Renée Molho

Renee and Solon Molho

Renée Molho
Thessaloniki, Griechenland

Renée Molho ist 83 Jahre alt. Trotz kleiner Gehprobleme ist sie eine schöne und elegante Dame. Sie wohnt allein in einer großen Wohnung, die sie früherer mit ihrer Familie teilte. Sie hat einen großen Balkon und ist sehr stolz auf ihre Blumen. Blumen sind überall, fast in jedem Bilderrahmen. Sie erklärte mir, es ist eine Art Anerkennung für den Mann, der ihr das Leben rettete. Sie war während des Interviews sehr emphatisch und klopfte auf dem Tisch. Sie bemühte sich, Griechisch zu reden, aber sie spricht auch Ladino und verwendet nach Belieben englische und französische Wörter. Sie erzählt mit Leidenschaft – sie flüstert vor Angst und wird angespannt vor Wut. Vor nur zwei Jahren hörte sie im Alter von 81 auf, in der Buchhandlung zu arbeiten, die sie zusammen mit ihrem Mann verwaltete. Sie arbeitete seit der Befreiung dort. Sie war für die französischen Bücher zuständig, weshalb der Laden in ganz Griechenland bekannt wurde.

Familienhintergrund

Ich bin Renée Molho; mein Mädchenname ist Saltiel Abravanel. Ich wurde am 9. August 1918 in Thessaloniki geboren. Während der deutschen Besatzung wohnte ich in Israel. Ich spreche Griechisch, Französisch, Englisch und Spanisch [Ladino] und ich verstehe Italienisch.

Ich habe zwei Schwestern: Matilde Dzivre wohnt in Athen und Eda Saporta wohnt in Paris. Matilde wurde 1917 und Eda 1921 geboren. Sie sprechen dieselben Sprachen wie ich.
Alle Familienmitglieder waren spanische Staatsbürger. Wir stammen ursprünglich aus Spanien, aber wo genau weiß ich nicht.

Meine Großmutter mütterlicherseits hieß Mazaltov Saltiel (nee Saporta) und mein Großvater hieß Samuel Saltiel. Großmutter Saporta wohnte allein in einer Wohnung in einem zweistöckigen Wohnhaus. Im ersten Stock wohnte mein Onkel Sinto und im Erdgeschoss wohnte meine Großmutter. Sinto war der älteste von Omas Söhnen.

Die Geschwister meines Vaters, Joseph Samuel Saltiel, waren: Sinto, dann mein Vater Joseph, dann Onkel Avram, Onkel Mentesh, Ongel Sabetai und dann Tante Sol, die mit [Vidal] Amarilio verheiratet war, Tante Julia, Tante Berta und Tante Bellika.

Onkel Sinto war mit Bella Malah verheiratet. Ihre Kinder waren Samuel, Mathilde, Linda, Rosa, Renée und Alice.

Onkel Avram war mit Regina verheiratet – Tante Regina, wer weiß wie sie mit Nachname hieß. Sie hatten zwei Kinder, Leilia und Mathilde.
Onkel Mentesh hatte mit Rachelle Pinhas zwei Söhne, Samiko und Moris.

Onkel Sabetai war mit Rene, Tante Rene, verheiratet, und hatte Samiko und Julia. Sie waren alle spanische Staatsbürger.

Mein Großvater mütterlicherseits wurde früher Nadir genannt, aber eigentlich hieß er Shabetai. Sie nannten ihn Nadir, weil er ein sehr beharrlicher und intelligenter Mann war. Er stand früher immer um vier Uhr morgens auf, um französisch zu lernen. Immer wenn die Türken eine Rede halten mussten, musste er sie vorbereiten. Er war ein guter Mann und sie haben ihn so gerne gehabt, dass sie ihn Nadir genannt, was auf Hebräisch und Türkisch ‚selten’ heißt. Sie haben ihn immer gemocht und geschätzt. Ich weiß nicht was er beruflich machte, da er schon tot war, als meine Mutter, Stella Abravanel, heiratete. Ich wusste nur von ihm.

Meine Großmutter mütterlicherseits hieß Rikoula Abravanel, geboren Tsinio. Sie wohnte mit ihren Kindern, die Geschwister meiner Mutter. Sie waren David, Pepo, Leon und Mario - alle hießen Abravanel – sowie Rachelle, die mit Avram Haim, der Waschtuchverkäufer, verheiratet war. Sie hatten zusammen fünf Kinder: Lina, Elio, Renée, Nadir und Silvia.
Onkel Pepo heiratete Mitsa Rosengrad. Sie wohnten hier in Thessaloniki und hatten eine Tochter, Rena Abravanel, jetzt Greenup, die heute in Amerika lebt.

Onkel David war ein ehrlicher und wichtiger Mann. Der war Geschäftsführer bei einer großen Tabakfirma, „The Commercial“. Er war nie verheiratet, also war seine ganze Liebe an seine Schwestern, meine Mutter und Tante Rachelle und ihre Kinder gerichtet. Er besuchte uns oft und interessierte sich für uns; er wollte unsere Schulnoten sehen und wissen, wer von uns gut in der Schule war, wer nicht, und warum.

Als der Laden meines Vaters im Brand zerstört wurde, war es Onkel David, der neben ihn stand und ihn unterstützt hat. Er hat ihm sogar das Geld für einen Neustart gegeben. Gleichzeitig hat er für meiner Mutter ein Bankkonto eröffnet, so dass sie sich keine Sorgen mehr machen musste. Natürlich habe ich deswegen ein Faible für ihn. Er war immer für uns da.
Onkel Leon war mit Nini Nahmias verheiratet und hatte zwei Töchter, Riki – Rikoula – und Victoria. Sie waren 5 Jahre alt als der Krieg ausbrach. Er arbeitet auch bei „The Commercial,“ der Tabakfirma, unter der Führung seines älteren Bruders David.

Onkel Mario heiratete Ida. Ihr Vater war Arzt und er hatte in den Pariser Krankenhäuser studiert. Als sie heirateten, gingen sie nach Paris, um mit ihren Eltern zu leben. Doch sie schafften es nicht und kamen nach Thessaloniki zurück. Als die zurückkamen, kamen Idas Eltern nach. Der Vater, der unser Familienarzt war, erklärte uns alles. Ich weiß nicht was Onkel Mario in Frankreich machte. Hier war er Tabakexperte. Sie hatten einen Jungen, Edward, und zwei Mädchen, Renée und Lily Abravanel.

Während der Besatzung versteckten sie sich in Athen und wurden nicht deportiert. Edward war schon tot, weil er während der Eleutherias-Platz-Versammlung Meningitis bekam und daran starb.
Nach der Befreiung flüchteten sie versteckt auf einem Schiff nach Israel. Doch der Onkel Mario hatte kein Glück: er starb auf dem Schiff und wurde über Bord geschmissen. Seine Töchter heirateten in Israel und lebten im Afikim Kibbutz.

Mein Vater, Joseph Samuel Saltiel, wurde [am 5. Juni 1881] hier in Thessaloniki geboren. Er hat Spanisch und Deutsch und selbstverständlich auch Griechisch gesprochen. Er war schön, groß, dunkelhaarig und gutaussehend. Er war nicht sehr lustig; er war ernst, bestimmt ernster als er hätte sein sollen, da er drei Töchter hatte, was ihn störte. Er trug immer Anzug mit Krawatte, Hut, natürlich, und Handschuhe. Er kümmerte sich sehr ums Aussehen und war immer sehr gut angezogen. Ein sehr eleganter Mann.

Mein Vater war nicht besonders mutig und auch wenn er politische Überzeugungen hatte, hätte er sie nie öffentlich preisgegeben. So war er nicht. Doch er war sehr weise. Stellen Sie sich vor, zwei Menschen hätten sich gestritten. Er hätte sich eingemischt und den Kompromiss gefunden, weil er ein sehr gerechter, korrekter und weiser Mann war. Alle hatten Vertrauen in seine Ernsthaftigkeit und Logik. Ein Vermittler war er, kann man sagen. Er hätte gefragt: Inwiefern unterscheiden sie sich voneinander? Warum nicht dies oder jenes machen? Er hätte versucht, ihnen den Sinn zu zeigen und eine akzeptable Lösung zu finden, egal was für ein Problem.

Zuhause wurde nicht diskutiert – nicht über Nachrichten, Aktualitäten, Politik, Gerüchte, was auch immer. Er war nicht für lange Gespräche. Er kommunizierte nicht viel. Ich weiß nicht mehr, ob ich ihn einmal beim Lautlachen gesehen hätte. Er war immer ein bisschen kühl, auch mit Freunden! Er war nicht leicht zu erreichen, doch war ich das Hauptobjekt seiner Liebe.
Er schüttelte niemandem die Hand, nur mit mir hatte er es gemacht. Wenn er musste und es nicht vermeiden konnte, kam er schnell nach Hause, um sich die Hände zu waschen und sie mit Alkohol zu reinigen. Er hatte große Angst vor Mikroben und Verseuchungen aller Art; schließlich starb er an Krebs.

Er war sehr streng. Er wollte gerecht sein und deswegen war er in sich selbst eingeschlossen. Er zeigte selten Zuneigung – an kaum jemanden, ob an seine Frau, weiß ich nicht. Er war introvertiert.
Er war nicht bei der Armee. Damals war die Armee türkisch. Erst 1912 wurde Thessaloniki griechisch. Während der türkischen Zeit musste man nur einen bestimmten Geldbeitrag bezahlen, um den Wehrdienst sicher zu entkommen.

Beruflich verkaufte mein Vater Holz für die Bauarbeit. Er importierte Holz aus Rumänien. Ich erinnere mich noch daran, wie er nach einer Berufsreise wiederkam – er trug hohe Stiefel und einen Mantel mit Pelz drin. Einen Hut aus Pelz hatte er auch. Als er zurückkam, schien er mir – ich war damals noch sehr klein – so groß wie die Tür zu sein. Dieses Bild von ihm trage ich noch; Mein Vater als groß, stark und schön.

Meine Mutter dagegen war einem ganz anderen Charakter. Tante Rachelle, ihre Schwester, war groß und dick, meine Mutter dagegen klein, dünn und sehr intelligent mit einer fröhlichen Ausstrahlung. Sie war immer elegant, immer sehr gut angezogen. Sie war sehr vorsichtig, wurde nie dreckig und trug immer die neuste Kleidermode. Meine Großmutter Abravanel war einmal sehr schockiert, weil sie ein sehr kurzes Kleid trug. Kurz heißt: knapp über den Knie! So war die Mode, also trug sie es.

Sie war sehr klein. Sie hatte eine Schuhgröße von 34. Damals waren Schuhe immer maßgefertigt. Man kaufte keine Schuhe im Laden, stattdessen ging man zum Handwerker. Oft passten die Schuhe nicht so ganz – zu eng oder kurz – und man hatte Hornhaut überall auf den Füßen. Sie war eine glückliche Person und sang viel. Immer war sie am Lachen oder Witze erzählen. Sie las auch gerne.
Weder Kosmetik noch Lippenstift trug sie, doch sie benutzte Gesichtspuder. Ich habe noch eine kleine Kiste davon, gut versteckt, nur um meine Mutter noch riechen zu können.
Ich weiß, dass die Ehe meiner Eltern durch einen Heiratsvermittler arrangiert wurde. Die Heiratsvermittler kannte die Familien und suchte die passenden Töchter oder Söhne im Heiratsalter aus. Kontakt lief natürlich über die Eltern, nicht die Kinder. Man hat damals mit 18, 19, 20 geheiratet. Wenn eine Frau mit 29 unverheiratet blieb, war sie schon eine alte Jungfer.

Damals war es den Neuverheirateten üblich, die ersten Jahre bei der Familie der Frau zu wohnen. Doch meine Eltern machten das nicht, weil meine Mutter keinen Vater mehr hatte und Oma wohnte mit ihren noch unverheirateten Söhnen. Damals war es selten, aus Liebe zu heiraten. Ich kenne keine solchen Ehen. Damals hing es davon ab, was für eine Person dein Gatte oder Gattin war.
Zu dieser Zeit gab es wenige Mischehen. Sehr, sehr wenig. Bei uns sind die Schwestern von Tante Mitsa, Ida Margariti und Silvia, in gemischten Ehen großgeworden und ihre Kinder sind alle Christen. Ich weiß nicht, was die Familie dazu sagte, da ich damals noch sehr klein war.

Familienleben

Als ich klein war, wohnten wir in einem Haus mit großen Garten. Im Garten war das Haus, wo mein Onkel Sinto mit seiner Familie im ersten Stock wohnte und meine Großeltern mit Onkel Mentesh und Onkel Sabetai, die noch nicht verheiratet waren, im Erdgeschoss wohnten. Unseres Haus war klein und stand am anderen Ende des Gartens. Da war ein Wohnzimmer beim Eingang, zwei Schlafzimmer und eine Küche. Im Wohnzimmer und in der Küche wurde mit Holz geheizt; die Schlafzimmer waren kalt. Ein Schlafzimmer war für die Eltern, das andere für die drei Mädels. Matilde hatte ihr eigenes Bett, während Edi und ich zusammen im selben Bett schlafen mussten.

Eda war viel jünger als ich und eine Person voller Freude. Sie war nicht so pessimistisch wie ich. Ich war immer viel zurückhaltender. Eda war immer bester Laune – wie Mutter. Sie hat gerne und viel getanzt – sie tanzte auch diesen russischen Tanz im Sitzen, den Kalinka.

