Julius Chaimowicz

Julius Chaimowicz
Wien
Österreich
Name des Interviewers: Tanja Eckstein
Datum des Interviews: August 2002

Ich begegnete Julius Chaimowicz bei einem Treffen der Veteranen der Hakoah 1, das bei einem Heurigen in Wien stattfand.

Ich war auf der Suche nach weiteren Interviewpartnern und Julius Chaimowicz war sofort bereit, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen.

Einige Tage später begannen wir in seiner großen und hellen, modern eingerichteten Wohnung im 6. Bezirk mit dem Interview.

  • Meine Familiengeschichte

Mein Großvater väterlicherseits hieß Aron Chaimowicz. Er ist wahrscheinlich Ende der 1870er-Jahre geboren, war religiös und sollte zum Militär eingezogen werden, was er aber nicht wollte. Deshalb ist er in die Slowakei geflohen, denn die Slowakei hat damals zu Österreich-Ungarn gehört.

Er hielt sich dann illegal in dem Dorf Sebes-Visny [heute Slowakei] auf. In diesem Dorf hat er Zlate, meine Großmutter, kennen gelernt. Sie hatten nur eine jüdische Hochzeit, denn mein Großvater konnte sich nicht registrieren lassen, weil er ja vor dem Militär geflohen war. Deshalb konnten sie nicht standesamtlich heiraten.

Mein Vater hieß Salomon Farkas Chaimowicz und wurde am 11. März 1900 in Sebes-Vysni geboren. Als er dreieinhalb Jahre alt war ist sein Vater an einer Blutvergiftung gestorben. Sein Großvater hat ihn in der Früh zum Friedhof geschleppt und mein Vater, der in eine Jeschiwa 2 gegangen ist, hat Kaddisch 3 für seinen Vater sagen müssen. Daran konnte er sich gut erinnern. Der Bruder meines Großvaters hat nach dessen Tod die Großmutter geheiratet, aber der mochte meinen Vater nicht.

Als mein Vater sechs Jahre alt war, zeichnete er schon militärische Schlachten mit Pferden. Mit elf Jahren hatte er eine so schöne Schrift, dass er von seinem Stiefvater nach Czernowitz, das zu Galizien, also zu Österreich-Ungarn gehörte, zu einem Rechtsanwalt geschickt wurde. Dort musste er Geld verdienen. Ich glaube, meine Großmutter ließ sich dann irgendwann von dem Stiefvater scheiden.

Mein Vater wollte im 1. Weltkrieg [1914 - 1918] nicht zum Militär, denn er wollte nicht an der italienischen Grenze verheizt werden. Die jungen Männer sind an der Front gestorben wie die Fliegen. Deshalb nahm er vor der Musterung Gift.

Jemand hatte es ihm gegeben, und der Militärarzt glaubte, mein Vater sei herzkrank. Aber an dem Gift wäre er dann beinahe wirklich gestorben. Mein Vater hatte eine Schwester, die in Wien mit einem jüdischen Schneidermeister aus Polen verheiratet war. Sie hatten eine Tochter, die Ruth hieß. 1934 wurde er bei der Polizei in Wien angezeigt, weil er keine Zulassung für seine Werkstatt hatte. Die Familie ging dann nach Palästina und 1947 nach New York.

Mein Großvater mütterlicherseits hieß Pinchas Spritzer. Er hatte zwei Brüder und vier Schwestern: Max und Joel, Chana, Chaja, Golda und Lotte. Sie lebten in Jaworow, einer kleinen Stadt im damaligen Galizien, die heute in der Ukraine liegt.

Ungefähr im Jahre 1907 kam der Großvater gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Joel nach Wien. Sie gründeten ein Familienunternehmen als Existenzgrundlage für die Familie und verkauften Möbel und Wäsche für junge Paare. Meine Großeltern waren nicht reich und nicht arm.

Sie konnten gut davon leben. Ungefähr zwanzig Verwandte folgten ihnen aus Galizien nach Wien. Eine Tante ist, glaube ich, war sogar Vertreterin. Der Großvater hatte Glück, dass er im 1. Weltkrieg nicht eingezogen wurde, denn er musste ja die große Familie ernähren. Meine Großmutter Chane, geborene Rettich, wurde 1883 in Jaworow geboren. Ihr Vater hatte in Jaworow ein Geschäft besessen mit Waren aller Art.

Mein Großvater Pinchas war ein Meter achtzig groß, sehr stark und ein stolzer Mann. Er war ein sehr großzügiger Mensch, praktizierender Jude und Zionist und spendete viel im Tempel. Jeden Freitagabend, zu Beginn des Schabbat, ging er von der Wohnung im 20. Bezirk, in der Karl-Meißl-Straße zum Nordbahnhof und wartete dort auf arme polnische Juden, die am Bahnhof ankamen und nicht wussten, wohin sie gehen konnten.

Er lud diese armen Juden zu sich nach Hause, gab ihnen zu essen, denn das ist jüdische Tradition. Er war auch bei seinen Kunden sehr beliebt. Wenn er gekommen ist und die Raten abgeholt hat, wurde er sehr gut aufgenommen. Vielleicht gab er ihnen gute Konditionen.

Der Großmutter gab er das Geld für die Wirtschaft, und sie hielt das Geld zusammen. Sie hatte immer Geld und er musste sich manches Mal welches von ihr ausborgen. Ich glaube, sie führten keine besonders gute Ehe.

Meine Mutter Miriam war am 6. Dezember 1906 in Jaworow geboren. Als meine Mutter sechs oder sieben Jahre alt war, wurde sie aus ihrer Schulklasse ausgewählt und durfte vor dem Kaiser Franz Joseph ein Gedicht aufsagen, denn sie hatte eine wunderschöne Aussprache.

