepasst. Koscher zu leben war ja auch nicht schwierig, man hat ja alles bekommen. In der Grenadierstrasse, in der Dragonerstrasse, in der Mulackstrasse, da waren doch alles nur jüdische Geschäfte und fromme Leute. Da war ein frommer Jude, von dem hat man gesagt, der tut Buße, denn in seiner Jugend war er ein Lümmel und hat sich rumgetrieben mit den Mädels, mit den Christen ‑ also furchtbar! Und dann hat er geheiratet und hat Buße getan, er hat nur den langen Mantel und die weißen Socken getragen, und einen Bart hat er sich wachsen lassen. Rothaarig war er auch noch. Er hatte sechs Kinder. Der wohnte in der Grenadierstrasse. Die Strasse war das Zentrum des Ostjudentums in Berlin. Da sprach man polnisch und jiddisch. Es gab dort Händler mit Altwaren, Fleischgeschäfte, Fischgeschäfte, Geschäfte mit Grünzeug, Bäckereien und jüdische Restaurants. Mein Mann und ich sind sehr oft Essen gegangen, wir aßen so gern Kischke mit Fervel, und dort war das so gut. Fervel, das ist Teigware, Tarhonya ist Reibgerste aus Teig. Kischke, das ist gefüllter Darm, sauberer Rinderdarm, und der wurde gefüllt. Da wurde eine Masse gemacht aus Mehl, Fett, ein bisschen Grieß, Salz, Pfeffer, ein bisschen Knoblauch, und damit wurde der Darm gefüllt. Und der wurde mitgekocht oder mitgebraten mit dieser Tarhonya. Es wird ein Teig gemacht, ein harter Teig, und auf einer Reibe gerieben. Und da kommen kleine und größere Stücke raus, und das wird in Fett gebrutzelt. Das schmeckt wunderbar, ach Gott, ich hab das auch oft gekocht.

Es war ein jüdischer Kindergarten in der Gipsstrasse, und in der Auguststrasse war die jüdische Volksschule. Die Direktorin der jüdischen Volksschule war eine Klassenlehrerin von mir in der jüdischen Mittelschule. Ich bringe ihr meine Tochter Bessy, da sagt sie zu mir: ‚Du bringst mir schon deine Tochter?’ Ja, wir waren vier Mädchen in einer Schule. Das vergisst man nicht so schnell.

Meine Geschwister

Meine Schwester Betty, die nur ein Jahr jünger ist als ich, die ist das ganze Gegenteil von mir. Sie redet nicht so viel wie ich, und sie hing an meinem Rockschoß, wo immer ich war. Ich bin mit meinem Mann weggefahren, das war drei Monate nach unserer Hochzeit, denn wir hatten keine Hochzeitsreise gemacht, also sind wir auf fünf Tage über Pfingsten weggefahren. Nächsten Tag war meine Schwester schon da. Sie schlief mit uns im selben Zimmer.

Mein Bruder hieß Anschel wie Rotschild, zu Deutsch Arthur. Er wurde Anschi gerufen. Mein Bruder war wundervoll und ist heute noch wundervoll. Arthur war von Geburt an Zionist. In Berlin war er im Verein Haschomer Hatzair 2. Mein Vater hat gesagt, er soll studieren, aber Anschi meinte, Palästina braucht keine Ärzte und keine Doktoren, Palästina muss aufgebaut werden, da braucht man Bauern. Und nachdem er zwei Jahre im Gymnasium war, ist er weggezogen von zu Hause in seinen Verein, ich glaube es war Habonim, und dann sie sind nach Palästina gefahren. Ich war noch auf dem Bahnhof und hab ihn verabschiedet. Sie gingen ins Hule Gebiet, das war oben im Galil [Galiläa; im Norden Israels]. Da waren nur Sümpfe mit Mücken und Wespen, und die mussten gerodet werden. Dort haben sie gearbeitet, und geschlafen haben sie in Zelten. Er bekam Malaria und Typhus. Er hat viel mitgemacht. Mein Bruder lebt heute in Haifa. Seine Frau, die Rosel, war mit ihm zusammen im Bund 3, sie ist also eine Jugendfreundin. Er wurde Schlosser, hat schwer gearbeitet, von morgens bis abends. Arthur hat zwei Töchter Ruth, verheiratete Dickstein und Jael, verheiratete Rappoport. Beiden Töchtern hat er eine sehr gute Ausbildung ermöglicht.

Meiner Schwester Betty wurde 1933 aus rassischen Gründen gekündigt, und da hat meine Mutter aufgehorcht. Im Dezember 1933 ging Betty nach Palästina. Betty hatte in Berlin beim Gericht gearbeitet und war pragmatisiert. Meine Mutter, die sehr umsichtig und klug war, hat gesagt: ‚Es hat keinen Sinn, Betty, wir müssen uns alle auf den Weg machen, und du wirst die erste sein, die nach Palästina geht!’ Damals verlangten die Engländer ein Zertifikat, das bekam man, wenn man einen bestimmten Beruf ausüben konnte, zum Beispiel einen landwirtschaftlichen oder man hatte viel Geld, dann konnte man ein Zertifikat kaufen.

Betty ging auf Hachschara [‚Tauglichmachung’ für ein Leben in Palästina/Israel]. Sie wurde vom Palästina-Amt 4 nach Polen vermittelt. Dort hat sie in einer Kommune gelebt. Und sie selbst musste die blutigen Häute waschen, die man den Tieren abgezogen hatte. Sie sagte, sie hat sich so geekelt, dass es schrecklich war. Was sie dort anhatte, das hat sie nicht mehr mit nach Hause genommen, das hat sie alles dort gelassen. Sie war so empfindlich: Wenn ich gesagt habe: ,Betty, hast du ein Paar Strümpfe, kannst du sie mir borgen?’, hat sie gesagt: ,Nicht borgen, kannst sie schon behalten.’ Gott behüte, wenn jemand ihren Morgenrock angezogen hat, dann hat sie schon geschrieen.

Damals durfte man schon kein Geld mehr nach Palästina schicken. Aber auf sämtliche Pässe, die wir hatten, durfte man jeden Monat je zehn Mark schicken. Mein Vater hat durch diese Überweisungen in Palästina ein paar hundert Dollar angesammelt.

Betty hat in Palästina zuerst die WIZO 5 Schule besucht, um kochen zu lernen. Die WIZO, das war diese Frauenorganisation. Das dauerte ein halbes Jahr. Sie hat im Haus, in dem sie gearbeitet hat, nämlich bei der Mutter von Chaim Weizmann 6 ihren zukünftigen Mann, Perez Chaim, kennen gelernt. Er war Elektroingenieur bei Rutenberg. Das war eine große Stromfirma in Israel. Sein Vater war ein Theologe. Betty und ihr Mann haben keine Kinder.

Als nächste ging Erna nach Palästina. Sie war vier Jahre jünger als ich. Erna war viel zu Hause, sie hatte schlechte Augen. Auf einem Auge ist sie operiert worden, und auf dem anderen Auge konnte sie auch schlecht sehen. Sie wurde so geboren, und meine Mutter hat immer mit ihr Mitleid gehabt. Die Augen schonen: Erna bleibt zu Hause, sie wird kochen, sie wird die Hauswirtschaft führen. Wir konnten Handarbeiten machen, wir konnten stricken, wir konnten alles Mögliche machen, aber Erna durfte nicht, sie musste ihre Augen schonen. Erna hatte eine Jugendliebe, den Max Selinger. Er konnte sehr gut Geige spielen, meine Schwester hat sehr gut Klavier gespielt, und sie haben immer bei uns in der Wohnung ‑ wir hatten ja ein Klavier ‑ zusammen gespielt. Wir hatten ihn wirklich gern. Bloß seine Mutter hatte andere Pläne mit ihm. Es gab in Berlin den jüdischen Klub Nordau [benannt nach Max Nordau] 7. Erna hat in diesem Klub ihren zukünftigen Mann, Heinz-Werner Goldstein, kennen gelernt. Er war so stolz auf sein ‚Deutschtum’, immer hieß es: ‚bei uns’. Noch in Israel hat er immer alles verglichen: ‚Bei uns war es so, bei uns war es so...’ Wir nannten ihn auch schon ‚bei uns’. Er wollte in Berlin die Hochschule für Politik besuchen. Na, dann ist doch Hitler gekommen, also konnte er nicht. Da ist er nach Frankreich gegangen, um ein Zertifikat zu bekommen. Er hat dort in den Weinbergen gearbeitet.