Im Haus hatten wir fließendes Wasser, doch im Hof stand noch eine Handpumpe, die wir fürs Pflanzengießen benutzten. Damals hatten wir auch eine Badewanne – damals nicht üblich. Strom hatten wir auch. Im Garten wuchsen nichts Essbares – kein Gemüse, nur Blumen und grüne Pflanzen. Wir Kinder spielten immer im Garten: fünf Kinder von Onkel Sinto und wir drei. Doch ich saß immer am Zaun und schaute was sie alle machen, weil sie sehr wild waren. Tiere hatten wir keine.
Als wir im Garten spielten, saß mein Opa immer vorm Haus um uns zu beobachten. Da gab es einen kleinen Granatapfelbaum mit zwei Blumen. Er hat gewartet und gewartet, bis die Früchte zeigen. Eines Tages merkte er, wie eine der Blumen anfing zu verblassen. Nachdem Eda eines Tages die Blume abschnitt, merkte sie, was sie getan hatte, und klebte sie mit einer Stechnadel wieder an den Baum. Opa sah alles und war von der Geste bewegt, deswegen wurde sie nicht von ihm bestraft.

Opa hatte eine Hernie und einen riesigen Bauch, deshalb konnte er nicht mehr gehen. Also saß er immer vorm Haus. Er trug immer Andari, weil er wegen seines großen Bauches sonst nichts tragen konnte. Kippa trug er nicht, trotzdem war er religiös. Jeden Freitag versammelte sich ein Minjan bei ihm zuhause, um dort, statt in einer Synagoge, die traditionelle Lektüre zu machen. Ich weiß nicht in welche Synagoge sie sonst gingen.

Mein Vater war nicht dabei. Er bekam nicht von der Arbeit frei. Zuerst wurde am Schabbat nicht gearbeitet, aber später, in 1934, machte die griechische Regierung ein neues Gesetz bekannt, das Sonntag zum offiziellen Feiertag erklärte. Also mussten sie arbeiten, auch wenn sie nicht wollten.

Meine Großmutter war so angezogen wie wir heute. Sie trug nichts von den traditionellen Klamotten der jüdischen Frauen. Ich kenne solche Klamotten nur aus Fotos.
Es waren viele Juden in unserer Gegend. Doch war die Familie so groß, dass wir keine Freundschaften außerhalb dessen suchten. Eigentlich waren alle Juden. Der Lebensmittelhändler, der Gemüsehändler. Sie gingen alle durch die Gegend, um ihre Waren anzukündigen.

Immer als der Gemüsehändler bei meiner Großmutter vorbeikam – bei Großmutter gab es zwei Fenster an der Straße – stand Großvater am Fenster und fragte, „wie viel kostet eine Tomate heute? Ah, zu teuer, kauf ich nicht, verkaufen Sie sie mir für einen billigeren Preis?“ – „Was kann ich für Sie tun, Herr Samuel, wieviel möchten Sie bezahlen?“
Dann sagte mein Großvater den Preis und meine Großmutter, am anderen Fenster, winkte den Mann zu und sagte, „Sagen Sie ja, ja.“ „Ach, was mache ich mit Ihnen, Herrn Samuel? Ich gebe sie Ihnen, aber nur weil Sie es sind.“ Dann nahm Großvater die Waren und Großmutter bezahlte die Differenz vom anderen Fenster, nur um Großvater eine Freude zu machen und ihm die Genugtuung zu geben, er hätte was erreicht.

Durch die Straßen gingen wir nie. Ich glaube die waren alle noch unbefestigt, mit Erde aber keinem Asphalt bedeckt. Ein Auto hatten wir nicht, aber damals gab es schon welche. Pferde hatten wir auch nicht. Wir sind immer mit dem Bus oder Tram gefahren. Eher Tram als Bus.
Wir waren noch sehr jung, als wir das Haus verließen. Wir verließen es als wir zur Schule mussten. Immer als die Schule umzog, zogen wir auch um. Zuerst Konstandinidi, dann Gravias, dann... wir verfolgten die Mission Laique Française.

Im neuen Haus waren wir immer noch nicht ganz allein – das Haus war in einer Straße, in einer Umgebung, voller Juden.

Unser Glaubensleben

Meine Eltern waren gläubig aber keine Fanatiker. Mein Vater ging während den hohen Feiertagen vom Neujahr [Rosch ha-Schana], Pessach, Jom Kippur usw. in die Synagoge. Damals gingen keine Mädchen in die Synagoge, nur Männer. Wir blieben mit Mutter zuhause.

Kaschrut [die jüdischen Speisegesetze] nahmen wir insofern wahr, dass der Metzger Jude und das Fleisch dementsprechend koscher war. Jeden Freitag kam der Metzger zu uns nach Hause und nahm unsere Bestellungen entgegen.

Jeden Freitag las mein Vater Kiddusch [Segenspruch]. Er schnitt uns auch Stücke gebackener Eier [huevos encaminados] und, nach dem Kiddusch küssten wir ihm die Hand und er segnete uns. Das war jeden Freitag. Das Brot kauften wir beim jüdischen Bäcker.

Für Rosch ha-Schana machten wir alles was man dafür machen sollte. Wir aßen das von der Religion vorgeschriebene Essen. Wir machten alles und ich kann mich noch an ein paar Sachen erinnern, die mein Vater immer auf Hebräisch sagte. Die bleiben noch mit mir, obwohl ich kein Hebräisch kann. Mein Vater sprach kein Hebräisch, doch lesen konnte er es. Die Feierlichkeiten für Rosch ha-Schana sind genau wie heute.

Jom Kippur nahmen wir auch wahr. Immer als mein Vater an dem ersten Jom-Kippur-Abend nach Hause kam, mussten wir schon bereit, gewaschen und ruhig sein. Fasten machten wir auch mit. Am Ende des Fastens aßen wir zuerst Süßigkeiten, um uns ein süßes neues Jahr zu wünschen. Danach tranken wir Limonade und aßen dazu Kekse, die wir beim jüdischen Konditorei, Almosnino, kauften. Dann Suppe mit Pasta und am Ende Hühnchen mit Tomatensauce. Limonade trinken wir am Jom Kippur, weil sie anscheinend gut auf leeren Magen ist. So war es in jedem Haushalt. Das war Standardmenü – man findet alles im Buch „Les Fētes Juives“ [Die jüdischen Feiertage]. Niemand hat mir das Kochen beigebracht. Man lernt alles nur beim Zugucken.

An Pessach erinnere ich mich nicht mehr. Wir aßen das Traditionelle. Am ersten Abend Pessachs waren die Brüder meiner Mutter, Onkel David und Onkel Pepo, bei Tante Rachelle und am zweiten Abend waren sie bei uns. Wir feierten dann alle zusammen und lasen Haggada, wie am ersten Abend. Den Seder lasen wir auf Spanisch, da wir unter uns immer auf Spanisch sprachen.
Am Pessach aßen wir Mazze, weil wir kein Brot essen. Mazze ist Brot, das nicht treibt. Jetzt kaufen mir Mazzen von der Gemeinde. Als ich noch ein Kind war, gab es Bäckereien in Thessaloniki, die Mazze machten. Nicht wie heute. Damals war die Juden so zahlreich, dass die Mazze hier hergestellt wurden. Die wurden von den Bäckereien an die Häuser geliefert und die Stücke waren so groß – ungefähr 40x40 cm – dass wir einen speziellen Schrank dafür hatten. Und acht Tage lang – während der ganzen Pessach-Zeit – gab es kein Brot zuhause.

Während Pessach wurde auch Eier gebacken [huevos enchaminados]. Es war damals Tradition in Thessaloniki, Verwandten vor der Pessach-Feier zu besuchen. Die Taschen der Besucher waren schon so voll mit Eiern, dass sie am Ende des Abends mindestens 15 hatten. Wir besuchten die anderen Häuser nicht. Mädels dürften nicht, nur Männer.
Dafür bereiteten wir das Haus mit schönen Sachen vor. Meine Mutter trug ihren Schmuck und die Besucher kamen in ihren Abendkleidern. Das Haus glänzte. Alle hatten Eile, weil sie noch jemanden und noch jemanden und noch jemanden besuchen mussten. Aber zumindest kamen sie und wir sahen uns und verloren nie den Kontakt.

Über die hohen jüdischen Feiertage gibt es viele Bücher. Das, was ich habe, erklärt die Unterschiede zwischen dem Essen der Sephardim und dem der Aschkenasim. Die Aschkenasim essen Gefiltefisch, wir nicht. Stattdessen essen wir „Sasan“ – Fisch mit Sauce.

Während des Laubhüttenfestes [Sukkot] hatten wir natürlich eine Laubhütte. Onkel Sinto, der Bruder meines Vaters, hatte einen großen Balkon, fast wie ein Raum. Dort baute er die Laubhütte und wir gingen alle hin. Da saßen wir, aßen wir, es wurde geredet und war ganz schön.

Mein Vater war bei jeder Feier in der Synagoge. Wir warteten darauf, bis er mit Süßigkeiten wieder nachhause kam und zum guten Glück alle Lichter im Haus anmachte. Er brachte immer ‚baissées’, eine komplett weiße Süßigkeit, die er beim jüdischen Bäcker Almonsnino kaufte, mit. Dann gingen wir alle zu Oma um sie zu küssen und ihren Segen zu bekommen.

Beim Hanukkah-Feier zündeten wir die Channukia an und das war’s. Wir sangen noch und das war’s.

Bat-Mitzwa für Mädchen hatten wir nicht. Aber Bar-Mitzwa für Jungen gab es: unsere Cousins feierten ihre in der Synagoge. Wir waren alle dabei, auch die Mädchen. Wir waren in unterschiedlichen Synagogen, doch es gab eine hier in der Gegend, genau dort, wo wir den Bus nehmen. Bet Schaoul hieß sie. Da, wo wir jetzt hingehen, die Monastiriotin, war bei Vardari und weit weg von uns. Damals gingen wir nicht dahin.

Bis auf die Bet Schaoul, kann ich mich an keine anderen Synagogen erinnern, da die Mädchen nicht sehr oft dahingingen. Für Hochzeiten oder andere Arten Feier gingen wir hin. Es war nicht so wie heute.

Frauen waren auch nicht bei Beerdigungen. Im Friedhof auch nicht.

Meine Jugend

Wir waren ziemlich wohlhabend. Wir hatten ein Dienstmädchen. Wir hatten Dienstmädchen, die bei uns im Haus wohnten. Alle Jüdinnen. Später, kurz vor dem Krieg, war bei uns eine Christin aus Ai Vat. Sonst hatten wir nicht so wirklich Fremde bei uns. Eine namens Sternia mochte mich sehr. Sie verließ uns schon lang vor dem Krieg und ging nach Israel, wo sie heiratete. Während der Besatzung, als ich in Israel war, kam sie mich mit ihren Kindern besuchen.

Mein Vater, wie ich erzählte, war sehr streng und erlaubte uns nicht, das Haus zu verlassen. Ab und zu im Sommer, wenn wir ins Kino wollten – und wir konnten ihn nicht wirklich anlügen – sagten wir ihm: „Wir gehen mit Herrn Saporta ins Kino.“ Herr Saporta war Raf, der Bruder meiner Freundin Tida. Er war jünger als wir! Wir gingen ins Apollon, ein Freiluftkino. Aber nur die Mädchen gingen zusammen ins Kino. Es gab keine Jungen in unserer Gruppe. Wenn mein Vater wüsste, dass Herr Saporta Raf war, hätte er uns nie erlaubt, dahin zu gehen.

Meine Mutter hatte Probleme mit ihren Beinen und ging deswegen im Sommer nach Laganda, ein Dorf nordwestlich von Thessaloniki, wo es eine Thermalquelle gab. Sie fuhr mit der Pferdekutsche dahin und blieb bis sie komplett erholt war. Manchmal ließ sie uns alleine, manchmal brachte sie eine von uns mit. Generell blieb ich zuhause, da mein Vater ein Faible für mich hatte. Alles war ruhig und ich stritt mich mit niemandem. Meine Schwester Matilde und Eda stritten sich immer. Sie waren sowieso leichter aufzureizen, während ich dagegen sehr ruhig war. Doch manchmal streitet man sich trotzdem.
Bis auf die Aufenthalte meiner Mutter bei der Thermalquelle fuhren wir nicht in Urlaub. Unser Haus stand am Meer, deswegen hatten wir nie das Bedürfnis, irgendwo anders hinzufahren.

Ich ginge in die französische Schule – die Lycée Française – hier in Thessaloniki. Ich absolvierte die Mission Laïque Française und ging dann in die amerikanische Schule, Anatolia College. Ich war nie an einer jüdischen oder griechischen Schule. Meine Schwester war an einer griechischen Mädchenschule – die Cschina – deswegen kann sie besser griechisch als ich.

Dann gab es ein Gesetz, das sagte, wir durften so mit der Bildung nicht weitermachen. Alle nicht-griechischen Staatsbürger durften nur zu griechischen Grundschulen gehen. Da wir spanische Staatbürger waren, mussten wir die Schulen wechseln. Matilde war kurz davor, die französische Schule zu absolvieren.
Das hätte auch für mich gelten müssten, doch, weil ich im Verhältnis zu meinem Alter mit meinem Studium schon so weit war, wollte mein Vater sich nicht einmischen, und ich durfte wie geplant weiterstudieren. Ich war in allen Fächern eine gute Schülerin. Ich konnte sie alle sehr gut, doch hatte ich sie weder gemocht noch gehasst.

Eda war dagegen noch sehr jung und immer noch an der Grundschule, also wurde sie sofort an die griechische Schule geschickt. Sie war, wie an der französischen Schule, in der 5. Klasse, doch konnte sie kein Griechisch. Mein Vater fragte bei der Lehrerin, Fräulein Evgenia, und sie bekam von ihr Nachhilfe in Griechisch. Bis Mitte des Schuljahres war sie die Klassenbeste.

Von anderen Religionen wussten wir immer schon. Von ihnen wussten wir, wir sahen sie, hörten sie, sogar im Viertel. An der Mission Laïque Française waren nicht nur Juden.