Sie wäre sicher eine wundervolle Schauspielerin geworden. Viele Operetten konnte sie auswendig singen, sie hat sie uns alle vorgesungen. Sie brauchte die Operetten nur einmal zu hören, schon konnte sie sie singen. Mein Großvater aber war ein sehr konservativer Mann und erlaubte ihr nicht, diesen Beruf zu erlernen.

Chana, die jüngste Schwester meines Großvaters, die so alt wie meine Mutter war, wurde von ihm mittellos aus dem Haus gewiesen, nur weil sie Schauspielerin werden wollte. Sie wurde aber dann in New York doch Schauspielerin. Mein Bruder besuchte sie dort einmal. Das Geld fürs Alter hatte sie sich klugerweise zusammen gespart.

Meine Mutter hatte drei Brüder: Julius, sein jüdischer Name war Jehuda, starb im Alter von 18 Jahren in Wien an einer Lungenentzündung. Er hatte Uhrmacher gelernt und war ein Schachfanatiker; er konnte simultan gegen 40 Leute spielen. Willhelm wurde am 7. August 1915 in Wien geboren.

Zum Teil zog ihn meine Mutter auf, denn sie war neun Jahre älter als er. Auch er war ein leidenschaftlicher Schachspieler. Er spielte oft in Kaffeehäusern. Er ist 1934, vielleicht mit den Großeltern zusammen, das weiß ich aber nicht genau, nach Palästina gegangen. Leider kam er nach Wien zurück.

Er wohnte bei meinen Eltern, aber da er die Frauen liebte, nahm er immer Mädchen mit nach Hause. Meinem Vater gefiel das nicht und Onkel Wilhelm musste ausziehen. Onkel Wilhelm ging zum österreichischen Bundesheer, aber als Hitler einmarschierte, wurden die Juden entlassen.

Daraufhin ist er über Belgien nach Frankreich geflohen. In Frankreich wurde er im Lager Gurs 4 interniert, von dort nach Drancy 5 deportiert und am 12.August 1942 an die Deutschen ausgeliefert und im KZ Auschwitz ermordet. Das ist die Geschichte von Onkel Wilhelm.

Onkel Leopold, sein jüdischer Name war Arie, ging schon als junger Mann nach Palästina. Zuerst war er bei der englischen Polizei. Danach arbeitete er im Zementwerk in Nesher, in der Nähe von Haifa. Dort wohnte er in einer Holzhütte, später baute er sich ein Haus. Ein Teil seiner Familie wohnte mit ihm zusammen. Auch meine Großmutter, bevor sie starb.

1934 übergaben die Großeltern das Geschäft Joel, dem Bruder meines Großvaters und reisten als Zionisten mit Goldstücken, die sie für ihr Geld eingetauscht hatten, nach Palästina. 1938 schrieb mein Großvater aus Haifa seinem Bruder Joel in einem Brief: Kauf in Palästina ein Haus, die Häuser hier sind sehr billig. Joel war ein stolzer Österreicher.

Er hatte sogar eine Tapferkeitsmedaille aus dem 1. Weltkrieg. Es war Chanukka 6 und die ganze Familie war versammelt, da las mein Großonkel den Brief meines Großvaters der Familie in Wien vor und sagte: 'Stellt euch vor, er glaubt, dass wir reiche Leute sind.

Dass wir so viel Geld haben und ich ein Haus kaufen kann!' Ein paar Wochen später ist Hitler einmarschiert. Joel hatte immer bei seinem Friseur Witze über den Hitler erzählt. 1938 sagte der Friseur, obwohl er schon vorher ein geheimer SA- Mann war: 'Joel, du bist auf der Liste, sie wollen dich verhaften, verschwinde sofort!' Dieser Friseur rettete sein Leben. Joel flüchtete illegal über die Grenze in die Schweiz, dann über Frankreich und Portugal und mit dem letzten Schiff nach Montevideo. Sein Geld aber steckte in den Waren und bei Leuten, die noch nicht bezahlt hatten.

Mein Vater war ein guter Tänzer und sehr umschwärmt von vielen Frauen. Einmal sagte ein Mädchen zu meiner Mutter: 'Der wird dich nie heiraten!' Meine Mutter war dann sehr stolz, als mein Vater sie 1931 doch heiratete.

  • Meine Kindheit

Am 4. Juni 1932 sind mein Bruder Alfred, sein jüdischer Name ist Aron und ich in Wien zur Welt gekommen. Wir sind zweieiige Zwillinge. Mein Bruder war ein sehr begabtes Kind. Er war erst fünf Jahre alt und konnte schon lesen.

Einmal, wir gingen in einen jüdischen Kindergarten im 20. Bezirk und hätten am Nachmittag im Kindergarten schlafen sollen, las er den anderen Kindern, die um ihn herumstanden, aus einem Buch vor. Ich war sicher sehr eifersüchtig auf ihn.

Wir hatten eine Zimmer-Küche-Wohnung in der Kluckygasse. Meine Mutter war nicht begabt für die Küche, aber wir hatten ein Hausmädchen, die für uns kochte. Das Hausmädchen wohnte bei uns. Aber sie hatte kein Zimmer, nur ein Bett in der Küche. Meine Mutter ging mit uns oft hinaus. Neben der Friedensbrücke waren Sandkisten, und dort konnten wir mit den anderen Kindern spielen. Zum Essen gab sie uns Schinkensemmeln. Aber am Jom Kippur 7 hat meine Mutter immer gefastet.

Mein Vater arbeitete als Vertreter für eine Firma. Dadurch hatten wir sogar ein Auto. An manchen Wochenenden machten wir auch Ausflüge mit dem Auto. Wir waren oft mit einem Cousin, der dann nach Palästina ging und in Haifa lebt, an den Wochenenden auf dem Kahlenberg, aber wir waren auch im Burgenland.