Erna ist mit Heinz-Werner nach Palästina gegangen, aber er hat keinen Posten gekriegt, und da hat er Zeitungen ausgetragen. Meine Schwester ist putzen gegangen, und später hat sie in ihrer Wohnung einen Kindergarten aufgemacht. Er hat gearbeitet, was er gerade bekommen konnte. Sie haben zwei Kinder bekommen, Aliza und David. Als Heinz-Werner starb, hat meine Schwester ihre Wohnung in Haifa verkauft. Die Tochter und der Schwiegersohn haben noch Geld dazu gelegt und ihr eine Wohnung in Raanana gekauft, damit sie täglich mit ihr zusammen sein können. Sie braucht nur über die Strasse zu gehen. Und sie haben die Wohnung in Raanana genau so eingerichtet, wie sie es in Haifa hatte, damit sie es gut hat.

Cilly ist 1939 zusammen mit meinen Eltern nach Palästina gegangen. Cilly hat in Berlin für das Palästina-Amt gearbeitet. Sie ist in ganz Deutschland zu reichen Juden gereist, um Gelder für die Jugend-Alija [jüdische Einwanderung nach Palästina/Israel der Jugend] zu sammeln. Sie wollte mit ihrem Mann, Rudi Abraham, damals war sie schon verheiratet, nach Palästina fahren, aber das Palästina-Amt hat gesagt: ‚Wir brauchen deine Kraft, deine Sammeltätigkeit!’ Sie hat ein besonderes Auftreten gehabt: Eine elegante Frau war sie, und schön war sie auch. Man hat immer zu ihr gesagt: ‚Wenn du nach Palästina fahren willst, du musst dann nicht warten.’ Sie ist herumgefahren und hat Geld eingesammelt. Sie kann alles. Sie kann Bücher schreiben, in vier Sprachen übersetzen, und sie war Pressesprecherin von Ben Gurion 8. In Amerika war sie Konsulin unter Eisenhower 9. Eineinhalb Jahre war sie in New York.

Sie ist die jüngste von uns vier Mädchen, und sie hat die beste Schulausbildung. Wir mussten alle das machen, was unser Vater gesagt hat, und Cilly konnte machen, was sie wollte; ich weiß nicht, warum? Und das, obwohl ich die Lieblingstochter war! Sie hat das Gymnasium besucht, und gerade als die Nazis 1933 kamen, hatte sie ihr Abitur. Sie fuhr dann eineinhalb Jahre nach Lettland, nach Riga auf Hachschara. Dort hat sie ihren ersten Mann, Rudi Abraham, kennen gelernt. Er war aus Berlin, ein noch nicht fertiger Rechtsanwalt. Er war damals noch Referendar. Sie hat ihn geheiratet und ist mit ihm nach Palästina gegangen. Er musste sein Studium noch einmal beginnen, denn in Palästina galt zu dieser Zeit das türkische Recht. Er musste aber erst einmal die Sprache lernen, und Cilly war damals in Amerika, und er war alleine in Palästina. Sie haben sich auseinander gelebt. Sie war damals eineinhalb, zwei Jahre weg. Die Ehe ging auseinander. In Amerika hat sie ihren zweiten Mann, Joshua Brandstetter, kennen gelernt. Er war 23 Jahre älter als sie. Er war ein Boheme Typ. Er hat Filme gemacht und die israelische Habimah-Truppe [israelisches Nationaltheater] nach Amerika gebracht, die Schauspieler vermittelt, und er hat gemalt. Die beiden sind zusammen geblieben. Er ist an Nierenversagen gestorben.

Während des Krieges

Mein Vater wurde 1938, sofort nach der Reichspogromnacht 10, verhaftet und nach Polen deportiert 11. Er durfte zehn Mark mitnehmen und einen kleinen Aktenkoffer. Ich weiß noch, dass wir ihm seine goldene Uhr mit der Kette mitgegeben haben. Wir hatten auch noch Verwandtschaft in Polen, und ich war immer Verbindungsmann. Ich war ja mit einem Ungarn verheiratet, und ich hatte noch keine Angst. Ich hatte mir ein Visum nach Polen besorgt. Ich wollte zu meinem Vater und ihm Geld bringen. Und wie ich gerade vom Passamt komme, kommt mir meine Mutter entgegen und sagt: ‚Du musst nicht nach Polen, der Papa hat die Erlaubnis bekommen zurückzufahren und mich abzuholen, und wir fahren zusammen nach Palästina.’

Als mein Vater aus Polen zurückkam, wurde alles gepackt. Gerade damals sollte meine jüngere Tochter eingeschult werden, sie war sechs Jahre alt. Meine Schwestern hatten nicht locker gelassen und die Einreise von den Engländern bekommen. Mein Vater ist damals so schweren Herzens weggefahren, denn ich bin noch geblieben mit meiner Familie. Mein Vater hat gesagt: ‚Ich versündige mich!’ Er konnte sich nicht trennen. ‚Ich versündige mich, ich lasse mein Kind hier, und ich gehe!’ Und er hat gesagt: ‚Ich gebe keine Ruhe, bis ich euch rüberhole.’

Mein Vater hatte sich 300 Dollar gespart - in 100 Dollar-Scheinen, drei Stück. Jetzt musste er doch seine Sachen packen. Die Kisten waren schon weg. In den Kisten war sogar das Silberbesteck. Sie wurden in der Wohnung gepackt. Ich habe eine Kiste Bier bestellt. Die Zollbeamten haben gesoffen, und der jüdische Spediteur hat gepackt, sogar meine silbernen Leuchter, die durfte man ja mitnehmen, das war legal. Und wir haben gedacht, dass die Kisten, wenn die Zollbeamten in der Wohnung packen, gleich weggehen. Aber zu unserem Unglück wurden die Kisten am Zollhof noch einmal aufgemacht. Und da haben sie die Silbersachen gesehen und rausgenommen. Aber die jüdischen Packer, es war ja ein jüdischer Spediteur, die haben sie doch wieder eingepackt, die haben das geschafft. Na, also das ist dann weggegangen.

Aber wo versteckt man 300 Dollar? Ich hatte meine Wäsche zum Beispiel, die leicht rutscht, die seidene, auf solchen Wäschebrettern. Die konnte man fertig kaufen, mit so rosa Bändern wurde es dann zugebunden, damit es schön liegt. Meine Mutter kam auf die Idee ‑ sie hat sich ein Stück Pappe besorgt, sie hatte auch einen bunten Stoff, so mit Röschen bestickt ‑ ein Brett nachzumachen und die 300 Dollar hineinzuschieben. Es war nicht so schön wie die richtigen, es war etwas kleiner. Nur meine Eltern und ich wussten von dem Geld. Meine Eltern, meine jüngste Schwester Cilly und ich gingen zum Alexanderplatz, um die Koffer aufzugeben. Meine Schwester stand auf der einen Seite, ich stand auf der anderen Seite. Der Zollbeamte nahm jedes Stück raus und legte es daneben, auch die Wäschebretter. Es waren ja noch viel mehr Wäschebretter drinnen. Und er sagte plötzlich: ‚Na, wo haben Sie denn Ihre Dollar versteckt?’ Mein Vater hatte keine Ruhe, der ist immer wieder rausgegangen, spazieren. Und meine Schwester sagte frech: ‚Wissen Sie was, wenn ich Dollar hätte schmuggeln wollen, hätte ich eine bessere Möglichkeit gefunden.’ Da legte er alles wieder zurück. Mein Vater sagte damals: ‚Resi, ein Hunderter gehört dir!’ Und den Hunderter hat er aufbewahrt, bis ich das erste Mal nach Israel kam, aber ich habe meinen Vater nie mehr wiedergesehen. Er hat aber noch erfahren, dass ich einen Sohn habe. Er ist 1947 gestorben; mein Sohn wurde 1945 geboren.