Wir hatten mit Christen keine engen Verhältnisse. Natürlich gab es christliche Schüler bei mir und ab und zu trafen wir uns außerhalb der Schule, aber keine engen Freundschaften. Nichtdestotrotz hatten wir keine äußeren Merkmale, die uns vom Rest der griechischen Bevölkerung unterscheiden könnten – weder an Klamottenstil noch an Verhalten. Sie konnten uns nicht unterscheiden.

Nach der Schule waren wir auf eine fünftägige Exkursion mit der Anatolia College. Wir waren ungefähr 12-14 Mädchen, drei von uns waren jüdisch. Wir fuhren nach Olympia [bedeutender archäologischer Ort] und dort sah ich wunderschöne Sachen, die ich sonst nicht hätte sehen können, da mein Vater so streng war.

Bücher, die nicht für die Schule gelesen werden mussten, lasen wir nicht. Mein Vater las Bücher über Religion, doch er war kein Fanatiker. Er wollte nur gut informiert sein. Abends saßen wir immer zusammen – jeder bei seiner eigenen Beschäftigung, sei es lernen, sei es lesen oder nähen.

Zuhause hatten wir kein Grammofon. Meine Großmutter Abravanel hatte eins und wir besuchten sie fast jeden Samstag. Dort hörten wir Musik – klassische Musik und was damals sonst en vogue war. Dort waren auch Zeitschriften, weil mein Onkel David nur ernstzunehmende Zeitschriften abonnierte. Bei Oma war immer gutes Essen, Musik, Zeitschriften und Wärme. Wir besuchten Großmutter sehr gern.

Damals waren die Träume ganz einfach – die Träume eines jungen Mädchens. Es war normal, dass man heiratet und eine eigene Familie gründet. Doch ich konnte nicht verstehen, wie wir heiraten werden, weil dafür eine Mitgift nötig war. Ich weiß nicht, ob mein Vater sich drei leisten konnte. Auch weiß ich nicht, ob ich hätte heiraten dürften. Es gab eine Reihenfolge – Matilde zuerst, da sie die älteste war, danach ich und Eda. Deswegen stand Matilde im Fokus. Sie musste immer gut angezogen sein und gut gepflegt aussehen. Das Heiraten hatte damals nichts mit persönlicher Präferenz zu tun – das gibt’s nur ohne Mitgift. Ich kenne niemanden, der vor dem Krieg ohne Mitgift heiratete.

Da wir keine Brüder hatten, hatten wir wenig Kontakt zu Jungen. Erst später, am Anfang des Krieges, als wir im selben Haus mit Tante Rachelle und ihren Söhnen, Nadir und Elio, wohnten, hatten wir das erste Kontakt zu Jungen, ihren Freunden.

Ich wollte unbedingt arbeiten und besuchte nach der Schule einen Kurs zur Stenographie. Dann bewarb ich mich bei einer Ölfirma. Die Aussichten waren gut und ich hätte die Stelle bekommen, wäre der Krieg nicht gekommen.

Mein Vater wollte nicht, dass ich arbeite, doch machte er nichts dagegen, weil wir das Geld brauchten. Sein Laden ist runtergebrannt. Nicht nur sein Laden, sondern auch die ganze Gegend. Das war in der Santaroza-Straße – wo sich all die Holzgeschäfte befanden. Es war mein Eindruck, dass alle dort Juden waren. Das Holz wurde von Juden verkauft. Dort arbeitete auch Onkel Sinto, Onkel Daniel und Onkel Avram. Eigentlich kenne ich keinen Beruf, der nicht von Juden ausgeübt wurde. Sie haben alles gemacht. Nachdem der Aufruhr hier stattfand und sie die Häuser im Campbell-Viertel niederbrannten, gingen diejenigen, die dort am Hafen lebten und arbeiteten, nach Israel. Dort arbeiteten sie am Hafen Haifas mit und sind für seine Entwicklung mitverantwortlich.
Um das Campbell-Viertel zu erreichen, musste mein Vater mit zwei Bussen fahren. Sein Laden war sehr weit weg von zuhause. An dem Tag ging er wie immer sehr früh und meine Mutter stand am Balkon und sah zu, wie er wegfuhr bis er endlich verschwand. Irgendwie spürte ich schon, dass etwas war. Alle hatten damals Angst und der Beweis dafür ist, dass sie endlich weggingen. Zuhause redeten wir nie darüber.

Während des Krieges

Als der Krieg mit Italien deklariert wurde, zogen wir zu meiner Tante Mitsa in der Gravias-Straße. Ich weiß nicht mehr, warum wir dorthin zogen – mein Onkel Pepo und Tante Mitsa waren aus irgendwelchen Grund in Athen. Bei ihnen zuhause waren Okel Leon und die Schwestern von Tanta Mitsa, Silvia, mit ihrem Mann, Herr Margaritis, meine Tante Rachelle mit ihrer Familie, und wir.
Unser Beitrag an den Krieg war das Stricken. Mir machten Socken und Handschuhe für die Soldaten. Wir strickten Tag und Nacht, doch weiß ich nicht an wen die schließlich verteilt wurden. Ich, meine Schwestern, meine Freunde – wir saßen alle rum und strickten für die Soldaten in Albanien. Dort froren sie und als sie zurückkamen, hatten sie gefrorenen Finger und Ziehe. Ich kannte einen namens Saqui, der mit gefrorenen Beinen zurückkamen. Ich weiß nicht ob die amputiert wurden, aber das war damals Thema. Nach dem Krieg ging er nach Israel und kam nie wieder her.
Wir strickten und sangen das patriotische Lied von Vembo : „Blöder Mussolini, keiner bleibt, du und dein lächerliches Land haben Angst vor uns und unseren Khaki-Farben [griechischer Militäruniform].“ Wir glaubten an diese Lieder, sie beeindruckten uns. Vembo war toll und wir sangen mit Leib und Seele.

Nachdem Italien von den Griechen besiegt wurde, kamen die Deutschen, ihre Alliierte, um das Problem zu lösen. Um das Gesicht zu retten! Daran kann ich mich noch dunkel erinnern. Doch weiß ich noch, dass wir bei Tante Mitsa wohnten, als die Deutschen in Salonica eintrafen. Sie nahmen das Haus weg. Alle hatten Angst. Wir mussten ausziehen und schnell ein neues suchen. Als sie das Haus wegnahmen, hatte ich große Angst. Dazu beschlagnahmen sie mein Vaters Geschäft. Dafür bekam er einen Beleg – doch weiß ich nicht mehr, wo er zu finden ist. Wir enthielten niemals eine Entschädigung dafür. Sie beschlagnahmen alle wichtigen jüdischen Läden. Sie waren bei Alvo und entleerten alles. Er verkaufte Badewannen, Fliesen, Sanitärartikel und Drahte. Tagelang wurde alles von deutschen LKWs entleert.

Wir zogen nachher hierhin, in dieses Viertel, direkt gegenüber von da, wo wir jetzt sind. Damals hieß die Straße Mizrahi und nicht Fleming wie heute. Wir mieteten ein großes Haus – gegenüber von Solono, den ich zu der Zeit nicht kannte. Selbstverständlich gab es Essensrationen. Beim Bäcker bekamen wir ein Stück saftiges „Bobota“ [Brot aus Mais; während des 2. Weltkriegs war es das einzige erhältliche und daher Teil der Essensration]. Jedem ein Stück, nicht ein Leib. Die uns verteilten Portionen entsprachen der Anzahl der Familienmitglieder.
Später, als wir im Ghetto mit Tante Rachelle und ihrer Familie waren, machten wir unser eigenes Brot. Ich weiß nicht, wo das Mehl herkam. Die Jungen, Elio und Nadir, kümmerten sich darum.
Wir wussten vom Radio was passiert. Wir hatten ein tolles Radio und konnten alles hören, auch die Vembo-Lieder.

Mit den Deutschen hatten wir keinen Kontakt. Irgendwie, weil wir spanische Staatsbürger waren, fühlten wir uns geschützt. Spanien war schließlich Alliierte von Deutschland. Das erste Mal, das ich einen Deutsche sah, sah ich nichts Böses. Sowas sehe ich nicht beim ersten Blick. Sie sahen alle normal aus. Wie normale Menschen von keiner besonderen Bedeutung. Sie hatten nichts an, was einem zwingen könnte, den Kopf wegzudrehen. Sie waren nicht besonders furchterregend.

Von den KZs wussten wir nichts, weil sie das sehr gut versteckten. Unser Rabbi, der aus Deutschland kam, vielleicht wusste er etwas. Vielleicht wusste er von den Geschehnissen und entschied sich dagegen, darüber zu sprechen. Rabbi Koretz hieß er. Wir dachten, wir gehen nur arbeiten und, dass wir wiederkommen. Die Menschen wurden so getäuscht. Als sie deportiert wurden, gaben sie den Deutschen ihr letztes Geld und nahmen dafür polnisches Zloty oder einen Rückzahlungsbeleg entgegen. Was wussten wir? Von den Konzentrationslagern hatten wir keine Ahnung. Keine Ahnung! Es gab Leute, die aus dem Ausland herkamen, außerhalb von Griechenland, und sie sagten Einiges, doch wir konnten es uns nicht vorstellen. Es war noch alles unfassbar. Wir dachten, sie erzählen Märchen.
Eine Meinung konnten wir uns nicht bilden, weil wir nicht genug wussten, um zu verstehen. Wenn die Mächtigen dich täuschen wollen, machen sie es sowieso. Sie haben die Mittel dazu. Wir wussten nichts und glaubten den Menschen nicht, die zu uns kamen und erzählten. Es war einfach unfassbar. Was sie uns erzählten war schwer zu verstehen, es war nicht echt, es hätte nicht echt gewesen sein könnten. Sie logen nicht, doch wir dachten, sie würden stark übertreiben.

Eine Schulfreundin von mir, Bella, heiratete in Jugoslawien und, als die Deutschen in Jugoslawien einmarschierten, kam sie zurück nach Salonica, zu ihrer Mutter. Sie kam mit ihrer Familie – mit ihren kleinen Tochter Ettika, die sehr schöne rote, sehr rote, Haare hatte – und sie hatten nichts zu essen. Ihr Mann fing an, kleine Sachen wie Knöpfe, Nadeln, Halstücher usw., zu verkaufen. Er ging von Tür zu Tür, um Geld zu verdienen und Brot zu kaufen. Sie hatten kein Brot, aber Bella rauchte weiter. In Israel fing ich auch an zu rauchen und plötzlich dachte ich an Bella und wie sie kein Brot hatte, aber noch rauchen musste. Ich fragte mir, bin ich verrückt? Ich hörte sofort auf.

Bella erzählte uns, dass als die Deutschen kamen sie alles wegnahmen. Sie erzählten uns von Gräueltaten, aber sie erschienen uns damals noch als reine Vorstellungen. Dann kam der Befehl, dass man den Stern zu tragen hatte. Danach trugen alle den Stern. Ich weiß nicht was passiert wäre, wenn man den Stern nicht getragen hätte. Ich trug keinen. Ich war Spanierin.
Dann erteilten die Deutschen den Befehl, dass die Juden in die Ghettos ziehen mussten. In Thessaloniki gab es noch niemals ein Ghetto. Wir zogen wieder um, diesmal mit der Schwester meiner Mutter, meiner Tanta Rashel, und ihren Kindern. Wir gingen ins Ghetto, mit unseresgleichen, doch weiß ich nicht mehr, ob wir als spanische Staatsbürger überhaupt mussten. Wir fühlten uns deswegen mehr geschützt. Als sie anfingen, die anderen zu sammeln, wagten sie nicht, die Spanier anzufassen.

Nina Benroubi war wohl auch nicht im Ghetto. Sie hieß mit Nachname Revah – der spanische Konsul war mit einer Revah aus derselben Familie verheiratet. Der Konsul hieß Ezrati und war auch Jude. Ich habe noch Briefe mit seinem Namen drauf. Manchmal frage ich mich, wie wir das alles schafften – Briefe schreiben, den Konsul und Botschafter besuchen usw.
Am Anfang hatten wir nicht so viel Angst. Nur danach fing es an – als Menschen plötzlich anfingen, zu verschwinden, als wir ins Ghetto mussten, als wir uns nicht mehr frei bewegen durften. Wie kann man keine Angst haben, wenn mein nicht weiß, was am nächsten Tag oder mit einem passieren wird?

Im Ghetto war mein Vater schon krank und meine Mutter schon gestorben. Meine Mutter hatte eine kleine Operation gehabt – ein Polyp musste entfernt werden. Da es während der Besatzung war, brachte sie mein Vater für die OP zu einer Privatklinik. Er war sehr vorsichtig und wollte nicht, dass ihr was passiert, also wusch er sich immer die Hände mit Alkohol, bevor er ins Zimmer ging. Jeder musste sich vorher die Hände mit Alkohol desinfizieren.

Die Operation war ein Erfolg, trotzdem starb die Patientin. Die OP fand während der deutschen Besatzung statt, also kümmerte sich niemand um sie. Niemand kam, um sie zu pflegen oder nach ihr zu schauen, ihr zu helfen oder überhaupt irgendwas zu tun. Sie zog sich also eine Lungenentzündung zu und starb.
Es gab eine Beerdigung, aber ich war nicht dabei. An dem Tag gab es einen schrecklichen Schneesturm. Es schneite ganz viel und war bitterkalt. Die Männer nahmen sie weg und ich konnte sie gar nicht sehen. Sie nahmen sie weg – schnell, weil sie es vor Sonnenuntergang zum Friedhof und zurück schaffen mussten. Sie begruben sie dort. Die Männer der Familie kümmerten sich um solche Sachen. Wir Frauen durften nichts – wir waren nicht bei Beerdigungen oder im Friedhof. Erst heute ist es üblich, dass Frauen bei Beerdigungen sind. Nach der Beerdigung gab es die kria - wir machten alles nach Tradition, weil wir noch eine gewisse Freiheit hatten.