Ich kann mich nur nicht mehr gut daran erinnern. Der Cousin in Haifa hat in Israel den Namen Yehuda Reschef angenommen und ist ein bekannter Staatsanwalt geworden, der auch im Eichmann Prozess mitgearbeitet hat. Mein Vater war leider durch seine schwere Kindheit sehr verbittert und ein Tyrann.

Er war auch teilweise ängstlich, und uns behandelte er nicht wie Kinder, sondern wie kleine Erwachsene. Er war Sozialist, hatte aber durch seinen Beruf als Vertreter wenig mit Arbeitern zu tun. Von 1934 bis 1938 8 verteilte er gegen den österreichischen Faschismus Flugblätter, denn er war in der illegalen sozialdemokratischen Sektion.

1938 9 waren Plünderungen jüdischer Geschäfte an der Tagesordnung. Unsere Wohnung war im dritten Stock. Wir hatten Gitter vor den Fenstern, mein Vater oder mein Großvater hatten die Gitter angebracht, damit wir aus den Fenstern schauen und dabei nicht hinaus fallen konnten. Wir sahen, wie der jüdische Greissler ausgeplündert wurde. Die Waren wurden einfach zum Fenster hinaus geschmissen.

Meine Eltern hatten, weil mein Vater in der Slowakei geboren war, 1938 ein tschechisches Emblem auf ihre Mäntel genäht, damit sie geschützt sind. Mein Vater ging zur tschechischen Botschaft und beantragte Pässe, weil er nie die österreichische Staatsbürgerschaft beantragt hatte. Er hatte sich einfach nicht darum gekümmert, das war unser Glück.

Mein Vater war ein sehr sozialer Mensch und hatte während seiner Zeit als Vertreter, immer zu Weihnachten einer armen Familie Strümpfe geschenkt, weil zu Weihnachten bereits die neue Kollektion da war. Auf dem Weg zu dieser Familie kamen ihm zwei junge Burschen entgegen, und der eine zeigte auf meinen Vater und sagte: 'Das ist ein Jude!' Sie schlugen ihn und traten im in den Bauch.

Als er nach Hause kam, sagte meine Mutter: 'Du musst hier weg!' Und mein Vater sagte: 'Ich gehe nicht ohne euch!' So wurde beschlossen, dass wir alle gehen. Aber wie und wohin? Wir warteten auf die Pässe, das dauerte ein, zwei Monate. In der Zwischenzeit lösten meine Eltern die Wohnung auf, und dann fuhren wir wie Touristen nach Paris. Jeder durfte zwanzig Mark mitnehmen.

  • Während des Krieges

Zuerst lebten wir von Spenden der jüdischer Organisationen, dann bügelte meine Mutter Wäsche von Flüchtlingen, die in den Hotels ihre Sachen waschen ließen. Mein Vater fand keine Arbeit, denn wir waren ja offiziell Touristen. 1939, als der Krieg begann, mussten alle Ausländer wegen Spionagegefahr aus Paris verschwinden.

Da wählten meine Eltern den Ort Clermont Ferrand. Mein Bruder und ich kamen nach Montmorency bei Paris. Dort hatte eine jüdische Organisation für Kinder, welche bedürftig waren, ein Haus eingerichtet. Eine reiche Französin und ihr Mann spendeten viel Geld dafür.

Bei Kriegsausbruch fuhren wir in die Schweiz, wo wir bleiben sollten, aber meine Mutter wollte uns bei sich haben, und eine Frau brachte uns zurück nach Paris. Als wir in Paris ankamen, war niemand da. Wir fuhren weiter nach Clermont Ferrand, da stand mein Vater. Es war vier Uhr in der Früh. Eine Überraschung hat uns erwartet.

Meine Eltern hatten eine kleine Wohnung mit einem schreienden Baby. Am 24. Mai 1939 war unsere Schwester Suzanne in Paris geboren worden. Sie war drei Monate alt, als wir aus der Schweiz zurückkamen. Wir hatten nicht einmal gewusst, dass es sie gibt. Mein Bruder und ich haben dann viel auf der Strasse gelebt.

Tausende Flüchtlinge waren in dieser kleinen Stadt. Als die Deutschen in Paris einmarschierten, waren viele Menschen geflohen, es waren auch sehr viele jüdische Kinder dabei. Die Einwohnerzahl der Stadt hatte sich verdoppelt. Ob und wie diese Menschen überlebt haben, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass ich sehr viele Kinder gekannt habe, die nach dem Krieg nicht mehr da waren.

Ich kann mich erinnern, dass wir immer zur Chanukka Feier eingeladen waren. In einem großen Saal haben wir mit vielen Kindern zusammen gefeiert. 1944, nach der Befreiung, waren nur noch wenige Kinder da. Also, wir hatten wirklich sehr viel Glück.

Wir gingen in Clermont Ferrand in die Schule. Im Sommer 1942, das war noch unter der Vichy-Regierung 10, wurde Kindern durch eine französische Organisation der Aufenthalt bei Familien auf dem Land ermöglicht. Organisiert hat das die Schule. Mein Bruder und ich wurden von einem katholischen Bauernpaar aufgenommen.

Der Mann war Militarist und Anhänger von Petain 11. Wir haben auf die Ziegen und auf die Kühe aufgepasst, aber wir haben auch mit den Ziegen gespielt, denn wir waren war noch keine zehn Jahre alt. Das war immer eine lustige Sache, und es gab ein hervorragendes Essen.

Ich kann mich noch an die herrlichen Omelettes erinnern, die wir dort gegessen haben. Nachdem meine Mutter uns mit unserer dreijährigen Schwester Suzanne besuchen kam, ahnten sie sicher, dass wir jüdische Kinder sind. Aber sie waren ehrliche und anständige Menschen; man kann nicht alle in einen Topf werfen!