Mein Mann hat gesagt: ‚Bei uns in Ungarn kann nichts passieren.’ 1939, nach drei Wochen Krieg, musste man die Wohnungen verdunkeln, und es gab Lebensmittelkarten. Die Juden haben natürlich weniger bekommen. Und außerdem hatten wir nur bestimmte Stunden am Tag zum einkaufen; wir konnten nicht während des ganzen Tages einkaufen. Da haben wir die Koffer gepackt und sind nach Budapest, weil mein Mann ja behauptet hat, in Budapest kann das nicht passieren. Ich hatte aber zur Sicherheit die Einreisedokumente für meine Kinder nach Palästina dabei.

Wir fanden eine kleine Wohnung, zwei Zimmer und eine Küche, in Ujpest. Ich hatte schon die Kisten mit meinen Sachen aus Berlin. Die Möbel hatten wir damals schon verkauft. Das waren Notverkäufe. Für mein Schlafzimmer, das 4.000 Mark gekostet hatte, habe ich 400 Mark gekriegt. Aber ich hatte andere Sachen geschickt: Bettwäsche, Gardinen, die Silberleuchter, Silberbesteck. Zu meiner Hochzeit hatte ich Federbetten bekommen, die in Polen hergestellt wurden. Meine Mutter hatte dort die Gänsefedern, die echten, bestellt. Und ich wollte damals eine besondere Größe haben. Das Mittelmaß war ja nur 1 Meter 40 breit für eine Tuchent, und ich wollte sie einen Meter 50 haben. Die wurden dann in Polen angefertigt. In Budapest hatte man weiße Inletts, und meine waren mit roten Inletts. Aber einen Teil meiner Sachen habe ich auch nach Israel geschickt, mit meiner Mutter, falls wir nach Palästina fahren würden.

‚Wartet in Ungarn’, haben meine Eltern geschrieben. Damals konnte man nach Palästina nur einreisen, wenn man ein Zertifikat darüber hatte, dass der Beruf für das Land notwendig ist. Es hieß, wir könnten nur auf Kapitalistenzertifikaten einreisen. Und zu diesem Zertifikat gehörte ein Vermögen von tausend englischen Pfund, die man den Engländern bezahlen musste. Meine Eltern haben uns geschrieben, es wird für uns Kapital in Holland hinterlegt, damit wir als Kapitalisten einreisen können. Aber zu unserem Unglück sind die Deutschen in Holland einmarschiert.

Meine Schwägerin hat mir ihre Küche gegeben; sie war eine reiche Frau. Dann hat sie mir Tisch und Stühle gegeben. Und mein Mann konnte sogar arbeiten. Er war ja selbständig in Berlin. Aber da fuhr er nach Budapest, man fuhr ja nur 20 Minuten mit der Straßenbahn. Und vis-à-vis unserer Wohnung war eine jüdische Mädchenschule. Den Juden ging es noch wunderbar damals in Ungarn. Meine Mädchen waren schon in Berlin in der Schule. Die Ältere hatte schon vier Volksschulklassen, und die Kleine hat damals die erste Klasse besucht.

Es haben zu dieser Zeit sehr viele Juden in Budapest gelebt, ich glaube 200.000.

Meine Schwiegermutter war mit mir nicht einverstanden, weil ich keine Ungarin war. Der Sohn hatte eine Deutsche geheiratet, das hat ihr nicht gefallen. Aber mein Schwiegervater war sehr nett zu mir. Zuerst konnte ich kein Wort Ungarisch, ich habe es später gelernt. Aber die Ungarn, die konnten fast alle Deutsch. Meine Schwiegermutter hatte mir sogar deutsche Briefe geschrieben. Mein Mann hatte einen Bruder, der beim Vater in der Bäckerei gearbeitet hat, der war auch Bäcker. Der war der Liebling meiner Schwiegermutter. Er hat als Einziger überlebt, die anderen sind alle ins KZ gekommen und wurden ermordet. Er hat wahnsinnig viel geerbt nach dem Krieg. Nach einem Jahr hat er nichts mehr gehabt, weil er mit Geld nicht umgehen konnte. Er hat seinen Namen magyarisiert. Sie hießen Weisz, ich hieß ja auch Weisz. Meine Kinder, vor allem die Bessy, haben nach dem Krieg gesagt: ‚Lassen wir das alles begraben sein, was da war. Familie ist Familie!’ Die Familie in Budapest war arm, das war im Kommunismus. Meine Töchter haben Kindersachen gekauft für sein Enkelkind. Ich war oft in Budapest zu Besuch. Ich habe aber nicht bei ihnen gewohnt, denn sie waren sehr arm. Ich hatte dort einen reichen Freund mit seiner Frau. Er war mit uns im Lager gewesen, von da kam die Freundschaft. Er war wunderbar. Er hieß Ferry und war Schuhmacher. Er hatte eine Werkstatt und hat elegante Schuhe gemacht. Ich habe Ungarn geliebt. Ferry ist an Leberkrebs gestorben

Mein Mann ist arbeiten gegangen, die Kinder sind in die Schule gegangen, das war kein Problem. Aber Freunde habe ich nicht gehabt, nur die Familie. Da war die reiche Tochter, die Schwester meines Mannes, die zwei Häuser und ein herrliches Geschäft gehabt hat. Sie hat uns öfter eingeladen, zum Mittagessen, zu den Feiertagen. Sie hat sich 1938 taufen lassen, sie und ihre Freundin, die auch eine sehr reiche Frau war. Meine Schwägerin hatte nur einen Sohn, Stefan ‑ Pista ist die ungarische Abkürzung. Die Freundin hatte eine Tochter. Mein Schwiegervater hat sich wahnsinnig darüber geärgert, dass seine Tochter sich hat taufen lassen. Und er hatte so einen trockenen Humor, er hat den zwei Frauen einmal die Frage gestellt: ‚Warum habt ihr das gemacht?’ Und da hat die Freundin von meiner Schwägerin gesagt, ihre Tochter würde dann eine bessere Partie machen können. Hat mein Schwiegervater zu ihr gesagt: ‚Sie kann einen versoffenen Goi [Nichtjuden] heiraten?’

Es war Weihnachten, und meine Schwägerin hatte einen großen Weihnachtsbaum. Sie hatte eine Köchin, sie hatte im Geschäft einen Verkäufer, sie war elegant, sie hatte Pelzmäntel. Wir sind alle essen gegangen, und wir waren eingeladen: ich mit meinen jüdischen Kindern. Und plötzlich legt sich die Freundin unter den Weihnachtsbaum auf die Erde und sagt: ‚Was für ein herrliches Gefühl unter dem Weihnachtsbaum zu liegen!’ Ich habe geglaubt, ich platze! Ihre Tochter und der Sohn meiner Schwägerin waren mit dem Dienstmädchen vormittags in der Kirche. Und die Kinder kamen nach Hause und zeigten die Heiligenbilder, die sie in der Kirche bekommen hatten. Die Kinder waren zehn Jahre alt, wie meine Bessy. Und die Kleine sagte, wie schön es sei, ein Christ zu sein und zeigte die Heiligenbilder meiner Lilly. Lilly war sechs oder sieben Jahre. Und meine Lilly hat immer wenig gesprochen. Die Große hat geplappert, so wie ich, aber die Kleine, was sie gesagt hat, hat gesessen. Und sie stand da und schaute auf die Heiligenbilder. Meine Große stritt, was besser ist, Jude oder Christ. Und die Kleine hörte sich das an, und mit einem Mal platzte sie heraus: ‚Ja, aber da drinnen ist dein Blut jüdisch.’