Als die Deutschen uns den Friedhof wegnahmen, musste meine meine Mutter umgebettet werden, indem sie ihre Überreste aus dem Grab rausholten und sie in den neuen Friedhof brachten. Alle waren sehr wütend und hatten Angst. Aber was konnten wir machen? Wir hatten keine Macht, nichts, keinen Weg, um uns zu verteidigen. Wir hatten wirklich Angst, als sie dann anfingen, Menschen zu verschleppen und sie verschwinden zu lassen, sowie die Bewegungsfreiheit zu begrenzen.
Ich musste eh bleiben. Meines Vaters wegen – er war krank. Er hatte Krebs. Es gab eine Periode, wo er jeden Abend Fieber hatte. Als der Krebs schließlich diagnostiziert wurde, war es schon zu spät.
Während dieser Zeit mieteten wir zusammen mit Tante Rachelle ein Haus in der Broufa-Straße. Das war im Ghetto. Ich weiß nicht, wie die Grenzen des Ghettos bestimmt wurden. Wir Mädchen verlassen niemals das Haus. Das Essen kauften wir immer vom Laden im Ghetto.

Die anderen Juden mussten den gelben Stern tragen, aber ich nicht. Ich war spanische Staatsbürgerin und als solche wurde nicht verfolgt. Keiner in meiner Familie trug den Stern, obwohl wir innerhalb des Ghettos wohnten. Ich war ans Haus – an meinen Vater – gebunden. Ich hatte sowieso kein großes Bedürfnis, rauszugehen.
Also mussten Freunde uns besuchen kommen. Eine Gruppe kam jeden Abend rum. Es wurde viel diskutiert, gesungen, gespielt – wir hatten Spaß. Ab und zu spielten wir auch Karten. Wir spielten auch mit dem Nachbar von unten, Isaac hieß er. Während sein Siegeswille sehr stark war, war es uns egal. Einer von uns schaute über seinen Rücken und gab uns ein Zeichen, woraufhin Herr Isaac verlor. Ich glaub wir hänselten ihn nur deshalb, weil uns die Beschäftigung als Ablehnung von all den grausaumen Sachen, die wir derzeit leiden mussten, diente.
Zuhause hörten wir Musik und es kann sein, dass wir dazu auch tanzten. Wir hatten eine Nachbarin mit deutschen Wurzeln und ständig sie beschwerte sich und schrie uns wegen der Musik an. Sie wollte immer, dass wir leise bleiben.

Damals hatten wir Angst, weil man jederzeit weggetragen werden könnte. Ich kenne niemanden, dem das passiert ist. Aber es gab Gerüchte darüber, wen sie erwischt und aus dem Ghetto wegtransportiert hatten. Niemand wusste, was ihnen letztendlich passierte. Einige Tage nach dem Tod meiner Mutter kam die Idee, eine nichtvollzogene Ehe zwischen unserem Vater und Tante Rachelle, der Schwester meiner Mutter, zu schließen, so dass sie die spanische Staatsbürgerschaft bekommt und dadurch geschützt wird. Die Hochzeit fand nicht in der Synagoge statt. Ich weiß nicht mehr wo, wahrscheinlich zuhause. Ich habe noch die Urkunde vom spanischen Konsulat. Niemand wäre wegen einer solchen Ehe in die Synagoge gegangen. Mein Vater war schon sehr krank und lag im Bett. Er tat all das, was ihm gesagt wurde. Also wurde Tante Rachelle Spanierin, aber ihre Kinder nicht. Eine zweite Ehe war damals sehr selten. Die Menschen schieden sich nicht. Sie akzeptierten alles Mögliche, um sich nicht zu scheiden. Nicht wie heute. Damals, wenn eine Ehefrau starb, die eine Schwester hatte, wurde versucht, die Schwester mit dem Ehemann zu verheiraten. Das waren Maßnahmen damit die Familie eng bleibt und niemand allein sein muss.

Das war alles während der Zeit des Freundeskreises, als wir jeden Abend zuhause blieben und die Gruppe zu uns kamen. Nadir und seine Freunde, Solon, Totos und die anderen, waren jeden Abend da. Sie bemühten sich, uns zum Lachen zu bringen. Nadir war von Natur aus ein lustiger Kerl. Sie spielten auch Theaterstücke für uns und wollte uns die Laune heben. So freundeten Solon und ich uns an und später wurde aus unserer Freundschaft Liebe.

Dann sahen wir, wie die Menschen Thessaloniki verließen: Die Menschen, die gesammelt wurden, gingen mit einem kleinen Koffer oder Tasche. Sie gingen los, ohne zu wissen wohin. Als sie zum Bahnhof kamen – wie wir später erfuhren – wurde ihnen gesagt, sie müssen dort ihr Geld lassen, da es am Ankunftsort nicht gültig sein würde. So klauten sie ihnen das Geld. Das erfuhren wir nur aus Erzählungen anderer, da wir zuhause waren und nichts erster Hand erfuhren. Wir wohnten in einem leeren jüdischen Bezirk. Als sie die anderen Juden sammelten, blieben wir in diesem Haus.
Die Italiener waren, im Gegensatz zu den Deutschen, uns gegenüber viel menschlicher. Zu dieser Zeit halfen sie uns. Sie erstellten uns die Scheindokumente, um nach Athen fahren zu dürfen, das zu dem Zeitpunkt unter italienischer Besatzung war. Tante Rachelle entscheid sich dazu mit Elio und dem Rest ihrer Kinder nach Israel zu gehen. Das tat sie in zwei Schritten. Zuerst gingen drei der Kinder – Nadir, Silvia und Rene. Später ging der Rest der Familie – sie und Elio.

Alle unserer Verwandten waren spanische Staatsbürger. Es war den Deutschen also nicht erlaubt, spanische Staatsbürger ins Konzentrationslager zu schicken. Sie wurden trotzdem gesammelt und ins Konzentrationslager geschickt. Später waren sie in einem Lager in Spanien, später in einem in Nordafrika – in Casablanca, Marokko. Dann in Israel. Alle, bis auf meinen Vater, meine Schwestern und ich, weil wir bei dem deutschen Kommandanten um eine Ausnahme baten, da Vater unter Krebs litt. Irgendwie ließen sie uns in Ruhe.

Ein Italiener namens Neri half uns, weil er, als sie für uns kamen, meine kleine Schwester Eda mit Vater in einen Zug nach Athen setzte. Ein paar Tage danach kamen Matilde und ich.
Wir entschieden uns dafür nach Athen zu gehen, als klar wurde, dass wir uns nicht mehr ordentlich um Vater kümmern konnten. Neri arbeitete bei dem italienischen Konsulat und bereitete uns die passenden Dokumente vor. Das machte meine Schwester Matilde mit ihm aus. Laut diesen Dokumenten waren wir italienische Staatsbürger. Die mussten wir sofort an dem Kommandanten des Zuges überreichen.

So fuhren Eda und Vater nach Athen. Nachdem sie wegfuhren, verließen wir die Wohnung und waren dann bei einem Mädchen. Sie hieß Angela und war Nagelpflegerin. Sie bot uns ein Schlafzimmer an und wir waren dort Tag und Nacht mit geschlossenen Fensterläden. Sie war Christin und ihr Vater, der im selben Haus wohnte, wussten nichts von uns. Sie brachte uns Essen und wartete darauf, bis wir auch nach Athen fahren konnten. Wir waren länger als eine Woche da.

Endlich durften Matilde und ich fahren. Wir mussten an einem gewissen Tag und Uhrzeit am Bahnhof erscheinen. Die Italiener waren für den Zug zuständig. Papiere hatten wir nicht mehr, da wir sie dem Kommandanten des Zugs gaben. Der Zug hätte wohl in Plati anhalten sollten, doch hielten die Deutschen den viel früher an, um den zu kontrollieren. Sie hatten wohl Ahnung, dass etwas im Zug passiert. Wir wussten nichts – nicht mal unsere Namen oder Geburtsdaten auf den Scheindokumenten.

Als die Deutschen in den Zug kamen, schliefen wir. Anscheinend kümmerte sich der Kommandant um die Deutschen, gab ihnen die Dokumente. Dann stiegen sie aus. Der Zug fuhr mit einem Waggon voller Juden weiter. Unter uns war auch Rosa, die jetzt in Athen lebt. Ihre ganze Familie war in diesem Waggon. Es waren im Zug junge italienische Soldaten. Einer mochte mich und wollte mich danach in Athen treffen, doch wegen Angst gab es keinen Platz zum Flirten.

Wir kamen in Athen an und gingen in ein Haus in Magoufana, heute Lefki – ein Vorort von Athen. Ein Mönch von dem Heiligen Berg Athos bot uns das Haus an. In der Gegend waren viele kleine Bauernhöfe; der Mönch kam wöchentlich und, während er betete, machte er alle Türe auf, so dass alle in der Gegend ihn hören könnten.
In diesem Haus in Magoufana waren wir nicht allein. Dort war auch Toto und zwei seiner Schwestern. Eine von ihnen wurde später deportiert und kam nie wieder. Die andere heiratete einen Christen namens Mikes, dessen Kinder noch in Thessaloniki wohnen. Toto hatte noch eine Schwester, die eine leichte geistige Krankheit hatte. Sie war nicht mit uns in Athen. Sie wurde auch deportiert und kam nie wieder.

Wir blieben eine Weile in Magoufana. Wir hatten kein Geld. Später bezahlte Paul Noah meinen Beitrag an den Partisanen. Das Haus in Magoufana musste auch wohl bezahlt werden. Aber ich weiß nicht mehr von wem. Normalerweise gingen wir zu Fuß von Magoufana nach Kifissia, eine Strecke von 13km, um Medikamente für meinen Vater zu kaufen. Wir gingen im Dunkeln, mit bellenden Hunden um uns herum und ohne Papiere. Aber bei der Apotheke bekamen wir was wir brauchten.
Der einzige Kontakt außerhalb des Hauses war mit Elios, meinem Cousin, der mit seiner Mutter, Tante Rachelle, in einem Zimmer in der Straße des 3. Septembers wohnte. Als sie nach Israel gingen, verloren wir eine Weile den Kontakt.

In Magoufana war es ziemlich einsam, deswegen fuhren wir, nachdem Elios und Tante Rachelle gegangen waren, nach Athen in ihr Zimmer in der Straße des 3. Septembers, was jetzt leer war. Zuerst wurde Vater dahingebracht und wir liefen die ganze Nacht von Magoufana nach Athen. Gott sei Dank passierte uns nichts!
Dann waren wir in Athen mit Vater. Vater saß immer in einem Sessel und wurde zwischen diesem Sessel und seinem Container im Zimmer transportiert, was als Klo benutzt wurde. Wir drei Schwestern mussten die Toilette im Haus teilen, die einer anderen Familie gehörte.

Eines Abends kam eine Gruppe Verräter mit den Deutschen – ein Quisling-Jude und drei Deutsche – um Elios festzunehmen, der früher dort wohnte. Nicht ihn, sondern uns – spanische Staatsbürger – fanden sie dort. Zu der Zeit wurden alle Spanier schon abgeschoben. Als unsere Situation mit Vater und seiner Krankheit ihnen klar wurde, entschieden sie sich dafür, nur zwei Töchter zu nehmen und eine da zu lassen, so dass sie sich um ihn kümmern könnte.

Da ich mehr Geduld mit ihm hatte, musste ich mit ihm bleiben, während meine Schwestern weggenommen wurden. Sie meinten, sie wollten nur die Papiere kontrollieren. Während solchen Momenten kann man weder denken noch fühlen. Man wird mit dem Schicksal konfrontiert – alles wurde schon entscheiden und man kann nichts mehr machen. Ich hatte den Eindruck, meine Schwestern kommen wieder. Stattdessen, nach einem kurzen Besuch bei der Gestapo, waren sie in den Militärbarracken in Haidari – ein Gefängnis für alle Typen – interniert. Das erfuhr ich erst nach dem Krieg.
Als wir noch alle zusammen waren, kam oft eine Dame – Frau Lembessi – die Ehefrau eines Luftwaffenoffiziers, um uns zu helfen. Sie kümmerte sich auch um Vater und täglich meldete sie seinen Zustand dem Arzt. Am Tag seines Todes war Frau Lembessi 8 Uhr morgens bei uns, weil der Arzt ihr mitteilte, er hielt es wohl nicht länger aus. Er starb genau 13 Tage nachdem meine Schwestern weggeschleppt wurden. Es passierte früh am Morgen, während ich ihm sein Essen im Bett gab. Er wollte den Mund nicht aufmachen. Er drehte seinen Kopf zur Seite und starb.

Frau Lembessi war da. Sie sagte, ich sollte mir keine Sorge machen. Sie informierte den Arzt und kam kurz darauf wieder, um sich um alles zu kümmern. Sie reinigte und bekleidete den Körper. Dann rief sie die spanische Botschaft an. Irgendwann später kamen ein paar Männer im Auftrag der Botschaft. Sie befahlen uns, den Körper zu entkleiden, reinigen und in ein Betttuch zu wickeln. Frau Lembessi versuchte mich nochmal zu beruhigen und ging allein, um das zu machen was sie von uns wollten. Dann warteten wir und sie nahmen den Körper. Sie teilten uns nicht mit, wo sie mit ihm hinfuhren.
Frau Lembessi übernahm schon wieder die Kontrolle und nahm mich mit zu ihr – fast gewaltsam, da ich nicht denken konnte – und sagte mir, dass ich nie wieder in die Wohnung wo mein Vater starb gehen sollte. Am selben Abend kamen die Deutschen für mich – doch ich war schon geflüchtet.