Als meine Mutter nach Clermont Ferrand zurückkam, wurde sie sofort verhaftet. Sie war gleich im ersten Transport von Clermont Ferrand in ein Internierungslager. Meine Mutter war wieder schwanger und die französische Gendarmerie sagte zu ihr: 'Was, Sie sind schwanger? Das können Sie in Polen erzählen!' Im Lager waren hunderte Menschen, die an die Deutschen ausgeliefert werden sollten.

Mein Vater war zu dieser Zeit Chauffeur bei einer Weinfirma, wo er auch schlief. Ich glaube, er hatte sogar zwei Arbeitsstellen. Als meine Mutter verhaftet wurde, ging er sofort zur Préfecture. Dort arbeiteten auch Widerstandskämpfer und die besorgten ihm falsche Papiere für meine Mutter und meine Schwester. Die tschechischen Papiere nutzten nichts mehr, denn die Tschechoslowakei stand unter dem Protektorat der Deutschen.

Die französische Regierung deportierte zuerst die ausländischen Juden. Mein Vater schickte die falschen Papiere für meine Mutter und meine Schwester in das Camp, in dem die französische Gendarmerie für die Deutschen arbeitete. Meine Mutter war in einen Hungerstreik getreten, woraufhin man sie mit einer anderen Frau entließ.

Aber sie wollten sie wie die Ratten wieder einfangen. Meine Mutter hatte aber in ihrem Mantel fünfhundert Francs versteckt. Sie befand sich dann zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Frankreich, und da waren jüdische Burschen, die Leute illegal über die Grenze ins unbesetzte Frankreich brachten. Zuerst konnten sie sich bei einer polnischen Jüdin waschen, und von dort kam meine Mutter zurück nach Clermont Ferrand.

Meine Mutter sollte immer wieder von der Gestapo verhaftet werden. Sie lebte in einem verschachtelten Haus, das waren zwei Häuser in einem. In den zwei Häusern waren zwei Konditoreien. Die Gestapo fragte meistens in einer Konditorei nach ihr.

Entweder wurde meine Mutter von dieser Konditorei versteckt, oder meine Mutter öffnete die Tür nicht, oder sie verschwand mit den Kindern schnell beim anderen Ausgang. Wenn die Gestapo sagte: 'Das ist doch diese Frau...' sagten die Leute: 'Nein, nein das ist eine Frau aus der Provinz!'

Als wir von den Bauern zurückkamen, sagte meine Mutter: 'Ihr müsst hier weg.' Sie sagte zu meinem Vater, er muss einen Platz suchen, wo man uns verstecken kann. Ich habe angefangen zu weinen, wir haben ja nichts von der Gefahr gewusst. Meine Mutter rettete uns das Leben, sie war sehr stark.

Wir wohnten ganz nahe dem Bischofssitz - fünfzig oder hundert Meter entfernt - und meine Mutter hatte durch Zufall erfahren, dass der Bischof jüdischen Kindern half. In unserer Provinz waren über vierhundert jüdische Kinder durch eine christliche Organisation versteckt.

Wir wurden zum Bischofssitz gebracht und dort waren französische Klosterschwestern. Mein Vater sagte: 'Du musst ihnen die Hand küssen!' Er wollte den Schwestern Wiener Manieren vorführen, aber ich wollte das nicht.

Wir kamen in eine kleine Ortschaft, fünfzehn oder zwanzig Kilometer von Clermont Ferrand entfernt. Die anderen Kinder in diesem Internat durften nicht wissen, dass wir jüdische Kinder sind. In einer Art Internat für Bauernkinder lebten wir ein Jahr zusammen mit anderen jüdischen Kindern.

Da war ein jüdischer Junge russischer Abstammung, der sagte zu mir: 'Weißt du was? Ich werde mich taufen lassen, dann versteckt man mich!' Ich fand, wie kann man nur so unanständig sein und sich taufen lassen wollen! Sein Onkel, der ihn besuchte, muss ein bekannter Maler gewesen sein.

Im zweiten Jahr wurden wir nach Ambert in eine andere Klosterschule, die 250 Kilometer entfernt war, gebracht. Später wurde diese Gegend Partisanengebiet, und wir wurden von den Deutschen angegriffen. Der Abt hatte einen Schützengraben im Obstgarten gegraben.

Gleich in der Früh ist eine Bombe gefallen. 'Alle zum Schützengraben!' hieß es dann. Wir waren ja Kinder ohne Eltern, Kinder, die übrig geblieben waren. Wir liefen sofort in den Schützengraben. Ich war versteckt unter einer Rinne. Das Flugzeug flog gleich ein paar Mal auf uns zu und schoss mit Maschinengewehren. Neugierig war ich schon, aber ich hatte auch Angst. Ich habe sogar den Kopf von dem Flieger gesehen, so tief war der. Im Nachhinein ist das schrecklich, aber ich war ein Kind. 

Danach hatten sie Angst vor einer Razzia. Deshalb wurden wir dann in ein anderes Gebiet, wieder in die Nähe von Clermont Ferrand, gebracht. Da waren die Deutschen, aber wir waren im Kloster gut versteckt. Ich glaube, mein Bruder und ich waren die einzigen jüdischen Kinder dort. Kontakt zu unseren Eltern durften wir nicht haben.

  • Nach dem Krieg

Am 14. Juli, dem Nationalfeiertag in Frankreich, wollten wir 'Sack hüpfen' und verschiedene andere Spiele machen. Auf einmal hörten wir: 'WIR SIND FREI!' Wir ließen alles stehen und liegen und liefen in die Stadt hinein. Da kamen Partisanen und in einem Mercedes saß ein Mann mit zwei gezogenen Revolvern.

Auf einmal sah ich meine Mutter, die sich sofort auf die Suche nach uns gemacht hatte, mit einem Kinderwagen. Sie sagte: 'Das ist eure Schwester!' Ich schaute meine Mutter sehr erstaunt an! Die kleine Colette war ganz verschmiert. Sie war ein Jahr alt, Suzanne war drei Jahre alt. Colette wurde am 1. April 1943 in Clermont Ferrand geboren.