Mein Mann ist abends mit meinem Schwiegervater im Kaffeehaus gesessen, und sie haben zugeguckt, wie die Leute dort Karten gespielt haben. Ich war zu Hause mit den Kindern. Es war schon dunkel, und da kam mein Schwiegervater zu mir und sagte: ‚Resi, ich brauche die Papiere vom Michi. Es waren Kriminalbeamte in dem Kaffee, wo wir beide saßen, und Michi hatte nur seinen Pass bei sich.’ Der Pass war in Berlin ausgestellt. Es war ein ungarischer Pass, und der war noch zwei Jahre gültig. Er hatte sich ausgewiesen mit dem Pass, und die haben gesagt, der Pass könnte gefälscht sein, und man hatte ihn verhaftet.

Ich hatte keinen Heimatschein von meinem Mann, der war in Berlin geblieben, als er den Pass genommen hatte. Am nächsten Tag hat sich nichts gerührt. Es war Purim [Anm.: Freudenfest, das an die Errettung des jüdischen Volkes aus drohender Gefahr in der persischen Diaspora erinnert]. Am zweiten Tag ‑ meine Lilly ist im Bett gelegen, sie hatte keine Lust, in die Schule zu gehen, zur Purimfeier, und die Bessy ist in der Schule gewesen ‑ war ich gerade in der Küche und habe gebügelt. Es klopft, und es kommen zwei Herren rein. Sie fragen mich, wer ich bin, stellen sich vor, sie kämen von der Fremdenabteilung, und ich möchte bitte mitkommen. Sie wollten mich und die Kinder mitnehmen. Lilly war zu Hause, und meine Nachbarin hat die Bessy aus der Schule geholt. Ich hatte eine jüdische Nachbarin und habe sie gebeten, meinen Schwiegereltern in der Bäckerei mitzuteilen, was geschehen ist; dass wir verhaftet worden sind.

Meinen Pass habe ich nicht aus der Hand gegeben. Meinem Mann hatten sie den Pass abgenommen. Ich habe meinen Pass also nicht hergezeigt. Das kam gar nicht in Frage. Und dann hat man mich und meine Kinder mit der Straßenbahn ins Internierungslager gefahren. Da hat mein Mann uns gesehen. Als er uns gesehen hat, die Kinder und mich, hat er einen Weinkrampf bekommen. Ich habe ihn getröstet und gesagt: ,Michi, Hauptsache, wir sind zusammen!’

Gewohnt haben wir in Baracken, die an den Tempel angebaut waren. Mit einem Detektiv konnte ich in meine Wohnung gehen, konnte die Wäsche nehmen, konnte sogar eine Daunendecke nehmen für die Kinder, damit sie besser schlafen können. In diesen Baracken waren auch Doppelbetten. Ich war unten, die zwei Mädels waren oben. Männer und Frauen waren getrennt. Am Tage wurden wir von Detektiven bewacht und nachts von einem Polizisten. Wir waren dort vielleicht 40 bis 50 Leute. Da waren wir drei, vier Wochen, dann wurden wir in die Provinz geschickt, da waren die geschlossenen Lager an der tschechischen Grenze. Das waren ehemalige Zollhäuser. Zu uns kamen Leute von der Kultusgemeinde, die haben sich gekümmert. Die Bewacher waren Ungarn.

Ich hatte noch immer die Ausreisepapiere für meine Kinder. Und ich habe immer Rot-Kreuz-Briefe geschrieben ‑ über meinen Cousin in Argentinien, der hat das weiter geleitet ‑ und so war die Verbindung nach Palästina zu meiner Familie da. Mein Schwager schrieb aus Palästina: ‚Schick die Kinder, schick bitte die Kinder, wir werden die Kinder so erziehen, als wenn es unsere eigenen Kinder wären!’ Sie hatten ja Recht, weil die Kinder in Palästina in Sicherheit waren.

Die jüdische Gemeinde in Budapest hat das organisiert. Meine Schwägerin hatte dafür gesorgt, dass meine Kinder auf die Liste kamen und die Einreisebewilligung nach Palästina erhielten. Die Kinder haben staatenlose Pässe bekommen. Unsere Lilly wollte nicht. Sie war, als sie wegfuhren, acht Jahre alt. Bessy war elf. Sie waren dann beide einverstanden, aber die Kleine hat mir gesagt, die Große hat sie so geschlagen, damit sie ‚ja’ sagt. Damit hat sie ihr das Leben gerettet. Ich bekam die Erlaubnis, die Kinder bis Budapest zu begleiten. Mein Mann, der im Männerlager war, durfte die Kinder nur bis zur Station vom Autobus bringen. Er hat sich von den Kindern dort verabschiedet. Das letzte Mal im Leben haben die Kinder ihren Vater gesehen, das letzte Mal!

Wir mussten erst zur Eisenbahn und mit der Eisenbahn nach Budapest. Ein Detektiv hat uns abgeholt und zum Bahnhof begleitet. Lilly stand am Fenster des Zuges, und die Tränen sind ihr gelaufen. Sie sind dann mit der Bahn bis nach Bulgarien gefahren, von dort mit dem Schiff rüber in die Türkei, und von da mit dem Autobus über Syrien nach Palästina. Sie wurden von meinen Eltern in Palästina in Empfang genommen. In Palästina hatten sie schon eine schöne Wohnung und haben die Kinder aufgenommen.

Auf dem Totenschein meines Mannes hat es geheißen: Herzstillstand. Er ist an Flecktyphus gestorben, wurde mir später erzählt. Er war nach Russland geschickt worden, nach Kiew, zum Arbeitsdienst. Die mussten graben und Minen suchen.

Ich bekam dann Urlaub aus dem Internierungslager, und ich hatte noch die kleine Wohnung. Ich habe bei einem Anwalt gearbeitet, musste mich aber alle acht Tage bei der Polizei melden. Ich war die Witwe eines Arbeitsdienstlers. Ich besaß nun eine Witwenbescheinigung.

Meine Schwiegereltern wohnten damals schon in dem Haus meiner Schwägerin ‑ sie hatte doch zwei Häuser. Sie hatte die Eltern zu sich genommen, auch eine Schwester mit Kind und noch eine ledige Schwester. Dann war das Jahr 1944. Da kam Eichmann 12 nach Budapest, um ‚Ordnung’ zu machen. Ich war mit meinem grünen Witwenschein frei und musste mich melden. Mein Mann war ja tot, also hatte ich Vorteile. Ich wollte sehen, wie es der Familie meines Mannes geht, ich wollte mich ja nicht abkoppeln von denen. Ich fuhr mit der Straßenbahn hinaus, um sie zu besuchen. Es war der Tag, an dem Eichmann nach Budapest kam, am 21. oder 22. März, ich weiß das Datum bis heute. Ich stieg aus der Straßenbahn und wurde verhaftet.

Ich wurde zu einem Haus geführt, in dem cirka 400 Menschen waren, alles Juden. Und dort wurden wir eingesperrt, und kein Mensch wusste, wie es weitergeht. Wir wurden in einen Transportwagen gequetscht, und da sind wir gefahren und gefahren und gefahren. Es gab keine Fenster, also wusste man nicht, wohin man fährt. Plötzlich wurden wir ausgeladen und befanden uns auf einem großen Hof. Ich sehe mich um, und sehe, auf der anderen Seite stehen viele gefangene Männer, und wir waren ungefähr 400 Frauen. In der Mitte war eine Wasserpumpe, da hat man ein bisschen Wasser getrunken aus der Hand, und wir stehen und stehen, und es wird dunkel. Mit einem Mal werden wir in das Gebäude gerufen, die Frauen extra. Da saß ein Offizier, der schrieb die Namen auf. Und zwar ging das nach dem ABC, gruppenweise, bei ‚A’ angefangen. Und ich war doch eine der letzten, mit ‚W’, Weisz. Wir standen noch draußen und wussten nicht, was wird, aber niemand kam zurück.