Die Tochter von Frau Lembessi schlief am Boden und ich bekam das Bett. Ich weiß nicht mehr, wir lange ich da war. Sie kümmerte sich sehr gut um mich. Ihr Mann wollte auch, dass ich jenen Mittag einen Wein mit ihm trinke, da ich sehr schwach war. Frau Lembessi ist jetzt eine von den Gerechten unter den Völkern.

Danach ging es darum, wie man das Land verlassen könnte. Toto kümmerte sich darum. Als ich noch bei Frau Lembessi war, war ihr klar, dass Toto mit mir sein wollte, in mich verliebt war. Sie riet mir, ihn nicht zu heiraten, denn für sie schien es als sei er nicht so wertvoll wie ich. Eine solche Liebe fand sie unanständig. Frau Lembessi wusste nichts von Totos Schwester und ihrer geistigen Krankheit.
Toto erhielt Anweisung und wir gingen Karfreitag, nach Ostern, am Abend zu einem Ort, wo von den Widerstandskämpfern ein LKW, organisiert worden war, um uns abholen und nach Evoia bringen. Toto machte alles mit den Partisanen ab.

An diesem Ort kamen alle diejenigen an, die Griechenland verlassen wollten: Unter ihnen war Paul Noah, seine Frau Rita und ihre Tochter Lela Nahmias, die Ehefrau von Moise Nahmias, und noch viele mehr, deren Namen ich schon vergaß. Wir waren alle verstreut; unser Treffpunkt war an einem Kaffeeladen, wo der LKW uns hätte abholen sollten. Ich saß mit Toto in diesem Kaffeeladen und wir warteten und warteten und warteten, doch niemand kam. Irgendwann wurde es klar, dass niemand kommt. Wir waren sehr, sehr enttäuscht und mussten zurückgehen.

Später erfuhren wir, sie hätten es nicht geschafft, alle abzuholen. Die Hälfte ließen sie stehen. Dann erhielten wir die Mitteilung, dass der LKW uns am kommenden Freitag am selben Ort abholen wird. Nochmals gingen wir zum selben Ort, wir trafen dieselben Menschen und endlich stiegen wir in den LKW ein.

Mit dem LKW fuhren wir von Athen bis aufs Land gegenüber von Evoia. Wir fuhren im Dunklen los und es war Nacht als wir ankamen. Alles war sehr dunkel und um nach Evoia zu kommen, mussten wir über das Meer. Die Deutschen hatten einen großen Scheinwerfer und patrouillierten das Meer. Wir stiegen in kleine Boote und mussten sehr still halten und sehr leise paddeln. Endlich kamen wir in Evoia an. Wir kamen im Frühsommer an und es war noch recht dunkel. Mir mussten einen großen Berg besteigen um dort anzukommen, wo die Partisanen waren. Während ich eine gefühlte Ewigkeit laufen musste, bekam ich Blasen an den Füßen, weil ich Sandalen anhatte.

Oben kamen wir in einen großen Raum. Der Boden wurde mit Mosaik oder sogar Marmor gelegt. Es gab stinkende Decken und dort mussten wir schlafen. Es war voll mit Menschen. Alle waren Juden. Juden, die wir kannten und Juden, die wir nicht kannten. Wir versuchten zu schlafen und um 4 Uhr morgens fingen sie an zu schreien, dass das Boot, das uns mit rüber in die Türkei bringt, da ist. Andere mussten schon drei Wochen dort warten und das Boot kam am Abend unserer Ankunft!

Da wir oben auf dem Berg waren, bekamen wir Maultiere, die uns runtertrugen. Natürlich nicht für alle – manche waren zu Fuß mit den Anderen auf den Maultieren. Wir wussten nichts von Maultieren. Die Frauen, die nach „Cowboy“-Art auf dem Maultier saßen, bluteten vor Reibung als wir unten ankamen. Zum Glück saß ich seitlich – im Damensitz mit beiden Füßen zusammen. Ich litt weniger.
Als wir ans Meer kamen, waren zu unserer Überraschung noch mehr Menschen anwesend, bestimmt aus anderen Heimen, und Kinder und alte Menschen – alle Juden. Die Partisanen trugen lange Bärte und ich hatte viel Angst. Sie sammelten uns und wollten uns etwas „beibringen.“ Sie erzählten uns, dass sie einen beim Lügen erwischten und ihm gleich einen Messer durch das Hals zog. Sie sagten uns, „Falls Sie sich überlegen, zu lügen, überlegen Sie lieber zweimal.“

Selbstverständlich waren die Partisanen bewaffnet; und dazu hatten sie noch große lange Bärte und Schießkugeln um den ganzen Gürtel und die Brust herum. Am selben Abend standen wir um 3 oder 4 Uhr morgen auf. Sie riefen uns, weil das Fischerboot kam. Wir waren kaum auf dem Berg. Wir schliefen nur in einer kleinen Decke auf dem Boden. Wir hatten keine Zeit uns Sorgen darüber zu machen, was oder wo wir essen, wie oder wo wir uns waschen oder organisieren können. Wir gingen sofort los. Wir blieben nicht, wie die andere, drei Wochen lang dort.

Sie wollten Geld von uns. Sie sagten, alles, was wir haben, sollten wir dort lassen, weil das Geld von nun an für uns keinen Wert mehr hat. Das stimmte nicht, aber die Menschen ließen ihr Geld dort. Ich hatte nichts, was ich dort lassen konnte. Mein Beitrag wurde von Paul Noah bezahlt. Er gab mir auch ein bisschen Geld, weil ich nichts hatte. Ich überhaupt hatte kein Geld, kaum etwas anzuziehen und keine Verwandten bei mir. Ich hatte nichts, gar nichts.

Ich weiß nicht, wie Paul es schaffte – wie er die Partisanen bezahlte. Aber ich weiß, dass er bezahlte und für Toto auch bezahlte. Ich weiß nicht, wie viel das kostete. Toto war derjenige, der sich darum kümmerte. Ich weiß nur, dass ich in Pauls Schuld stehe.

Mit mir im Fischerboot waren Toto und Mois Nahmias. Rita, Paul Noah und ihre Tochter waren nicht bei uns. Sie fuhren früher und alles geschah sehr, sehr schnell. Als wir in der Türkei ankamen, wurden wir schon erwartet.

Schon vor uns hatten meine Cousins und Cousinen – Nadir, Silvia, Rene – sich dazu entschieden, eine eigene Gruppe zusammen mit zwei der Kinder von Noah zu bilden. Sie gingen ebenso mit den Partisanen mit, kamen aber nie an. Wir wussten nicht, ob sie verraten wurden, ob das Boot unterging, wann oder wie sie starben, wer sie erwischte und so weiter, und so fort. Bis heute weiß niemand, was tatsächlich passierte.

Auf dem Boot waren wir im Laderaum eng zusammengepackt. Wir waren ungefähr 30. Als das Boot losfuhr, fing die Menschen an, wegen des stürmischen Wetters am Meer, sich zu übergeben. Wir hatten Eimer und wenn sie voll waren wurden sie ins Meer geleert und wieder zu uns gestellt. Ich hielte es nicht mehr aus. Ich konnte nicht atmen. Ich war nicht seekrank und ging aufs Schiffsdeck, wo ich in einer Ecke saß. Der Kapitän – ein Mann von ungefähr 23 Jahren – damals war ich 20 – fand mich und sagte, dass er seine eigene kleine Kabine hatte, wo ich mich erholen durfte. Dafür musste ich mich gar nicht bemühen. Deshalb reiste ich mit einem bisschen Abstand von den anderen Passagieren. Ich hatte meinen eigenen Raum. Toto war auch nicht mehr im Laderaum und der junge Kapitän erreichte erfolgreich die Küste der Türkei.

Früh am Morgen kamen wir in einem Ort namens Tsesme an. Der Kapitän nahm jeden von uns und trug uns nacheinander zum trockenen Boden, indem er durch die See lief. Als er den letzten von uns darüber trug, erklärte er uns, dass wir 10 Minuten in einer bestimmten Richtung zu einem Ort laufen mussten, wo sie uns abholen werden. Die Sonne war noch nicht auf, als er und sein Boot schon wieder losgefahren waren.

Später kamen griechische Menschen in Namen des griechischen Staates und kauften uns Frühstück in einem Café. Sie waren vom griechischen Konsulat und dort, um uns zu unterstützen. Ich weiß nicht mehr, ob wir überhaupt Türken kennenlernten. Nach dem Frühstück brachten sie uns zum Zug. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an den Zug. Sie brachten uns in eine Art Lager, wo Soldaten, Griechen und andere waren. Natürlich waren auch viele Juden dort.

Wir nahmen uns vor, Paul und Rita zu suchen, die auf einem anderen Boot waren. Wir fragten nach ihnen, aber sie erzählten uns, dass sie noch nicht angekommen waren, obwohl sie Griechenland eine Woche früher verlassen hatten als wir. Wir machten uns schon viele Sorgen. Doch eine Woche später waren sie da. Anscheinend hatte deren Kapitän eine Freundin auf einer Insel und fuhr mit dem Boot und Passagieren dahin. Um mit seiner Freundin zu sein, blieb er eine Woche oder zehn Tage auf der Insel, während die Passagiere mit mangelnden Wasser und Essen im Laderaum versteckt blieben. Unser Kapitän war dagegen viel effizienter und sogar tapfer.

Ich glaub der Lager hieß Halep. Beim Ankunft mussten wir duschen und wurden desinfiziert. Die hatten Angst davor, dass wir Flöhe oder sonst was hätten. Vielleicht hatten sie sogar Recht. Dort warteten viele andere Juden darauf, mit der Bahn nach Israel geschickt zu werden.

Kurz nach der Ankunft war da eine rumänische Familie, die mit dem Auto nach Israel fahren wollte und ich wurde gefragt, ob ich mitfahren will. Obwohl ich die Familie nicht kannte, entschied ich mich dazu. Ich dachte: die anderen fahren wohl mit Güterzügen – ich nehme das Risiko an. Also fuhr ich mit ihnen und war in kurzer Zeit in Haifa und dann Tel Aviv. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir fuhren. Ich weiß nur noch, dass wir früh morgens losfuhren und dass sie untereinander auf rumänisch sprachen und ich nichts verstand. Als wir in Haifa ankamen, übernahm Sochnut [Jewish Agency for Israel – israelische Einwanderungsorganisation] und brachte uns nach Tel Aviv. Wir waren dort acht Tage mit Sochnut. Ein Neffe meiner Großmutter Saporta wohnte in Tel Aviv. Er hatte dort eine Bücherei. Er hieß Albert Alcheh. Endlich, nach acht Tage Warten, war ich dann bei Lina, einer Cousine.

Nach einer Woche bei Lina kam Samuel Molho mit einem Antrag. Er war irgendwie mit mir verwandt, da eine Schwester meines Vaters mit einem Molho verheiratet war. Er schlug vor, dass ich ihm bei einziehe, da er auf dem obersten Stockwerk ein Zimmer gebaut hatte, wo Paul, Rita, Totos, Mimi Nahmias, und Pauls Mutter und Vater waren. Er meinte, „da dein ganzer Freundeskreis bei mir wohnt, solltest du auch kommen, um Lina nicht zu belasten“. Und so entschloss ich umzuziehen und bei Samuel Molho zu wohnen.

Dort schlief ich im selben Zimmer mit Frau Noah und ihrem Mann und Mimi. Mein Bett lag unter einem anderen und wurde zum Schlafen rausgezogen. Vier Menschen in einem kleinen Zimmer war nicht einfach. Die arme Frau Noah konnte nachts nicht schlafen und weinte wegen ihren zwei verlorenen Kinder, die mit Nadir, Rene und Slyvia verschwanden. Den Verlust konnte sie nicht akzeptieren.
In Tel Aviv gab es einen Thessaloniki-Club, „Le Club des Salonciens,“ und nahmen auf, wen immer sie konnten. Frau Angel, ein Mitglied des Clubs, sagte, dass sie gerne bei ihr zuhause ein Mädchen aus Thessaloniki, die ungefähr so alt wie ihre Tochter wäre, unterbringen würde. Obwohl ich nie bei diesem Club gewesen war, kamen sie mit dem Antrag zu mir. Sie meinte zu mir, dass es dort viel bequemer und ruhiger und was weiß ich noch wäre. Ich dachte, drei wären schon zu viel für dieses Zimmer. Weil ich die Chance hatte, in diesem neuen Ort zu leben – obwohl es weg von Freunden und mit fremden Menschen war – entscheid ich mich dafür und ging dahin. Bei Frau Angel hatte ich mein eigenes Zimmer. Da gab es eine Couch, die zu einem Bett wird. Die Tochter von Frau Angel hieß Nora. Sie war sehr sympathisch und wir verstanden uns schon gut.

In Tel Aviv wollte ich so schnell wie möglich einen Job finden. Ich habe alle möglichen Bewerbungen rausgeschickt. Ich schrieb, dass ich Französisch, Englisch, Spanisch und Griechisch konnte. Ich bewarb mich bei der Post, beim Militärlager, bei der Bank, zu der alle Juden Thessalonikis gingen, die Tida Saportas Cousin gehörte, sowie bei der Zypries-Bank. Der Militär-Lager bot mir eine Stelle an, also fing ich an, beim britischen Militär zu arbeiten. Ich musste 5 Uhr morgens aufstehen, um in einen Militär-LKW zu steigen, der mich ins Lager brachte. Es war weit weg von der Stadt und ich wusste nicht mal in welcher Richtung. Dort tippte ich den ganzen Tag auf einer Maschine. Ich schrieb das, was ich bekam. Ich weiß nicht mehr, worum es in den Briefen ging. Damals trug ich im Gegensatz zu allen anderen im Lager noch Zivilkleidung. Ich weiß auch nicht mehr, wann wir wieder zurück von der Arbeit kamen. Ich weiß nur, dass es extrem erschöpfend war.