Natürlich hatten wir auch von ihrer Existenz nichts gewusst. Nachdem die Nazis geflohen waren, wurden wir sofort von Ärzten untersucht. Da gab es Leute, die mit dem Finger auf uns zeigten und eine sagte: 'Das sind aber schöne Kinder!' Vorher hatte man mit Fingern auf uns gezeigt, weil wir Juden sind.

Später gab mir meine Mutter den Kinderwagen mit meinen Schwestern immer zum Spielen mit. Ich nahm sie aber gern mit, denn sie waren wirklich ausgesprochen hübsche Kinder.

Mein Vater war zu dieser Zeit noch im KZ. Er war als Ausländer zur Zwangsarbeit verpflichtet worden und gezwungen, nach Brest zu gehen. Brest war ein Kriegshafen für die Deutschen in der Bretagne. Als sie bemerkten, dass mein Vater nicht nur Tscheche, sondern auch Jude ist, haben sie ihn einige Tage in eine Todeszelle gesteckt und dann nach Drancy gebracht.

Dort hat er schreckliche Dinge erlebt. Mein Vater sagte oft: 'Die Kinder, die armen Kinder!' Ich glaube, er wurde gezwungen, jüdische Kinder aus aufgelösten Kinderheimen, die waren noch ganz klein, in Waggons mit ungelöschtem Kalk zu bringen. In Drancy sagte ihm jemand, dass auf seinem Geburtenschein sein Vater nicht aufscheint, und er sagen soll, sein Vater sei Christ.

Das hat er dann auch gesagt, und da wurde er nicht nach Auschwitz deportiert. Danach war er in einem Lager, das war von der Organisation Todt 12 in Nord-Frankreich neben Dünkirchen. Die meisten dort waren Franzosen. Da gab es durch den Hunger sehr viele Tote. Während der Frankreich-Invasion mussten sie Beton für einen Bunker gießen.

Da ist einer von den Häftlingen herunter gerutscht und die anderen Häftlinge wollten ihm heraushelfen, aber der Aufseher hat gesagt:'Weiter! Zubetonieren!' Ein Oberst der französischen Armee ist verrückt geworden, der hat seine eigenen Läuse gegessen. Mein Vater wurde sehr krank, und ein SS-Arzt hat ihn zum Schluss gepflegt.

Dadurch ist er am Leben geblieben. Warum dieser SS-Arzt ihn gepflegt hat, wusste er nicht, aber vielleicht, weil der Krieg fast zu Ende war. Mein Vater war nach Ende des Krieges ein paar Wochen in Paris in einem Camp, wo er sich ein bisschen erholen konnte. Als er dann zu uns kam, gingen mein Bruder und ich schon wieder in die Schule. Mein Vater war sehr autoritär, und es war immer ein Abstand zwischen uns. Das blieb auch nach dem Krieg so.

Mein Bruder und ich wären gern in Frankreich geblieben. Mein Vater wollte auch nicht nach Wien zurück, und es kamen Briefe von meinem Großvater, wir sollen doch nach Palästina kommen. Meine Mutter sagte:'Entweder wir fahren alle nach Palästina oder nach Paris!' Meine Eltern wollten eine Wäscherei in Paris aufmachen, aber dann hat sich mein Vater doch für Palästina entschieden.

In Marseille wurden wir eingeschifft. Wir besaßen gar nichts mehr, nicht einmal Schuhe. Wir waren barfuss, es war heiß, denn es war ja Sommer. Bevor wir dann aufs Schiff gingen, haben wir noch Schuhe bekommen. Das Schiff hieß 'Liberty', die Amerikaner hatten es zum Transport von Soldaten gebaut.

Die Hälfte der Mannschaft waren italienische Soldaten, die nach Neapel gefahren sind. In Neapel stiegen Überlebende des Holocaust dazu. Viele waren dem Wahnsinn nahe, Männer, Frauen und Kinder. Unten waren Hängematten, da hätten wir schlafen sollen, aber es war viel zu heiß da unten. Da haben wir die Hängematten genommen und oben am Zwischendeck geschlafen.

Als wir in Haifa ankamen, wurden wir sofort für einen Monat in das Lager Atlith in Quarantäne gebracht. Wir wurden von arabischen Polizisten bewacht; es war das erste Mal für mich, dass ich von Stacheldraht eingeschlossen war. Wir fühlten uns aber gut im Camp. Wir wurden in verschiedene Gruppen aufgeteilt.

Es gab auch eine französische Gruppe von Kindern, die überlebt hatten. Wir Kinder haben im Lager Raubzüge organisiert, zum Beispiel Melonen gestohlen und aufgeteilt - das waren schöne Geschichten.

Unsere Großeltern wohnten in Haifa. Mein Großvater starb 1953, die Großmutter 1962 in Israel. Die Eltern bekamen ein Zimmer in einer Wohnung in Nahariya, die mussten sich drei Familien teilen. Nahariya war damals eine Stadt, in der fast nur Deutsch gesprochen wurde, weil so viele deutschsprachige Leute dort lebten.

Dann kam die Großmutter zu Besuch. Sie sagte, es gäbe verschiedene Organisationen, die Kinder nähmen. Es gibt eine Organisation, die 'Misrachi', die ist nicht so streng religiös und da wären wir gut aufgehoben.

Dieses Heim in Petach Tikva für Kinder, die keine Eltern mehr hatten, war eine Art Internat. Wir waren gort mit Kindern zusammen, die das Warschauer Ghetto überlebt hatten. Sie erzählten, wie sie durch die Kanalisation geflüchtet waren und von Rumänien dann mit einem Schiff nach Palästina gebracht wurden.