Endlich kamen wir mit ‚W’ dran. Wir gingen hinein, da saß ein Herr, groß, fesch aussehend. Ob er Polizist war, das weiß ich nicht, er hatte eine hellgrüne Uniform an. Also, dann kam ich dran, und ich legte ihm den Totenschein von meinem Mann auf den Tisch, und ich habe gesagt: ‚Ich kann nicht ungarisch sprechen.’ Er schaute mich an und schaute den Schein an, dann schaute er wieder mich an, und dann sagte er auf Deutsch: ‚Sie sind Israelitin?’ Ich sagte: ‚Ja!’ Ich konnte ja nichts anderes sagen, und er guckte mich wieder an. Dann fragte er mich, wo ich hin wollte. Habe ich gesagt: ‚Ich wollte zu meinen Schwiegereltern, ich wollte sie besuchen, und da hat man mich hierher gebracht.’ Ich habe aber immer noch nicht meinen Pass gezeigt. Dann wurden wir in ein Riesenzimmer geführt, und da waren wir wieder ungefähr 400 Frauen. Es war das Untersuchungsgefängnis von Budapest, in der Nähe des Keleti-Bahnhofes. Es war Nacht, wir wurden eingeschlossen, und in dieser Nacht wurde Budapest schon bombardiert: am Tage von den Amerikanern und Engländern, nachts von den Russen. Wir saßen und haben immer die Kugeln gesehen, die leuchtenden Kugeln, die die Russen geworfen haben, bevor sie die Bomben warfen. Die Frauen haben gebetet, die nächste Bombe soll doch auf uns fallen. Denn wir haben ja das Schlimmste befürchtet, das Schlimmste überhaupt. Wir waren vier Tage drinnen: Wir kamen am Dienstag, und am Freitag wurden wir entlassen. Die wussten nicht, wohin mit uns. Die Männer wurden deportiert, das wussten wir. Aber sie wussten nicht, wohin mit den 400 Frauen. Sie hatten keine Züge. Das war unser Glück.

Ich hatte Angst, in mein Zimmer zu gehen, denn man musste ja seine Adresse angeben bei der Entlassung. Aber wir hatten eine Wiener Freundin, die in Budapest mit einem Ungarn verheiratet gewesen war, eine Witwe. Er war Christ, sie hatten eine 15jährige Tochter damals, die Susi. Ich bin zu Fuß zu ihr hingegangen. Und wie sie mir die Tür aufmachte, machte sie plötzlich solche Augen. ‚Resi, du lebst?’ Und was soll ich sagen, ich öffnete die Tür vom Zimmer, und da saß mein zukünftiger Mann, Alfred Rosenstein, mit einem Freund. Ich kannte ihn aus dem Internierungslager. Er sah mich, wir hatten noch kein Verhältnis, gar nichts, er stürzte auf mich zu, umarmte mich und sagte: ‚Resi, uns trennt niemand mehr!’

Mein Mann Alfred Rosenstein wurde am 17. April 1898 in Wien als fünftes Kind von Süsie Rosenstein ‑ geboren in Rohatyn, Galizien ‑ und Beile Rosenstein, geb. Bienstock, geboren. Süsie, ein Nachkomme des ‚HaSchalo hakadosch’ [berühmter Rabbiner, Vorläufer des Chassidissmus], war Schneider oder Textilhändler und starb 1926. Beile starb 1945 in London.
Mein Mann hatte sechs Geschwister: Moritz, Franziska, Samuel, Josef, Cilly und Hedi.
Moritz Rosenstein, Mur genannt, war Chemiker, Teilhaber an einer Erdölraffinerie in Wien und wurde vom Anschluss 13 während einer Geschäftsreise in London überrascht, wo er dann auch blieb. Er starb in den 1950er-Jahren und kam nie mehr nach Wien zurück. Seine Tochter Hanni lebt in Tel-Aviv; sein Sohn fiel im 2. Weltkrieg. Hanni hat zwei erwachsene Töchter.
Franziska Wessely, geb. Rosenstein, flüchtete aus Wien nach Jugoslawien. Sie lebte mit falschen Papieren in Slowenien und beging Selbstmord, als Ustascha-Milizionäre 14 an die Tür klopften. Die Ustascha-Milizionäre wollten sich eigentlich nur nach dem Weg irgendwohin erkundigen.
Samuel Rosenstein flüchtete mit Frau und zwei Kindern nach Holland. Er und seine Familie wurden von den Nazis ermordet.
Josef Rosenstein war Versicherungsvertreter. Auch er flüchtete nach Jugoslawien und wurde von der Ustascha ermordet.
Cilly gelang es, über England nach Australien zu emigrieren. Sie starb 1962. Ihre Tochter Fairlie Nassau, geboren 1945, lebt in Melbourne und hat zwei erwachsene Kinder.
Hedi Pahmer [geb. Rosenstein] heiratete einen Ungarn, mit dem sie nach Budapest ging. Sie wurden in das KZ Bergen-Belsen [Deutschland] deportiert, wo sie den Krieg überlebte. Nachher emigrierte auch sie nach Australien.
Die Familie Rosenstein lebte im 3. Wiener Bezirk, in der Unteren Weißgerberlände. Mein Mann besuchte die Volks- und Hauptschule. 1916 wurde er zum k. u. k Militär 15 eingezogen und war Artillerist an der italienischen Front. Nach dem 1. Weltkrieg arbeitete er bei seinem Bruder Moritz, spielte Fußball bei Hakoah 16 Wien und verbrachte viel Zeit mit Freunden im Kaffeehaus. Er wohnte bis zu seiner Flucht nach Ungarn bei seiner Mutter, deren ‚verwöhnter Liebling’ er gewesen sein soll. Während der Emigration war er zuerst im Internierungslager und, nach dem Einmarsch der Deutschen, in einem Versteck.
Ich kannte meinen zukünftigen Mann aus dem Lager. Er war so charmant, die Frauen waren verrückt nach ihm. Mein Mann ist dann erst einmal zu mir gezogen. Nicht nur er, da kam noch ein Freund von ihm dazu, und dann kam eine Nichte von mir aus Ungarn. Sie hatte von einer Freundin einen Geburtsschein bekommen, von einer Christin, und ist dann geflüchtet. Ein bildschönes Mädchen, die Jola. Ein christlicher Freund von meinen Schwiegereltern wusste meine Adresse in Budapest. Und sie kam zu mir. Mein Mann schlief in einem Bett mit dem Freund, und sie schlief mit mir in einem Bett. Später ist sie nach Amerika ausgewandert. Sie hat einen Witwer, dessen Frau umgekommen ist, mit einem kleinen Sohn kennen gelernt. Der hat sich in sie verliebt, und mit dem ist sie nach Italien. Von Rom hat sie mir noch eine Karte geschrieben, dass sie geheiratet hat und mit ihm nach Amerika geht. Sie hat noch vier Kinder bekommen, zwei Töchter und zwei Söhne.

Wir hatten einen gemeinsamen Bekannten, der war mit uns im Lager, der war ein jugoslawischer Jude. Er hatte sich ein paar Monate vorher falsche Papiere gekauft. Ausgesehen hat er wie zehn Juden. Der hat den Hausmeister einer Villa bestochen, und wir haben uns dann zu neunt in einem Zimmer vor den Massendeportationen versteckt. Der Hausmeister hat Geld dafür genommen, den konnte man bestechen. Am Ende, als schon alles aus war, als wir schon getanzt haben auf der Strasse, kamen aus der Nebenvilla plötzlich 60 Juden, die der Hausmeister für Geld und Schmuck versteckt hatte; in Kohlenkellern und überall. Deswegen sage ich, in Budapest konnte man alles für Geld bekommen.