Nicht lange nachdem ich beim Militär anfing, erhielt ich eine Zustimmung von der Post und später auch von der Bank. Deshalb kündigte ich den Job beim Militär – und auch weil es so erschöpfend war. Ich hatte die Gelegenheit, dass alles zu ändern. Die Post erklärte im Brief, dass sie mich für die Zensur wollte. Ich hätte die Briefe von anderen lesen und mich melden müssen, falls ich etwas Unangemessenes finde. Ich wusste, dass sowas nicht für mich wäre, und sobald ich das Angebot von der Bank erhielte, ging ich dahin. Die war die Zypries-Bank.

Bei der Bank war ich Sekretärin der Bankgeschäftsführer. Da waren zwei – ein britischer Geschäftsführer und ein zyprischer. Ich hatte einen eigenen kleinen Büroraum neben den Geschäftsführern. Der Rest der Mitarbeiter war in einem Großraumbüro. Der englische Geschäftsführer schrieb die Briefe, ich tippte sie und brachte sie ihm zu unterschrieben. Das und die passenden Akten ablegen gehörten zu meinen Hauptaufgaben. Der zyprische Geschäftsführer beriet mir darin, was ich machen sollte und wie ich mit dem britischen Typ umzugehen habe.

Ich hatte keine festen Arbeitszeiten, da ich immer dann ging, wenn ich mit meinen täglichen Aufgaben fertig war und alles in Ordnung hatte. Das war manchmal um drei oder drei Uhr dreißig, oder vier, je nachdem wie viel ich zu tun hatte. Nach der Arbeit ging ich nicht sofort zu Frau Angel zum Mittagessen, stattdessen ging ich in ein sephardisches Restaurant in der Nähe. In diesem Restaurant konnte ich alleine essen. Er kochte auch wie bei uns. Der Besitzer machte auch gefüllte Tomaten, weil er aus Thessaloniki war, und die Menge und Qualität war immer zufriedenstellend. Dort traf ich mich mit vielen anderen wie wir.

Da ich kein Geld hatte und Paul den Partisanen für mich bezahlte, suchte ich einen zweiten Job. Nach dem Essen im Restaurant ging ich zum Import-Export-Händler, an dessen Name ich mich nicht mehr erinnern kann. Da nahm ich seinen ganzen Schriftverkehr auf. Er erzählte mir was er wollte, dann musste ich es umformulieren und die Briefe ordentlich schreiben. Ich musste mich um alles kümmern.
Normalerweise war ich um 20 Uhr fertig, war aber bis dahin so müde, dass ich keine Kraft mehr für etwas hatte. Deswegen lernte ich niemals Hebräisch. Ich lernte mal eine Woche als ich ankam, aber hörte sofort auf, nachdem ich zur Arbeit ging.

Eines Tages kam der Geschäftsführer zu mir und fragte über meine zweite Beschäftigung. Er fragte, ob es mir schon bewusst war, dass ich für eine zweite Beschäftigung nicht genehmigt war, da ich mit Bankbewilligungen involviert bin. Ich hatte Zugang zu allen Akten und hätte Informationen rausgeben könnten. Ich sagte dem Geschäftsführer, dass, obwohl ich keine Familie hatte, mein Gehalt nicht ausreichend war. Deshalb musste ich eine zweite Stelle suchen. Daraufhin sagte er mir, dass er offiziell nichts über meiner zweiten Beschäftigung wusste. Er war mit der Qualität meiner Arbeit so zufrieden, dass er dafür bereit war, in der Hinsicht die andere Wange hinzuhalten. Später, als ich mit meinem zukünftigen Ehemann verlobt war, weinte er, weil ich gehen musste.

Mit den zwei Jobs waren meine Tage verplant und ich hatte keine Zeit für mehr. Während dieser Zeit ging ich nirgendwohin. Ich ginge nicht in die Synagoge, nicht einmal, und während den Hohen Feiertagen war ich bei Frau Angel. Diese Familie, in der der Mann ein entfernter Verwandter meiner Mutter war, war nicht sehr religiös. Sie spielten immer Karten und ich blieb bei ihnen.
Es gab zu meiner Zeit in Thessaloniki keine „traditionelle“ Juden. Erst in Israel sah ich Juden mit langen Bärten, runden Hüten und schwarzen Gewändern mit vielen Fettflecken. Solche Juden hatten wir auch nicht auf Fotos gesehen. In Thessaloniki war es uns nicht bewusst, dass wir anders vom Rest sein könnten.

Mein Eindruck von den Menschen in Israel war, dass sie aggressiv sind. Wir waren daran gewohnt, dass Menschen sich mehr Aufmerksamkeit geben. Sie kümmerte sich auch nicht um ihr Aussehen. Sie trugen Kurzhosen, die bis zum Knie ging, was wir in Thessaloniki noch nie sahen. Auch die Offiziere trugen solche Kurzhosen. Man gewöhnt sich irgendwann daran und ich muss gestehen, dass sie schon sehr praktisch für das Klima sind. Aber zuerst schien sie mir sehr schäbig zu sein. Manche aus Thessaloniki trugen am Ende solche lumpigen Klamotten, ich nie. Ich hatte ein Kleid und dies war immer sauber und gebügelt. Ich war nie schlecht angezogen. Ich war allerdings nur im Sommer da und ging, bevor der Winter kam.

Mit Israelis hatten wir keinen Kontakt – weder mit Männern noch mit Frauen. Alle unserer Kontakte dort waren mit Menschen aus Thessaloniki, vor allem als ich bei der Bank arbeitete und ein Büro für mich allein hatte – ohne Kontakt zu den anderen Mitarbeitern im Großraum.

Meine Freunde fehlten mir auf jeden Fall, doch waren alle damit beschäftigt, mit Fabrikarbeit o.ä. sich übers Wasser zu halten. Meine Verhältnisse waren zum Vorteil, aber nur dank meinen Kenntnisse der englischen und französischen Sprachen und von Tippen.

Bei der Befreiung war ich noch in Israel. Später erfuhr ich über meine Schwestern. Da ich nicht in Griechenland war, weiß ich nicht wie die Befreiung hier war. Ich erinnere mich noch an freudiges Schreien: „der Krieg ist vorbei! Der Krieg ist vorbei!“ Ich erinnere mich an sonst keine Feier. Wenn man den ganzen Tag arbeitet, weiß man nicht immer was passiert.

Nach dem Krieg

Die erste Änderung war, dass sofort wieder Kontakt mit Thessaloniki entstand. Ich erfuhr, dass Onkel David und Tante Mitsa noch am Leben waren. Briefe waren die einzige Form von Kommunikation. Sie wussten, ich war in Israel und schickten mir Briefe über Albert Altcheh.

Zuerst stellte ich Kontakt mit denjenigen her, die in Griechenland blieben – nämlich meinen Onkeln Pepo und David. Der Rest der Familie wurde von den Konzentrationslagern nach Spanien, nach Casablanca und danach nach in ein Lager in Israel gebracht. Als sie ankamen, ging ich sie dort besuchen.

In Israel mieteten Onkel Mentesh und Onkel Sabetai eine kleine Wohnung. Doch gab es kein Platz für ihre Mutter, meine Großmutter, die dann im Altersheim war. Während des Krieges war Großmutter zusammen mit den ganzen spanischen Staatsbürgern und Rosa, die Schwester von Alice und Linda, kümmerte sich um sie. Das Leben im Altersheim war nicht schön für Oma. Sie war fast taub und machte Geräusche mit den Metalltöpfen beim Toilettengang in der Nacht und die andere „Gäste“ beschwerten sich. Sie konnte nicht genug hören, um vorsichtiger zu sein. Einmal kamen sie zu ihr und fragten, ob sie sich die Haare schneiden lassen mag. Weil sie ihnen weder hörte noch verstand, schnitten sie ihr die langen Haaren ab, die sie ihr ganzes erwachsenes Leben in einem Chignon trug. Als Großmutter ihr Frisur zum ersten Mal sah, fing sie an zu weinen. Sie starb sehr, sehr traurig.

Das einzige, worüber ich nachdachte, war zu meinen Menschen zurückzukehren. Ich sehnte nach der Wärme meiner Familie. Ich wusste, dass Onkel David und Pepo noch lebten. Onkel David heiratete nicht und wohnte mit seinem Bruder Pepo und seiner Frau, Tante Mitsa. Die drei hatten vor sich auf einer kleinen Insel zu verstecken und dort mit ihrer jungen Tochter Rena zu leben. Leider wurden sie auf Lesvos von den Deutschen erwischt und inhaftiert. Doch Tante Mitsa, die aus Wien kam, konnte Deutsch und deswegen kamen sie und ihre Tochter nicht ins Gefängnis. Später auf der Insel verdiente Tante Mitsa ihren Lebensunterhalt damit, Kaffeesatz zu lesen. Ihre Kunden bezahlten sie mit einem Hühnchen oder einigen Kartoffeln, etwas, womit sie überleben konnte.

So war es bis zur Befreiung, als alle nach Athen und später nach Thessaloniki zurückgingen. Da ich während der Zeit noch in Israel war, weiß ich nicht so viel, doch weiß ich, dass sie danach nie wieder mit Kaffeesatz zu tun hatte.

Sie schickten mir Briefe über Albert Altcheh. Sie konnten mich erreichen. Auch die spanische Botschaft in Athen konnte mich erreichen; meine Reisepapiere schickten sie an Ida Arouesti, eine Freundin meiner Schwester Matilde. (Vor dem Krieg hatte Ida eine Cousine, die Selbstmord beging, in dem sie vom Balkon sprang. Um sie zu ehren, ließ sich ihr Vater eine Synagoge bauen, die heute Monastirioton heißt und die größte Synagoge Thessalonikis ist.) So lernte ich, dass meine Schwestern noch leben – wir fingen einen Briefwechsel an. Ich arbeitete zu dieser Zeit noch. Trotz meiner Lust zurückzugehen, wusste ich, dass es meinen Schwestern an Ressourcen mangelte und sie dementsprechend so lebten. Sie waren beide in Athen bei Ida Arouesti und hatte zwischen sich nur einen Mantel. Sie hatten gar kein Geld. Später bekam Eda eine Stelle bei der griechisch-britischen Handelskammer, während Matilde noch arbeitslos war.

Einige meiner Verwandten die nach Spanien gegangen waren, waren schon wieder in Thessaloniki. Onkel Sinto, der Vater von Rene, schrieb mir einen bewegenden Brief, in dem er fragte, ob ich nicht mitkomme und sagte, dass er auf mich aufpassen würde, „Als wärst du meine eigne Tochter.“ Doch seine Frau, Tante Sol, die Schwester meines Vaters, war dagegen. In einem Brief von ihr, schrieb Tante Sol, dass sie vier Söhne hat – Davi, Sumuel, Joseph und Marcel – und sich deswegen nicht um uns kümmern kann. Onkel Pepo und Onkel David meinten, wir durften zu jeder Zeit bei ihnen einziehen.
Zu dieser Zeit zog Solon Molho von der Insel Skopelos, wo er während des Krieges versteckt war, wieder hierher und ging zu Onkel David, um ihn zu erklären, dass er mich liebt und heiraten möchte. Onkel David schrieb mir in Israel und ich sagte seinen Antrag zu. Warum nicht?

Ich kannte Solon aus der Zeit der Besatzung. Wie ich schon erzählte, waren in der Zeit Solon, Totos, Bob und andere Freunde jeden Abend bei uns. Ich hatte deswegen noch Erinnerungen an Solon. Ich stimmte also zu ich bereitete mich vor, nach Thessaloniki zurückzukehren.

Solons Eltern kannte ich sogar vor dem Krieg. Sie hießen Mair und Sterina Molho. Mair war Buchhändler und Sterina war Hausfrau. Ihre Kinder, außer Solon, waren Victoria und Yvonne. Beide Schwestern heirateten und hatten schon Kinder vor dem Krieg. Yvonne, die älteste, war mit Henry Michel verheiratet und hatte einen Sohn, Daviko. Victoria war mit Youda Leon verheiratet und hatte einen Sohn, Niko, und eine Tochter, Nina.

Im Gegensatz zu meiner Familie, waren die Molhos nicht spanischer Herkunft. Die Molho Familie wohnte in einem Haus uns gegenüber. Also kannten sie uns auch. Sterina war auch dafür, dass wir heiraten. Sie war sehr entspannt und gutartig, doch dazu noch eine Realistin. Solon Molho war als Kind sehr gemocht. Er hatte eigentlich einen älteren Bruder, den er nie kennenlernte, da er eines Tages unter dem Bett mit Streichhölzer spielte, sich dabei in Brand steckte und starb. Ich glaub er wurde zwischen den beiden älteren Schwestern geboren.

Als junger Mann war Solon ziemlich sportlich. Er war draußen viel unterwegs – Berge steigen, angeln usw. Er war auch Pfadfinder. Deswegen waren unsere Kinder später Pfadfinder. In seiner Nachbarschaft war der Laden von Thomas, eine Fahrradwerkstatt, wo man Fahrräder ausleihen oder reparieren lassen konnte. Solon war immer dort. Jahre später kam in einer Bäckerei eine ältere Dame auf mich zu und fragte nach Solon. Sie war die Schwester von Thomas und erzählte davon, wie, nachdem Solon ein Fahrrad nahm und los radelte, Sternia immer hinterherkam um Thomas darum zu bitten, auf Solon aufzupassen.

Solons Vater, Mair Molho, war ein ziemlich strenger Mann. Nachdem seine Tochter Victoria verheiratet war, nahm er den 16-jährigen Solon mit in die Buchhandlung, um ihn auszubilden. Der war der einzige Buchladen Thessalonikis mit internationalen Angebot, d.h. englischen, französischen und deutschen Büchern.