Was diese Kinder mitgemacht hatten, war schrecklich. Drei Monate - Juli, August, September - waren wir dort. Dann bekamen wir Religionsunterricht. Wir haben gelacht, aber wir hätten still sein und beten sollen. Da war ich mit Absicht laut, und der Betreuer hat mich und meinen Bruder nachher gerufen und hat mit uns geredet. Es gibt keinen Gott, habe ich gesagt. Wir haben dann die ganze Nacht geredet und diskutiert.

Nachdem wir in dem Heim waren, kamen wir in den Kibbutz 13 Gan Shmuel. Das war ein Kibbutz vom Hashomer Hatzair 14, der 1921 gegründet worden war. Nach uns kam eine ganze Gruppe polnischer Kinder. Wir waren damals erst dreizehn Jahre alt, die polnischen Kinder waren etwas älter.

Einige hatten als Partisanen gekämpft, und einige kamen aus Ghettos oder KZs. Ein Junge, der in einem Ghetto war erzählte mir, dass sein Vater, der Tischler war, eine Bank gebaut hatte, wo er ihn versteckt hatte. Als das Ghetto aufgelöst wurde, weil die Leute in die KZs deportiert wurden, hat der Vater gesagt: 'Du bleibst da!' Das gesamte Lager und der Vater wurden deportiert, und er konnte flüchten. So hat er überlebt.

Es gab so viel Schreckliches, so viel Leid! Die Kinder redeten damals viel darüber. Einer erzählte, dass sein Bruder im KZ die Leichen der Vergasten verbrennen musste. Mein Bruder und ich hatten zum Glück keine Toten und nie Massenvernichtungen gesehen.

Unsere Eltern waren arm und hatten nicht einmal das Geld, um uns im Kibbutz zu besuchen. Nur einmal kam mein Vater mit dem Cousin, dem späteren Staatsanwalt und dessen Frau zu Besuch. Hebräisch mussten wir erst lernen. Mein Bruder saugte alles auf wie ein Schwamm. Er verstand sofort, ich war langsamer.

Für meinen Vater war das Leben in Israel schwer. Er hatte keinen handwerklichen Beruf und arbeitete einmal dies, einmal das. Einige Zeit war er Chauffeur, aber dann fand er keine Arbeit mehr. Darum wollten wir zurück nach Frankreich, aber wir hatten kein Geld für die Reise.

Durch eine Organisation der UNO konnten wir 1947 nach Wien. Theodor Körner, der damalige Bürgermeister von Wien, begrüßte uns. Zuerst lebten wir in einem Saal, in dem vierzig Leute waren. Wir bekamen dann als Großfamilie nach einem Jahr eine 'Abteilung'. Das war ein vom Saal abgeteiltes Zimmer.

In diesem Zimmer lebten meine Eltern mit unseren Schwestern, aber wir blieben im Saal. Mein Bruder und ich wollten Wien nur als Zwischenstation. Wir wollten zurück nach Frankreich. Aber die Eltern beschlossen, dass wir in Wien bleiben.

Wir waren ja damals erst fünfzehn Jahre alt, so mussten auch wir in Wien bleiben. Ich besuchte die französische Schule, war aber nicht sehr erfolgreich. 1948 begann ich mit der Lehre als Mechaniker, die ich beendet habe. Mehr als zwei Jahre mussten wir auf eine Wohnung warten.

Mein Bruder beendete die französische Schule, dann ging er nach Frankreich zurück. Er wollte Flugzeugingenieur werden, aber er kam zurück nach Wien, weil er es alleine nicht schaffte. Mit dem Vater vertrug er sich aber nicht, so pendelte er immer zwischen Wien und Paris. In Wien gab er dann Französisch - und Mathematik Nachhilfestunden, und so hat er sich sein Physikstudium finanziert.

Ich war regelrecht entwurzelt! Die ganze Situation war schrecklich! Meine Gefühle waren in Frankreich, obwohl ich kein Franzose war. Aber ich war dort aufgewachsen, hatte meine Jugend dort verbracht, meine Freunde waren Franzosen. Ich habe mich hier nie richtig mit den Leuten befreundet.

Es war alles sehr schwer, besonders mit meiner Vergangenheit. Mit jungen Leuten ging es einigermaßen, aber ich konnte mit niemandem darüber reden, weil die Leute mich nicht verstanden. Ich ging schwimmen zur Hakoah, aber die Leute von der Hakoah hatten ihre eigenen Probleme. Das war alles sehr schwierig für mich.

Das Porrhaus in der Nähe des Naschmarkts gehörte der sowjetischen Besatzungsmacht, die 'Österreichisch - Sowjetische Gesellschaft' befand sich da drinnen. Da gab es einen Lesesaal und Theater wurde auch gespielt. Die meisten dort waren Kinder von Widerstandskämpfern oder Leute, die mit den Kommunisten sympathisiert hatten und dann auch ihre Kinder dorthin geschickt haben.

Ich wusste, das sind Antifaschisten, mit denen man wenigstens sprechen kann. Trotzdem konnte ich über meine Probleme nicht so wirklich sprechen. Rudi Wein, ein Überlebenden aus Avignon, der das KZ Mauthausen überlebt hatte, war etwas älter als ich und hat mich dort kontaktiert. Er warb mich für die Österreichische Freie Jugend 15.

Zuerst wollte ich nicht, ich war ja nur dort, um Gesellschaft zu haben. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht vorhabe, in Wien zu bleiben. Das war in den 1950er-Jahren. Mein Vater wurde in dieser Zeit, während des Slansky- Prozesses 16 ein totaler Antikommunist.

Ich habe meinem Vater gesagt, das sei nur eine Fehlentwicklung, der Kommunismus sei in Wirklichkeit in Ordnung und die richtige Ideologie. Das habe ich damals geglaubt, und das glaube ich auch heute noch. Aber heute ist die Frage, was ist Theorie und was ist Praxis.