Ich hatte gemerkt, dass ich schwanger bin. Und ich habe gesagt, entweder das Kind geht mit mir zu Grunde, oder ich tue etwas. Und mein Mann hat gesagt: ‚Du tust gar nichts. Wenn wir überleben, werden wir das Kind haben.’ Er hat es nicht erlaubt. Aber ich bin trotzdem gegangen. Der Arzt, der im Ghetto war, hat gesagt: ‚Ich tue nichts, wollen Sie an Sepsis sterben?’ Er hatte ja keine Instrumente, gar nichts. Und mein Mann hat gleich gesagt: ‚Kommt nicht in Frage, dass du was tust. Wir werden heiraten!’ Unser Sohn Georg wurde am 27. Juni 1945 in Budapest geboren. Na gut, das hat noch gedauert, bis wir geheiratet haben, das war 1947, da war unser Sohn eineinhalb Jahre alt.

Wir lagen mit Mänteln in dem Zimmer ‑ es waren keine Fenster mehr da ‑ plötzlich höre ich eine Stimme durch ein Megaphon: ‚Hier spricht die Russische Armee. Budapester wartet, wir werden euch befreien!’ Um Budapest herum ist ein Hügel. Es hat Tage gedauert, bis die rüber kommen konnten. ‚Harrt aus, wir befreien euch!’ In deutscher Sprache, in ungarischer, in russischer Sprache. Und so haben wir gewartet. Und eines schönen Tages, es war Sonntag, stehe ich so hinter dem Fenster, es war eine Totenstille, und ich sehe, wie durch den Garten ein Russe mit Pelzmütze und Maschinengewehr kommt. Ich drehe mich um und sage: ‚Ein Russe ist da!’ Und einer rennt hinunter in den Garten und umarmt den Russen. Und als er wieder zurückkommt, Steiner hieß er, hat ihm die Uhr gefehlt. Aber er hat gesagt: ‚Macht nichts!’

Meine Freundin war woanders versteckt. Das war eine Tschechin, die war versteckt in einem Kohlenkeller. Die hat immer gesagt: ‚Dem ersten russischen Pferd, dass mir begegnet, dem küsse ich den Hintern!’

Nach dem Krieg

Ich bin nach der Befreiung in Budapest durch die Stadt gegangen, und ich stand am Zaun des Tempels und habe zugeschaut, wie die Russen die Toten aus dem Ghetto dort beerdigt haben. Überlebende konnten ihre Toten herausnehmen und privat beerdigen. Tony Curtis 17, der Filmschauspieler, der ist doch ein Ungar, ein Budapester Jude, der hat dann dort einen Baum aufstellen lassen, eine herrliche Weide, die glänzt wie Gold. Auf die Blätter kann man die Namen der Ermordeten schreiben lassen.

Ich bin in Ungarn geblieben, ich habe gesagt, ich gehe nicht nach Wien, bis wir eine eigene Wohnung haben. Und mein Mann hat immer gesagt, es gibt noch nichts zu essen, kein Fleisch beziehungsweise nur Schwein. Ich habe mich in Ungarn sehr wohl gefühlt. Ich habe gesagt: Ich gehe erst weg, wenn ich eine eigene Wohnung habe, und wenn genug zu Essen da ist. Und so ist er immer hin- und hergefahren, und immer hat es geheißen: noch nicht, noch nicht.

Seine Schwestern hatten vor dem Krieg ein Restaurant – ‚Grill am Peter’ hieß das ‑ aber das war arisiert worden. Und dann wollte mein Mann Wiedergutmachung beantragen, das Vermögen zurückbekommen. Das Lokal gehörte eigentlich seiner ältesten Schwester, die umgekommen ist. Die hatte es für die Geschwister eingerichtet. Die Geschwister meines Mannes waren in Australien. Die haben damals das Lokal den Nazis übergeben. Sie haben eine Bescheinigung erhalten, dass sie 5.000 Mark bekommen haben, daraufhin konnten Sie legal nach England. Eine Schwester hat einen Mann geheiratet, mit dem sie nach Australien ging. Die andere Schwester wurde nach Bergen-Belsen deportiert, die hat mit einer schweren Verletzung überlebt. Sie musste erst wieder laufen lernen, und sie ging dann auch nach Australien.

Mein Mann hat einen Prozess angestrebt ‑ damals gab es Rückgabe-Gerichte. Und da waren immer nur zwei Richter da. Die Arierin, die das Lokal übernommen hatte, war tot. Ihr Sohn hatte es übernommen. Beim ersten Prozess hat mein Mann ein Angebot erhalten, als Entschädigung 35.000 Schilling zu bekommen. Unser Rechtsanwalt war der Doktor Pik, der spätere Präsident der Kultusgemeinde. Er war ein Schulkollege meines Mannes. Beim zweiten Termin wurden 65.000 Schilling geboten. Da hat der Anwalt zu meinem Mann gesagt: ‚Wenn er schon 65.000 gibt, dann wird er noch mehr geben.’ Beim dritten Mal waren drei Richter anwesend. Zwei haben gesagt, man muss es zurückgeben. Mein Mann wollte gar nicht das Geld, er wollte das Lokal zurück haben, damit wir eine Existenz haben. Der dritte Richter hat gesagt, man kann dem jungen Mann, der es jetzt besaß, nicht die Existenz wegnehmen, da er mit der Arisierung nichts zu tun hatte. Das war schon damals die Einstellung. Der junge Mann hat das Lokal gekriegt, weil sich nicht alle drei Richter einig waren. Mein Mann hat nichts für das Lokal bekommen.

Mein Mann hatte eine Bescheinigung, dass er rassisch verfolgt und im Lager gewesen war. Damals waren die Bezirke Wiens unter den Siegermächten aufgeteilt. Unser Bezirk hatte einen kommunistischen Bürgermeister, und mein Mann hat durch diese Bescheinigung die Wohnung zugewiesen bekommen.

Ursprünglich wollte ich nicht nach Österreich, ich wollte zu meinen Kindern und meinen Eltern nach Israel. Aber da hat mein Mann gesagt, er habe keinen Beruf für Israel. Er war Geschäftsmann und hatte für seinen Bruder, der eine große Ölfirma hatte, gearbeitet. Er war Vertreter für diese Sachen. Das war kein Beruf für Israel. Da musste man Geld haben, Geld, um sich selbständig zu machen. Was hätte er machen sollen in dem Alter? Er war ja zehn Jahre älter als ich, auch nicht mehr so ein Jüngling. Er wollte nach Österreich, um Wiedergutmachung zu beantragen, das Geld zu bekommen, damit wir nach Israel gehen könnten.

Ich bin hier in Wien geblieben, weil ich nicht wollte, dass mich meine Kinder oder meine Verwandten aushalten. Das erste Mal fuhr ich mit meinem Sohn 1949 nach Israel. Damals ist man noch mit dem Schiff gefahren. Und das erste Geld, das mein Mann damals bekommen hat, war eine Wiedergutmachung, das waren 16.000 Schilling. Er hat gesagt: ‚Fahr du, um deine Kinder zu sehen.’ Für uns zwei hätte das Geld nicht gereicht.

Damals bin ich fünf Tage mit dem Schiff hingefahren. Es war schön. Da hat noch meine Mutter gelebt. Sie hatte eine hübsche Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Tel Aviv. Meine Schwester hatte eine wunderschöne Wohnung direkt am Meer in der Hayarkon [Straße am Meer in Tel Aviv]. Nachher hat man da Hotels hingebaut, da konnte man das Meer von der Wohnung aus nicht mehr sehen.

Meine Tochter Bessy war schon mit Herrn Aharoni verheiratet und hat schon ein Baby von fünf Monaten gehabt. Sie hat mit 18 Jahren im Militär geheiratet, im israelischen Militär. Sie hat dann später zehn Jahre in der Stadtverwaltung gearbeitet und sich um alte Leute gekümmert.