Das einzige was ich zu der Zeit seines Heiratsantrags wusste, war, dass er aus einer anständigen Familie kam, die eine berühmte Buchhandlung hatte, und dass er ein enger Freund von Nadir, meinem Cousin, und noch ein Mitglied unserer Gruppe war. Dazu wusste ich, dass er Jude war, von guter Humor zu sein schien und das war’s. Obwohl wir zunächst nichts hatten, kämpften wir zusammen und hatten gemeinsam ein schönes Leben.

Als ich Solon kennenlernte, war er schon mit einem Mädchen namens Dolly Modiano verlobt, aber anscheinend war seine Mutter damit nicht einverstanden. Dolly war später mit jemanden anders verlobt – mit Mardoche. Er hatte viel Geld und sie ging mit ihm weg, so hatte sie das Konzentrationslager vermieden.

Solon war bei der griechischen Armee. Er leistete seinen Militärdienst mit Nadir; deswegen wurden sie Freunde. Er war immer noch bei der Armee als die Deutschen kamen. Ich glaub er war in Sidirokastro [Sidirokastro war eine Festung an der bulgarisch-griechischen Grenze. Sie wurde am 6. April 1941 von den Deutschen angegriffen und drei Tage später eingenommen] Davon ging er zu Fuß zurück nach Thessaloniki.

Solon war damals für die Militärkasse verantwortlich und seine Aufgabe bestand darin, die Inhalte zu vorzuzeigen. Er ging mit anderen Soldaten zu einem Hafen wo sie ein Boot nahmen, das von Flugzeuge verfolgt wurde, dann liefen sie, um nach Thessaloniki zu kommen. Diese Kasse machte ihn sehr nervös, da sie nicht ihm, sondern der Armee gehörte. Er schaffte es, die Kasse an jemanden anderen zu übergeben und kam als Zivilbürger und nicht mehr als Soldat in Thessaloniki an.

Währenddessen waren die Deutschen schon in die Stadt angekommen. Als sie da waren, beschlagnahmen sie sofort den Buchladen. Sie schmissen alle raus – die Besitzer sowie das Personal – ohne die Erlaubnis zu geben, ihre Sachen, gar ihre Jacken, mitzunehmen. Mair Molho schickten sie ins Exil. Ich weiß nicht wo sein Exil war. Vielleicht auf der Insel Ios. Kurz danach wurde er zurückgebracht und gezwungen, sein ganzes Geschäft an einen Kollaborateur der Deutschen, ein Buchhändler namens Vosniadis, für insgesamt drei Pfund zu verkaufen. So „wechselte“ die Geschäftsführung.
Solon blieb in Thessaloniki bis die Deutschen anfingen, Maßnahmen gegen Juden durchzuführen. Direkt nach der Versammlung am Eleutherias-Platz in Thessaloniki, fuhr er in einem Ruderboot weg. Er ruderte nach Evoia und war am Ende in Athen, was unter italienischen Besatzung war. Unter diesen Maßnahmen waren alle Juden im Ghetto und später in den Lagern interniert. Unsere Beziehung war plötzlich zu Ende.

In der Zwischenzeit – als er von der Armee wieder da war und bevor er nach Athen ging – war er jeden Abend bei uns. Zu der Zeit waren wir mit Tante Rachelle, die zwei Jungs und ein Mädel hatte. Mit uns zusammengezählt waren es fünf Mädchen. Die Jungen freuten sich, bei uns zu sein. Da unsere Mutter vor kurzem gestorben war, kamen sie immer zu uns. So lernte ich Solon erst kennen. Er verhielt sich sehr gut!

Nachdem Solon wieder da war, dachte er wohl unbewusst, dass ich schon seine Frau wäre. Wahrscheinlich wegen seiner Mutter, die ihm immer sagte: „Dieses Mädel ist für dich.“ Als er von der Insel zurückkehrte, ging er zu meinem Onkel David, um zu sagen, dass er mich heiraten wollte. Und Onkel David schrieb mir, wie ich schon erzählte. Ich wollte ihn heiraten, weil ich ihn und seine Familie schon kannte und nicht woanders suchen wollte.

Während dieser ganzen Zeit wusste ich ganz klar, dass Toto in mich verliebt war. Also wie hätte ich Solon zusagen könnten? Nachdem ich zusagte, bereitete ich mich vor, zurückzukehren. Es ist auch bemerkenswert, dass mich zu diesem Zeitpunkt ein Cousin von mir in Israel, Leon, auch heiraten wollte - geschweige denn Toto! Aber Solon war meine Wahl.

Wir fanden das ganze Leben in Israel damals etwas eintönig. Der ganzen Zeit gingen wir nicht einmal tanzen! Auf den Straßen sangen wir die griechischen Lieder, die wir kannten. Wir sangen mit viel Nostalgie für Griechenland und in dieser Stimmung sagte ich mir, „Ich werde zurückgehen.“ Ich ließ mich deswegen von niemanden beraten, weil ich schon wusste, was ich wollte. Ich schickte also die Zusage an Onkel David.

Ich freute mich nach der Befreiung sehr darüber, dass Briefe nach und nach ankamen; diese habe ich noch. Briefe von und zu meinen Schwestern, Briefe von Onkel Pepo und, natürlich, die Briefe von Solon. Ich war glücklich. Ich stand davor, meine eigene Familie zu haben und nicht mehr in einem fremden Land oder fremden Haus leben zu müssen. Ich freute mich wahnsinnig auf meine Rückkehr.
Danach besorgte ich die entsprechenden Papiere und fuhr mit Charles Joseph und seiner ersten Frau, Nini, der Tochter eines Cousins meines Vaters. Alle Mitglieder der Familie Saltiel. (Auch seine zweite Frau, Rosa, war Saltiel.) Wir kamen zuerst in Piraeus an und fuhr von dort aus nach Thessaloniki.

Als wir in Thessaloniki ankamen, kam Victoria zu mir, da Solon krank war. Er wurde kurz vor meiner Ankunft wegen einer Hernie operiert. Die hatte er vom zu viel Schreien beim Yachtturn bekommen. Also erholte er sich im Bett.

Die ganze Familie Molho wurde nach Deutschland deportiert: Solons Vater und Mutter, seine Schwester Yvonne und ihr Mann und Kind. Das gilt auch für den Rest der Familie. Victoria und ihre Familie waren die einzigen, die noch da waren.

So wurden sie gerettet: Eines Tages waren sie in der Apotheke und da war zufällig Dr. Kallinikides, der über die furchtbaren Sachen, die den Juden derzeit passieren, erzählte. Dazu sagte er, dass er dazu bereit war, eine jüdische Familie zu retten. Sie hörten diese Ansage und obwohl sie ihn nicht kannten, gingen sie auf ihn zu. Frau Kallinikides ging dann zu ihnen zuhause um die Kinder zu holen und brachte sie mit zu ihr nachhause. Später hatte er Kontakt mit denjenigen, die direkt vor den Augen der Deutschen Juden illegal nach Athen schleppten. So rette Dr. Kallinikides ganz unauffällig die ersten Kinder; später stellte er jemanden dafür an, die Erwachsene abzuholen und organisierte alles für die sichere Fahrt nach Athen. Sie hatten viel Glück und Frau Kallinikides wurde für immer Freundin der Familie.

Solon war schon in Athen. Als sie sich wiederfanden und um zu überleben, stellten sie Seifen her – Solon half Youda, der eine Seifenmanufaktur in Thessaloniki hatte. Sie gingen von Haus zu Haus, um das tägliche Brot zu verdienen. Später wurde Athen von den Deutschen besetzt und sie mussten sich woanders verstecken.

Sie gingen also nach Glossa Skopelous. Giorgos Mitzilotis, der Bürgermeister des Dorfes, war einer der Zulieferer für Onkel Youdas Manufaktur. Sie lieferten ihm Olivenöl – ein Rohmaterial für seine Seife. Die ganze Familie Leon, die Großeltern, Maurice, Jackos, Youda und seine Familie und der Bruder Victorias, Solon, eine Gruppe 14 Personen, wurden von ihm nach Glossa gebracht. Dort blieben sie der ganzen Besatzung bis zur Befreiung Thessalonikis.

Girorgos nahm ein großes Risiko auf sich. Nicht nur für sich selbst und seine Familie, sondern auch die ganze Gemeinde. Menschen aus dem Dorf halfen ihm – sie gingen mit Girorgos Bäume abfallen, Holz sammeln, sie passten auf die Tiere auf usw.

Die Deutschen kamen erst noch nicht in Glossa Skopelous. Aber nachdem sie da waren, musste die Familie von Ort zu Ort ziehen, um nicht von den Deutschen entdeckt zu werden. Das war ganz viel Aufregung! Zu der Zeit ging Solon immer wieder zur Werft um mitzuhelfen. Er war noch jung und voller Kraft und Vitalität. Er arbeitete auch mit einem gefälschten Ausweis mit dem lokalen Eisenschmied.
Die Familie hörte auch heimlich Radio, also wusste sie von den ganzen Geschehnissen. Als der Krieg vorbei war, kehrten sie nach Thessaloniki zurück. Giorgos Mitziliotis und sein Bruder Stephanis wurden als Gerechtete unter den Nationen geehrt.

Nachdem sie wieder in Thessaloniki angekommen waren, ging er zum Buchladen und ein paar Tage später hatte er ihn wieder. Die erste Etage war vom britischen Geheimdienst übernommen und als ein „Vorlesungs- und Übungssalon“ benutzt worden. Natürlich wurden alle Bücher von Vosniades genommen. Später brachten sie all die Bücher, die nicht von Vosniades verkauft wurden, wieder in den Laden. Diese erste Etage war jeden Tag voller Menschen, weil die Briten oben eine große Karte hatten und markierten auf dieser die Bewegungen der Armeen, wie die Deutschen den Rückzug antreten usw. Die Briten blieben im Laden bis jeder Ort befreit wurde. Später eröffnete sie ein British Council, wo sie u.a. eine Bibliothek hatten, wo sie Englischunterricht anboten. Genau wie heute.
Als die Buchhandlung wieder aufgemacht wurde, kamen sowohl griechische Bücher als auch Bücher aus dem Ausland. Ich habe den Eindruck, dass wir die älteste Buchhandlung Thessalonikis, wenn nicht ganz Griechenlands, sind – älter als Elefteroudaquis [Anm. eine der ältesten Buchhandlungen Griechenlands, in Athen beheimatet. 2016 geschlossen.].

Solon wohnte bei seiner Schwester Viktoria und ihrem Mann Youda in der Karolou-Deal-Straße während ich bei Tante Mitsa wohnte. Bei unserem ersten Treffen waren wir sehr emotional. Er war bewegt, ich auch, also weinten wir und küssten wir uns. Wir dachten nicht, wir fühlten und agierten nur. Es ist oft so, dass Tränen erstmal kommen und danach folgt das Lachen.
Ich kehrte in ein befreites Thessaloniki zurück. Das war 1944 oder 1945. Ich hatte gar keine Probleme. Ich weiß nicht mehr, wo ich meine Schwestern zum ersten Mal wieder traf. Ob es in Thessaloniki oder Athen war. Eda war noch beim griechisch-britischen Handelskammer und Matilde war bei Tante Mitsa. Matilde heiratete David Dzivre. Das war durch eine Heiratsvermittlung. Sie hatten zusammen zwei Kinder, Nico und Yofi (Joseph). Nico ist schon tot.

Eda war zuerst mit Albertico Abravanel verlobt. Da sie sich doch nicht sehr gut verstanden, trennten sie sich. Raf war heimlich in sie verliebt. Rafael Saporta war Tidas Bruder und einer unserer besten Freunde. Ihre ganze Familie wurde mit den spanischen Juden deportiert. Nach dem Krieg wohnte er erst in Paris. Als Tida ihn besuchte, vermittelte sie die Verlobung. Ich schaffte es nicht zur Hochzeit. Sie hatte eine Tochter namens Sylvie.

Meine Schwestern wurden nicht viel über mein Leben in Israel informiert, genauso wie ich nicht viel über ihr Leben im Haridari-Gefängnis berichtet bekam. Ich weiß nur, dass die Deutschen ab und zu Gefangene vom Appellplatz aussortierten und zum Erschießungskommando schickten. Da meine Schwestern spanische Staatsbürgerinnen waren, waren sie vom Erschießungskommando geschützt. Der spanische Botschafter, Herr DeRomero, sorgte für ihr Überleben. Jede Woche schickte er ihnen ein Paket voller Essen.

Ich weiß nicht mehr, wie lange nach der Wiedervereinigung Solon und ich heirateten. Frau Margaritis, die Schwester meiner Tante Mitsa, gab mir mein Brautkleid. Sie war Musikerin und trug dieses auf Konzerten.

Die Hochzeit fand am 17. März 1946 in der Monastirioton-Synagoge statt. Tante Mitsa und Onkel Pepo kümmerten sich um die Vorbereitungen und alles war in Ordnung. Wir waren ganz glücklich. Nach der Hochzeit gingen wir zu Tante Mitsa.

Das Haus, in dem wir noch heute wohnen, war das von Solons Eltern. Solon wurde hier geboren und kam wieder hierher, nachdem er bei Victoria wohnte. In diesem Haus fand er andere Menschen drin wohnen. Sie waren Flüchtlinge und natürlich wollten sie nicht ausziehen. So war es mit allen jüdischen Häusern, die im Krieg „leer“ standen. Menschen zogen ein und wollten nach dem Krieg nicht wieder gehen. Ich weiß nicht mehr, wie Solon das Haus zurückkriegte. Thomas, der vom Fahrradladen, unterstützte ihn dabei. Als wir heirateten, stand für uns das Haus schon bereit. Solon kümmerte sich gut ums Haus. Er baute meinetwegen auch ein Kaminfeuer. Er wollte mich glücklich machen.