Ich konnte schon ganz gut deutsch sprechen, und durch die Bücher, die ich las, lernte ich richtig Deutsch, denn ich bin ja nie in eine deutsche Schule gegangen. In den Werkstätten und Fabriken hatte ich auch kein richtiges Deutsch gelernt - die Grammatik fehlt mir bis heute. Mein Bruder sagte mir oft, dass ich nicht richtig spreche und einen Deutschkurs machen soll. Ich war aber immer mehr der komische Einzelgänger, aber so ist das.

1956 bin ich nach Frankreich gegangen, da studierte mein Bruder noch in Wien. 1959 kam ich wieder nach Wien zurück, da war er gerade mit dem Studium fertig geworden und ging nach Israel. Er war dort ein Jahr lang beim Militär, und dann kam er wieder nach Wien zurück, um seine Freundin zu heiraten. 1964 war er mit seinem Doktorat fertig, und 1965 ging er wieder nach Israel zurück. In den 1980iger-Jahren übersiedelte er nach Amerika, und dort lebt er auch jetzt noch.

Ich wollte in Frankreich bleiben, aber im Algerienkrieg 17 wollte ich kein Kanonenfutter werden. Ich hatte damals ein kleines Zimmer nicht weit von dem Flugzeugwerk, in dem ich arbeitete. Als General de Gaulle 18 an die Macht kam, gab es Unruhen, und ich dachte, es wird eine Faschisierung in Frankreich geben. Ich hatte nicht gewusst, dass de Gaulle Frieden machen wird und hatte Angst vor einem Bürgerkrieg. Ich ging wieder nach Wien zurück.

In Wien wohnte ich bei einem Freund, der hat mir ein Zimmer vermietet. Dann lernte ich meine erste Frau Ernestine kennen. Sie wurde 1934 in Wien geboren und arbeitete in einem Büro. Wir haben eine Tochter Renee, die 1962 geboren wurde, Medizin studiert hat und als Ärztin arbeitet. 1965 wurde die Ehe geschieden.

Meine zweite Frau, Helene, wurde 1947 in Bratislava geboren. Sie hat eine Computerausbildung und arbeitet in einer Bank. Ich habe sie 1965 kennen gelernt, ich habe geglaubt, das ist die große Liebe. Mit meiner zweiten Frau habe ich einen Sohn und eine Tochter. Piere wurde 1966 geboren, ist Magister für Wirtschaft und arbeitet in Wien. Meine Tochter Daliah wurde 1968 geboren.

Meine Geschwister lebten alle in Israel und meine Freunde waren in Israel. Mein Bruder sagte zu mir: 'Komm nach Israel, was machst du in Wien? Du bist dort allein, nur die Eltern sind in Wien. Das ist nicht gut für dich.' Auch meine Eltern haben gesagt: 'Es ist besser, wenn du nach Israel gehst, was willst du in Wien?' Ich bin dann zusammen mit meiner Frau und unseren zwei Kindern im Frühjahr 1968 nach Israel übersiedelt.

Mein Bruder lebte in Jerusalem, aber ich bekam sofort von der Einwanderungsbehörde eine Wohnung in Tel Aviv. Arbeit hatte ich auch sofort. Das war sogar eine sehr gute Arbeit in einem Flugzeugwerk, und ich verdiente nicht schlecht. Es war alles sehr schön, aber ich sah gleich, dass dieser Kriegszustand, der da herrschte, nicht aufhört.

Ich habe sehr gehofft, weil ich gedacht habe, die werden vielleicht verhandeln. Aber bis heute, wie man sieht, ist kein Frieden. Meine Frau hat sich in Israel sehr gut gefühlt. Sie hatte dort in der Siedlung, in der wir wohnten, gleich Kontakt mit den Leuten, obwohl sie keine Jüdin ist. Ende 1969 gingen wir wieder zurück nach Wien. 1974 starb mein Vater in Wien.

Meine Mutter lebte dann mit mir zusammen. 1975 ließ ich mich scheiden. Meine dritte Frau Sophie arbeitete als Interviewerin in einem Meinungsforschungsinstitut. Wir haben keine Kinder. Auch diese Ehe wurde geschieden.

Nachdem ich aus Israel zurückgekommen war, arbeitete ich bei Semperit. Meine Mannschaft war für die Instrumente verantwortlich. 1977 gab es eine Welle von Antisemitismus, geschürt durch die Kronen Zeitung. Ein Mitarbeiter meiner Mannschaft hatte eines Tages in der Früh, als ich zur Arbeit kam, ein Bild von Hitler auf seinem Schreibtisch und einer sagte, es sei alles wahr, was der Hitler gesagt hatte.

Daraufhin habe ich gesagt: 'Ihr seid Schweine!' Zuerst wurde ich in die Automechanikerabteilung versetzt, da gab man mir eine schlechte Arbeit. Dann wurde ich in ein anderes Werk versetzt.

Meine Mutter hat mich sehr geliebt, aber ich musste meine Wäsche selber waschen, und sie hat nie richtig kochen können. Ich habe für uns gekocht und mich um alles gekümmert. Als sie alt war, wollte sie am liebsten nur vor dem Fernseher sitzen und billige Romane lesen; sie lebte dann eigentlich in ihrer eigenen Welt.

Sie war eine sehr selbstbewusste Person, aber gute Gespräche über Philosophie und Politik konnte ich mir ihr nicht führen. Von 1993 bis 1998 lebte sie im jüdischen Altersheim, im Maimonides- Zentrum, wo sie starb. Sie wurde 92 Jahre alt.

Mein Vater war Zeit seines Lebens sehr zwiespältig; einerseits war er Sozialist, andererseits war er jüdisch erzogen worden. Er hat uns nicht religiös erzogen, und auch wir sind gespalten. 1942 waren wir im Kloster, da haben wir die katholische Religion aufgenommen. Also kannte ich den Katechismus besser als die jüdische Religion. Mir haben die zehn Gebote gefallen, die jüdische Religion habe ich durch die katholische Religion gelernt.