Lilly, verheiratete Drill, ist ein Jahr zu mir nach Wien gekommen. Sie war damals genau 18, das war 1951. Sie hatte in Israel die Schule besucht, aber sie konnte natürlich Deutsch sprechen. Meine Mutter hat nie hebräisch gelernt. Meinen Vater habe ich nie wieder gesehen, das war furchtbar. Lilly wollte von Anfang an Lehrerin für behinderte Kinder werden, sie ist dafür in Wien in eine Schule gegangen.

Mein Sohn ging nach der Matura nach Israel. Das war kurz nach dem Tod meines Mannes [1961]. Er lebte im Kibbuz und studierte Psychologie. Er nahm dort den Namen Zwi Bar-David an. Er heiratete Ilana, deren Familie mütterlicherseits auch aus Berlin kommt, aus dem Scheunenviertel, und bekam zwei Töchter und einen Sohn. Wegen einer Muskelerkrankung seines Sohnes zog er mit seiner Frau, meinem damals dreijährigen Enkel Ofir, und Noemi, seiner jüngeren Tochter, nach Wien. Seine ältere Tochter Noga lebt in Israel und arbeitet als Krankenschwester. Mein Enkel absolvierte dieses Jahr mit sehr guten Leistungen die Matura und studiert an der Technischen Universität in Wien.

Die Österreicher waren mir unsympathisch. Ich habe sie immer als Nazis gesehen. Einmal, Anfang der 1950er-Jahre, war ich zwei Monate in Israel. Als ich wieder in Wien war und zu meinem Bäcker ging und Brot kaufte, fragte mich die Bäckersfrau: ‚Sagen Sie Frau Rosenstein, wo waren Sie so lange?’ Sagte ich: ‚Ich war in Israel!’ Guckte sie mich an und sagte: ‚Sie sind eine Jüdin? Sie sehen aber nicht so aus!’ Darauf habe ich ihr geantwortet: ‚Warum Frau Schubert? Ich habe keine Hörner auf dem Kopf?’ Sagte sie: ‚Nein, um Gottes Willen, ich will nichts sagen. Wir haben einen Lieferanten gehabt, den Mehljud, und das war auch ein anständiger Mensch.’ Das war Anfang der 1950er-Jahre. Im Laufe der Jahre hat sich das nicht so sehr verändert. Es geben uns doch hier der Haider 18 oder der Stadler [Ewald, FPÖ-Politiker] genug Gelegenheit, daran zu denken. Wenn man auch vergessen will, man kann nicht. Wir kriegen immer wieder eins auf den Kopf.

Ich hatte keinen Antisemitismus in Deutschland empfunden. Ich hatte in der Werkstatt meines Vaters mit unseren christlichen Arbeitern gelacht und gescherzt. Viele haben auch gewusst, wann unsere Feiertage waren. Am liebsten wäre ich nach dem Krieg wieder nach Berlin gegangen. Ich glaube, mein Mann wäre auch gern mitgegangen. Das war aber nicht möglich. Dann kam dieses Unglück mit der Krankheit: Er bekam Krebs. 1961 starb mein Mann, da war er 63 Jahre.

Ich wollte nicht mehr heiraten. Man hat es mir angetragen, und es hat sich sogar einer gemeldet, ein Freund meines Mannes. Da war mein Mann gerade zwei Jahre tot, es war Weihnachten, meine Familie hat hier gewohnt, und die Kinder waren noch jung. Ich habe kein Interesse gehabt. Ich habe nur zwei Männer in meinem Leben gehabt, und ich weiß, dass beide mich geliebt haben. Die wurden nicht vermittelt, die haben mich so kennen gelernt, wie ich bin. Mein erster Mann ist mir ein ganzes Jahr hinterher gelaufen.

Ich war mit meiner Schwester in Berlin, aber damals war noch Ost und West. Und wir hatten einen Bekannten, der auch schon im Westen war, noch von der Jugend, ein Nachbarskind, der Sali, und wir wollten rüber in den Osten, in unsere Heimat, fahren. Man musste 25 Mark wechseln, in Ostmark. Und er hat gesagt: ‚Nein, um Gottes Willen, wer weiß was passiert, vielleicht werdet ihr Unannehmlichkeiten haben.’ Und er hat es uns ausgeredet. Später war ich mit meiner Enkeltochter in Ost-Berlin. Ich bin nicht da hingegangen, wo wir gewohnt haben, ich konnte das nicht.

Glossar

1 Sabbatisten

Die Sabbatisten leiteten sich aus einer der anerkannten Konfessionen Siebenbürgens des 16. Jahrhunderts her und näherten sich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer mehr dem Judentum. Die Heilige Schrift war für sie einzig das Alte Testament. Der christliche Sonntag wurde durch den jüdischen Sabbat ersetzt. Der Widerstand gegen diese ‚neue’ Religion war heftig, besonders von Seiten der katholischen Kirche.

2 Haschomer Hatzair [hebräisch - ‚Der junge Wächter‘]

Erste Zionistische Jugendorganisation, entstand 1916 in Wien durch den Zusammenschluß von zwei jüdischen Jugendverbänden. Hauptziel war die Auswanderung nach Palästina und die Gründung von Kibutzim. Aus den in Palästina aktiven Gruppen entstand 1936 die Sozialistische Liga, die sich 1948 mit der Achdut Haawoda zur Mapam [Vereinigte Arbeiterpartei] Zusammenschloss.

3 Bund

Ungefähr zeitgleich mit dem ersten Zionisten-Kongress in Basel entstand 1897 auf der Konferenz in Wilna aus der Vereinigung der jüdisch-sozialistischen Gruppen die einheitliche Partei der Bund. Dank ihrer energischen Tätigkeit gelang ihnen rasch der Aufstieg und Erfolg, vor allem in Russland und Polen. Durch die Machtzunahme Stalins in der Sowjetunion wurden die Bundisten alsbald aufgelöst oder gingen in andere bzw. in die einzig zugelassene Kommunistischen-Partei über. Der polnische Bund hingegen, der kontinuierlich weiter arbeiten konnte, beeinflusste in starkem Ausmaß sowohl die gewerkschaftliche als auch kulturelle Arbeit und stellte selbst im politischen Leben einen bedeutenden Faktor dar. Die Bundisten waren Anhänger des Gedankens einer national-kulturellen Autonomie und damit Vorkämpfer der Jiddischen Sprache als Nationalsprache.

4 Palästina-Amt

Auswanderungs-Organisation der Jewish Agency in Deutschland, die ausschließlich die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung nach Palästina durchführte. Das Palästina-Amt kümmerte sich um die nötigen Visa und den Transport der EmigrantInnen. Nach dem Novemberpogrom 1938 wurde das Amt unter stärkere Kontrolle gestellt, konnte aber noch bis Frühjahr 1941 weitgehend eigenständig arbeiten.

5 Wizo

Akronym für Womens International Zionist Organisation. International tätige zionistische Frauenorganisation.

6 Weizmann, Chaim [1874-1952]

Wissenschaftler, Präsident der Zionistischen Weltorganisation und erster Präsident Israels. Weizmann wurde in Weißrussland geboren, ging 1892 nach Deutschland, wo er in Darmstadt und Berlin Chemie studierte, wurde 1901 Professor and der Universität in Genf und drei Jahre später in Manchester. Er begrüßte Theodor Herzls Aufruf zur Teilnahme der Juden am ersten Zionistischen Kongress; beim achten Kongress 1907 wurde Weizmanns Einstellung eines Synthetischen Zionismus – politische Aktivität in Verbindung mit praktischer Arbeit ‑ übernommen. 1920 wurde er zum Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation gewählt, hielt das Amt bis 1931 sowie von 1935 bis 1946. Drei Jahre später wurde er von der Konstituierenden Versammlung zum ersten Präsidenten des Staates Israel gewählt. Trotz seiner schweren Krankheit wurde er 1951 für eine zweite Amtsperiode wiedergewählt; Weizmann starb jedoch ein Jahr später in seinem Haus in Rechovot.