Unsere Flitterwochen waren eine Bootsfahrt nach Athen. Wir waren in Kifissia, ein Vorort Athens, und verbrachten ein paar Tage dort im Hotel. Dann fuhren wir zurück nach Thessaloniki, wonach wir anfingen zu arbeiten... und arbeiten und arbeiten und nur noch arbeiten.

Also waren wir verheiratet. Er war Buchhändler und ich versuchte, Vorhänge aus Mücken-geschützem Stoff zu machen, die ich auch in einer fröhlichen Farbe färbte. Ich hängte sie an die Fenster auf der Straßenseite. Nur so konnten wir unsere Privatsphäre sichern. Unsere Sachen wurden von dem Mann geklaut, der auf sie aufzupassen hatte. Wir hatten eine schwierige Zeit.
Ich war unglücklich, weil ich einem Haus wohnte, wo ich keinen Ausblick vom Meer hatte. Zuerst dachte ich, es wäre eine Art Gefängnis, da ich immer in Häuser neben und mit Ausblick des Meeres wohnte.

Solon und ich entschieden als Nächstes, Kinder zu bekommen. Also wurde ich schwanger. Ich war dann sehr, sehr glücklich. Ein Kind in der Familie! Es waren Jahre seitdem wir Kinder überhaupt sahen. Mein erstes Kind war ein Junge! Ein sehr glücklicher Moment. Das war mein erstes Kind, meine erste Freude. Als wir die Brit Mila organisierten, sah er so schön aus und viele Leute waren dabei. Der Athener Mohel war da. Ich genieß die ganze Stimmung – die Süßigkeiten, die Menschen, die Musik, die Tchalgin – sehr. (In Thessaloniki in der Zeit vor dem Krieg und kurz danach, hießen die jüdischen Musiker, die bei Hochzeiten, Verlobungen und andere Feiern waren, Tchalgin.)

Als der zweiter Junge geboren wurde, war ich enttäuscht, da ich eine Tochter wollte. Und schon wieder die Brit Mila, die Feierlichkeiten usw. Aber ich wollte ein Mädchen. Ich betete zu Gott und es klappte! Das dritte Kind war ein Mädchen.

Nie hatte ich eine Fehlgeburt, doch als ich zum vierten Mal schwanger wurde, wollte ich die Schwangerschaft abbrechen, weil alles in der Zeit sonst so schwierig war.

Als die Kinder noch zur Schule gingen, hatten wir zwei Damen – beide namens Olga – bei uns zuhause. Sie kümmerten sich ums Haus und die Kinder. Die ältere – „Olga Mama“ – war vor dem Krieg jahrelang das Dienstmädchen meiner Schwiegermutter. Sie war ein paar Jahre älter als Solon und er war die einzige Familie, an die sie sich erinnern konnte. „Olga Mama“ arbeitete nach dem Krieg erst bei Victoria und danach bei uns, nachdem wir Kinder bekamen. Sie sprach auch Spanisch wie der Rest der Familie. Spanisch war die Sprache, die wir mit meinem Mann sprachen. Mit den Kindern sprachen wir auf Griechisch und manchmal auf Spanisch, so dass ihre Ohren sich daran gewöhnen.

Wir gingen nicht sehr oft in die Synagoge. Manchmal ging ich freitags, um eine Kerze anzuzünden und zu beten. Die Hohen Feiertage feierten wir zuhause. Doch weiß ich nicht, ob ich meine Kinder das Judentum beibrachte. Ich glaube an Gott, bin aber keine Fanatikerin hänge nicht an den Regeln fest. Ich weiß nicht, wie meine Kinder sich zu Religion verhalten.

Mein Mann arbeitete Tag und Nacht. Um das Geschäft wiederaufzumachen, musste Solon Kredit von der Bank leihen. Er fragte nach 150.000 Drachmen und erhielt doppelt so viel. Mit dem Geld konnte Solon die Bücher zum ersten Semester bestellen. Ich fing irgendwann auch an im Buchladen zu arbeiten. Ich arbeitete sehr intensiv. Zuerst kümmerte ich mich um aktuelle Probleme – zum Beispiel die Bestellung der angefragten internationalen Zeitschriften für diversen Fakultäten an der Aristoteles-Universität. Wir konkurrierten mit einem anderen Buchhändler und wir ließen die Bücher per Flugzeug liefern, um die ersten zu sein. Auch Einzelhändler kamen ständig in den Laden – auch um Mitternacht, um die Bücher früh morgens in ihrem Laden zu haben. Ich hatte das Gefühl, dass wir nie aufhörten zu arbeiten.

Im Laden hatte wir alle Zeitschriften und wir lasen sie auch. Ich las die griechischen Zeitungen nicht sehr viel, da es mir einfacher war, die englische oder französische Zeitungen zu lesen.
Wie gesagt, wir fingen mit keinem Kapital an. Als die Buchhandlung von den Deutschen zugemacht wurde, gab es noch offene Rechnungen mit Zulieferern im Ausland. Als wir nach dem Krieg wieder aufmachten, um Geschäftsbeziehungen mit unseren Hauptzulieferern wiederanzufangen, mussten wir diese alten Beiträge noch bezahlen, obwohl es ganz klar war, dass wir für die Umstände nicht verantwortlich waren. Doch versprachen wir, alles vor dem Krieg trotzdem zu bezahlen. Und alles bezahlten wir, auch wenn wir dafür nicht schuldig waren.

Die Jahre gingen langsam vorbei und in 1988 erreichten wir das 100. Jubiläum der Buchhandlung, da sie 1888 offiziell gegründet wurde. Also wollten wir feiern. Wir veranstalteten einen sehr schönen Empfang und der französische Staat verlieh Solon die Auszeichnung „Chevalier des Lettres et des Art.“ Es ist gar nicht so einfach, so eine Auszeichnung von der französischen Nation zu bekommen. Viellicht nach 100 Jahren Geschäftsbeziehungen mit französischen Verlagen.

Für die 100. Jubiläumsfeier druckten wir ein kleines Gedenkheftchen mit der Geschichte der Buchhandlung. Dazu war der Empfang. Wir hatten auch ein Gästebuch, in dem Professuren der Aristoteles-Universität, Kunden und Freunde ihre Gedanken und Eindrücke von uns schrieben.

Ich weiß nicht, in welche Richtung mein Leben hätte führen könnten, hätte es kein Krieg gegeben. Vielleicht wäre ich mit einer anderen Person verheiratet – doch ich glaub es hätte keinen so wirklichen Unterschied gemacht, solange ich ihn liebte. Ehen aus Liebe waren sowieso selten.

Die äußere Seite der Stadt sah unverändert aus, doch ohne die Präsenz der Menschen, die wir kannten. In all den Gegenden, wo die Juden früher wohnten, gibt es heute keine Juden. Ihre Häuser werden von Christen bewohnt. Ganze Straßen – wie die Misrahi oder Fleming, wo wir jetzt leben – waren nur von Juden bewohnt. Wir sind jetzt die einzige jüdische Familie in der Straße, während es damals nur eine christliche Familie gab. Nicht nur in dieser Straße, sondern auch in anderen Gegenden wie „151“ oder „Vadaris“ – doch kannte ich mich dort nie sehr gut aus. Wir fühlten uns sehr isoliert und versuchten den Kontakt mit allen noch lebendigen Verwandten zu behalten.

Die Christen waren uns sehr, sehr neutral gegenüber. Wenn wir uns auf der Straße begegneten, sagten sie uns mit ihrem Blick: „ah, sie haben überlebt“ – ein bisschen überrascht, aber eine Reaktion die weder den Anschein von Freundschaft noch Feindschaft zeigte.

Irgendwie wussten Victoria und Solon, dass ihre Eltern nie zurückkommen werden. Sie wusste es nur aufgrund der Aussagen von denjenigen, die zurückkamen – die Überlebende der Konzentrationslager. Ich hatte nie die Gelegenheit, mit solchen Menschen zu sprechen. Darum redeten wir nicht. Auch nicht mit engen Freunden. Niemand wollte das Thema ansprechen. Selbst die Menschen, die zurückkamen, wollten nicht über ihre Erfahrungen reden. Sie wollten sich nicht daran erinnern. Dazu wurden sie auch mit dem Nichtglaube von anderen konfrontiert. Es war erst später, nach fünfzig, sechzig Jahre, dass sie darüber reden konnten.

Da ihre Erfahrungen mit extremen Fällen zu tun hatten, Fälle die wegen ihrer Bösartigkeit über die Grenzen des menschlichen Verstands springen, wollten die Menschen nicht zuhören und sie konnten nicht glauben, dass solche Sachen tatsächlich passierten. Nur als die Überlebende am Ende des Lebens waren und dieses näher rückende Ende spüren konnten, schrieben und erzählten sie über ihre Erfahrungen, so dass die Menschen wissen können.

Mit Solon redeten wir auch nie darüber. Da wir nichts hörten, nahmen sie es stillschweigend hin, dass die Eltern nicht zurückkommen. Weder seine Eltern noch Yvonne, die andere Schwester. Das erfuhren sie nie offiziell. Natürlich gab es keine Todesurkunde.

Mit meinen Kindern diskutierte ich nie solche Themen, da sie nie genug Geduld dafür hatten, sich hinzusetzen und zuzuhören. Wäre ich nicht gefragt worden, hätte ich nie davon erzählt, wie ich aufwuchs, was ich erlebte und wie mein Leben sonst so war.

Normalerweise gehe in den Friedhof in Thessaloniki, wo eine Mehrheit meiner Verwandten begraben sind. Ich fange mit dem Grab meiner Mutter an, die mit meinem Großvater begraben ist. Dann besuche die Gräber von Onkel David, der zuerst starb, dann Onkel Pepo Abravanel und danach Tante Mitsa Abaravanel. Dazu auch die von Onkel Sinto und Tante Bella Saltiel, dem Bruder meines Vaters und seiner Frau. Das nächste Grab ist das von meinem Mann, Solon Molho. Dann geh ich zu Jeannette Bensousan, die Mutter von Rena Molho, meine Schwiegertochter, die mit meinem Sohn Mair verheiratet ist. Danach ist Renée Avram an der Reihe, die zweite Frau von Joseph Avram, ein Freund, der in seiner ersten Ehe mit meiner besten Freundin, Tida Saporta, verheiratet war. Dann zu Mme. Gentille Saporta, die Mutter von Tilda, dessen Grab neben dem meiner Mutter liegt.

Zunächst besuche ich das Grab von Maurice Haim. Er war ein Angestellte im Buchladen und wurde von den „Rebellen“ umgebracht als er im Bürgerkrieg zur Armee eingezogen wurde.
Dann gehe ich zum Denkmal zu den Opfern der Konzentrationslager und sage ein Gebet.

Mein Vater wurde in Athen beerdigt. Lange wusste ich nicht wo, da ich nach seinem Tod schnell gehen musste. Als ich aus Israel wiederkam, lernte ich, dass er im jüdischen Teil des 1. Athener Friedhofs – ein christlicher Friedhof mit einem kleinen jüdischen Teil – begraben wurde. Natürlich besuchte ich ihn dort.

Immer am Todestag meines Vaters und meiner Muter rezitieren wir Kaddisch. Ich weise erst auf sie hin, dann habe ich eine Liste von allen Namen der Männer und Frauen, die meines Erachtens nach erinnert werden sollten. Vor ein paar Jahren ging ich für solche Jahrestage in die Synagoge. Jetzt ruf ich den Rabbi und rezitiere zuhause.

Mein Sohn Yofi übernahm die Buchhandlung und mein Sohn Mair machte einen Schreibwarenladen auf. Meine Tochter arbeitet ab und zu im Buchladen und ab und zu im Schreibwarenladen – nicht Festes.

Yofi heiratete Yolanda Papathanasopoulou, eine Christin die zum Judentum konvertierte. Sie studierte Judentum und als wir in Jugoslawien für die Hochzeit waren, gab ihr der Rabbi eine Menge Prüfungen über Glaubensfragen, konvertierte sie und dann wurden sie verheiratet. Obwohl sie keine gebürtige Jüdin ist, zieht sie die Kinder ganz ordentlich groß. Ihr Sohn hatte eine schöne Bar-Mitzwa und ihre Tochter Renee, die nach mir genannt wurde, hatte ihre Bat-Mitzwa. Sie verfolgen die jüdischen Traditionen, doch wer weiß wie es in der Zukunft wird.

Ich habe sechs Enkelkinder. Ich habe drei Kinder und jeder hat zwei Kinder – ein Junge und ein Mädchen. Mein ältester Sohn Mair heiratet Rena Bensousan und ihre Kinder heißen Solon und Milena. Mein zweiter Sohn heiratet Yolanda Papathanosopoulou und ihre Kinder heißen Sami und Renee. Meine Tochter Nina heiratete Maurice Carasso und ihre Kinder sind Naomi und Dov. Sie ist jetzt geschieden. Sie sind alle Juden, aber keine Fanatiker diesbezüglich.

Ich habe heute viele Wünsche, doch hängen die von den Wünschen anderen, mir zu helfen, ab. Als mein Mann noch lebte, kamen sie an Feiertagen immer zu uns. Wir saßen immer rum, aßen, spielten Karten, sangen, lachten – alles war in bester Ordnung.

Heute sieht es anders aus. Meine Tochter Nina versucht es, uns bei ihr zusammenzubringen. Aber es ist nicht dieselbe Stimmung. So ist es, wenn das Familienoberhaupt fehlt. Dank Nina kommen wir immerhin zusammen.

Ich bin Gott dafür dankbar, mir einen guten Mann, der mich liebte und mir half, gegeben zu haben. Ich habe drei Kinder, deren Gesundheit und Wohlbefinden ich mir im tiefsten Herzen wünsche. Ich bete zu Gott, mich auf nette Weise zu nehmen. Das ist mein Gebet.