7 Nordau, Max [geboren Simon Maximilian Suedfeld] [1849-1923]

Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation, Philosoph, Schriftsteller, Redner und Arzt. Nordau wurde 1895 mit Theodor Herzls Idee eines jüdischen Staates vertraut, nahm diese begeistert auf und fungierte als Vizepräsident und Präsident auf zahlreichen Zionistischen Kongressen. Nordau war ein Anhänger des Politischen Zionismus und glaubte, dass eine große Zahl von Diasporajuden nach Israel geführt werden sollte, um so auch politische Unabhängigkeit zu erreichen. Diese Ansicht wurde von anderen zionistischen Führern als unrealistisch zurückgewiesen. Max Nordau starb 1923 in Paris; seine sterblichen Überreste wurden 1926 nach Tel Aviv überführt.

8 Ben Gurion, David [geboren David Grün] [1886-1973]

Politiker und erster israelischer Ministerpräsident. Ben Gurion wurde in Plonsk, Polen, geboren und ging 1906 nach Israel, wo er ab 1910 in Jerusalem gemeinsam mit Jitzchak Ben Zwi für die Zeitung der Palei Zion, „Ahdut”, arbeitete. Ab 1912 studierte er Jura an der Universität in Istanbul, wurde im März 1915 allerdings ausgewiesen und ging nach New York. Ben Gurion wurde nach dem 1. Weltkrieg Mitbegründer der Gewerkschaft Histadruth und war von 1930 bis 1965 Vorsitzender der Arbeiterpartei Mapai. 1948 proklamierte er den unabhängigen Staat Israel, war bis 1953 Ministerpräsident, danach Verteidigungsminister, als welcher er entscheidenden Anteil an den Siegen Israels in den beiden ersten Israelisch-Arabischen Kriegen hatte, und von 1955 bis 1963 erneut Ministerpräsident. Im Jahr 1970 zog sich Ben Gurion endgültig aus der Politik zurück und lebte im Kibbuz Sde Boker, wo er am 1. Dezember 1973 starb.

9 Eisenhower, Dwight David [1890-1969]

Amerikanischer General, Politiker und 34. Präsident der Vereinigten Staaten. Während des 2. Weltkriegs war er Chef der Operationsabteilung des Generalstabs, Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen in Europa und koordinierte von London aus die Streitkräfte für den Krieg in Afrika und Europa. Am 7. Mai 1945 kam es im Hauptquartier Eisenhowers zur Unterzeichnung der deutschen Kapitulation. Eisenhower wurde in Folge Generalstabschef der US-Armee und NATO-Oberbefehlshaber von 1950-52. Im November 1952 gewann er die US-Präsidentschaftswahl. 1953 erlangte er das Waffenstillstandsabkommen im Koreakrieg, 1956 konnte er gemeinsam mit der Sowjetunion die Suezkrise beilegen, im selben Jahr wurde er als Präsident der USA wiedergewählt. 1961 übergab er die Regierungsgeschäfte an John F. Kennedy und zog sich auf seine Farm bei Gettysburg zurück. Eisenhower starb am 28. März 1969 in Washington D.C.

10 Reichspogromnacht; Novemberpogrom

‚Kristallnacht’ ist die Bezeichnung für das [von Goebbels organisierte] ‚spontane‘ deutschlandweite Pogrom der Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Im Laufe der ,Kristallnacht’ wurden 91 Juden ermordet, fast alle Synagogen sowie über 7000 jüdische Geschäfte im Deutschen Reich zerstört und geplündert, Juden in ihren Wohnungen überfallen, gedemütigt, verhaftet und ermordet.

11 Polenaktion 1938

Rosa Rosenstein bezieht sich hier vermutlich auf die sogenannte "Polenaktion", die Deportation von etwa 17.000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsbürgerschaft aus dem Deutschen Reich zur polnischen Grenze Ende Oktober 1938. Zu den Ausgewiesenen zählte die Familie Grynszpan aus Hannover, deren Sohn Herschel in Paris lebte. Als Herschel vom Schicksal seiner Familie erfuhr, verübte er aus Protest gegen die Deportation am 7. November 1938 ein Attentat an der deutschen Botschaft in Paris, das den Tod des Botschaftssekretärs Ernst vom Rath zur Folge hatte. Dies nutzten die Nationalsozialist*innen als Vorwand für die darauffolgenden Novemberpogrome. Nach den Novemberpogromen - der Zeitpunkt, den Rosa für die Deportation ihres Vaters benennt - wurden tausende jüdische Männer aus Berlin nach Sachsenhausen deportiert, nicht jedoch nach Polen. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Rosa den Zeitpunkt der "Polenaktion" durcheinanderbringt.

12 Eichmann, Otto Adolf [1906-1962]

SS-Obersturmbannführer, organisierte die Vertreibung und Deportation der Juden aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten. Nach dem Anschluss im Jahre 1938 baute er in Wien die Zentralstelle für jüdische Auswanderung auf, welche die zwangsweise Ausreise der jüdischen Bevölkerung aus Österreich betrieb. Ab 1941 war Eichmann für die Organisation der Deportation der Juden aus Deutschland und den besetzen europäischen Ländern zuständig und mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Juden. 1960 wurde Eichmann von Mossad-Agenten in Argentinien gefasst und nach Israel gebracht, wo er wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet werde.

12 Anschluss

Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Schuschnigg am 11. März 1938 besetzten in ganz Österreich binnen kurzem Nationalsozialisten alle wichtigen Ämter. Am 12. März marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Mit dem am 13. März 1938 verlautbarten ‚Verfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich‘ war der ‚Anschluss‘ de facto vollzogen.

13 Ustascha

Rechtsradikale kroatische Bewegung, die 1929 von Ante Pavelic gegen den großserbischen Zentralismus und für eine kroatische Unabhängigkeit gegründet wurde. Die Ustascha stellte 1941, nach der Unabhängigkeit Kroatiens, Truppen auf, die sich unter dem Schutz des nationalsozialistischen Deutschlands und des faschistischen Italiens mit blutigem Terror durchsetzten. Nach dem Zusammenbruch Kroatiens im Jahr 1945 ging Pavelic ins Exil. Der damals aufgestaute Hass führte noch im Bürgerkrieg in den 90er-Jahren zu Racheakten serbischer Tschetniks.

14 Kaiserlich und königliche Armee

Die Abkürzung k.u.k steht für ‚kaiserlich und königlich’ und ist die allgemein übliche Bezeichnung der Armee Österreich-Ungarns, die ein Konglomerat aus verschiedenen Nationen, Waffengattungen und Interessen war.

15 Hakoah

Hakoah Wien ist ein 1909 gegründeter jüdischer Sportverein. Der Name ist hebräisch und bedeutet ‚Kraft‘. Bekannt wurde vor allem die Fußballmannschaft [gewann 1925 die österreichischer Meisterschaft]; der Verein brachte auch Ringer, Schwimmer und Wasserballer hervor, die internationale und olympische Titel für Österreich errangen.
Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich wurden die Spielstätten beschlagnahmt und der Verein 1941 verboten.

16 Curtis, Tony (geboren Bernhard Schwartz)

Amerikanischer Filmschauspieler ungarisch-jüdischer Abstammung.

17 Haider, Jörg

Österreichischer Politiker, 1986 stürzte er am Innsbrucker Parteitag den damaligen FPÖ-Chef Norbert Steger. 1989 wurde Haider mit Stimmen der ÖVP zum Kärntner Landeshauptmann gewählt, drei Jahre später jedoch aufgrund seiner Aussage zur  ‚ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich’ abgesetzt. 1993 organisierte er das sogenannte  ‚Ausländer-Volksbegehren’, das ein Misserfolg wurde. Bei den Nationalratswahlen 1999 wurde die FPÖ erstmals seit ihrer Gründung zur zweitstärksten Partei Österreichs.