Mein Bruder hat vier Kinder, Gad, Pinchas, Batsheva und Yasmin leben in Israel. Meine Schwester Suzanne arbeitete und lebte zuerst in Wien, dann in Amerika und jetzt in Israel. Auch meine jüngste Schwester Colette lebt in Israel. Sie ist Malerin. Ich lebe hier in Österreich, und mit den Bedingungen muss ich mich nun mal abfinden und auseinander setzten oder eben auch nicht auseinander setzten.

Ich denke mir heute, es gibt so viel Konflikte, so viele Widersprüche in unserem Leben. Persönlich und im Allgemeinen bin ich aber besser dran, als die früheren Generationen; ich möchte das nicht abwerten. Ich denke jetzt, wenn ich hier nicht leben kann, dann kann ich nirgends leben. Es ist nicht eine Frage des Landes, sondern eine Frage der Einstellung zum Leben!

Der Haider ist ein sehr subtiler Mensch. Der Hitler, den will man als verrückt erklären, aber in Wirklichkeit ist der Hitler auf den Wellen des Antisemitismus und des Hasses geschwommen. Die Menschen lassen sich immer manipulieren, das ist meine Meinung. Und auch der Haider versteht es, die niedrigsten Instinkte zu wecken, denn er greift die Fehler unseres Systems auf.

Auch beim Faschismus war das so. Antisemitismus hier in Wien habe ich am eigenen Leibe erlebt. Die katholische Kirche predigt die Nächstenliebe seit zweitausend Jahren, aber sie haben die Nächstenliebe zweitausend Jahre lang nicht praktiziert, sie haben sie nur gepredigt.

  • Glossar:

1 Hakoah [hebr.: Kraft]: 1909 in Wien gegründeter jüdischer Sportverein. Bekannt wurde vor allem die Fußballmannschaft [1925 österreichischer Meister]; der Verein brachte auch Ringer, Schwimmer und Wasserballer hervor, die internationale und olympische Titel errangen. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich wurden die Spielstätten beschlagnahmt und der Verein 1941 verboten.

2 Jeschiwa: Talmudschule; Der Talmud diskutiert als zentraler jüdischer Gesetzeskodex Fragen aller jüdischen Lebensbereiche.

3 Kaddisch [hebr.: kadosch = heilig]: Jüdisches Gebet zur Lobpreisung Gottes. Das Kaddisch wird auch zum Totengedenken gesprochen.

4 Gurs: französische Ortschaft am Rande der Pyrenäen, rund 75 Kilometer von der spanischen Grenze entfernt. Während der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg wurde in Gurs ein Internierungslager für deutsche Staatsbürger, Bürger anderer Staaten und Juden eingerichtet. Im Lager waren bis zu 30.000 Menschen interniert. 1942 und 1943 wurden aus Gurs 6.000 Menschen in Vernichtungslager in Polen deportiert.

5 Drancy: Ab 1941 Sammellager für zu deportierende Juden im Norden von Paris. Zwischen 21. August 1941 und 17. August 1944 passierten 70.000 Menschen dieses Lager auf dem Weg in die Vernichtungslager.

6 Chanukka [hebr.: Weihe]: Das achttägige Chanukkafest erinnert an die Wiedereinweihung des Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. Chr. nach dem erfolgreichen Makkabäeraufstand gegen hellenisierte Juden und mazedonische Syrer.

Die Makkabäer siegten und führten den jüdischen Tempeldienst wieder ein. Laut der Überlieferung fand sich Öl für nur einen Tag; durch ein Wunder hat das Licht jedoch acht Tage gebrannt, bis neues geweihtes Öl hergestellt worden war.

7 Jom Kippur: Der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum. Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.

8 Bürgerkrieg in Österreich [Februarkämpfe 1934]: Die Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten und den Christlichsozialen bzw. der Regierung führten im Februar 1934 zum Bürgerkrieg in Österreich. Die Februarkämpfe brachen in Linz aus und breiteten sich nach Wien aus.

Der unorganisierte Aufstand forderte mehr als 300 Tote und 700 Verwundete [auf beiden Seiten]. Außerdem führte er zum Verbot der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften sowie die Ausrufung 1934 des Ständestaats.

9 Anschluss 1938: Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Schuschnigg am 11. März 1938 besetzten in ganz Österreich binnen kurzem Nationalsozialisten alle wichtigen Ämter.

Am 12. März marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Mit dem am 13. März 1938 verlautbarten 'Verfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich' war der 'Anschluss' de facto vollzogen.

10 Vichy-Regime: Das Vichy-Regime war die französische Regierung nach der Niederlage vom Juni 1940 gegen das Deutsche Reich im 2. Weltkrieg. Sie bestand bis 1944. Nach der Landung der Alliierten in Nordafrika (November 1942) besetzten die Deutschen das ganze Land. Von jetzt an war Vichy völlig zum Marionetten-Regime geworden, das nur noch deutsche Befehle ausführte.

11 Pétain: Henri Philippe Benoni Omer Joseph Pétain 1856 - 1951, französischer General, dann Marschall von Frankreich und vorübergehend Staatschef des Vichy-Regimes. 1942 begannen die französische Polizei und Verwaltung mit der Deportation ausländischer und französischer Juden in die deutschen Vernichtungslager.

Deutsche Truppen besetzten den bisher unbesetzten Teil Frankreichs. Pétain wurde 1945 von einem französischen Kriegsgericht wegen seiner Kollaboration mit dem Deutschen Reich zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde in lebenslange Haft umgewandelt. Pétain starb 1951 während seiner Haftzeit.

12 Organisation Todt: Im Mai 1938 gegründet; die Mitglieder der nach ihrem Führer Fritz Todt benannten Organisation wurden für den Bau militärischer Anlagen eingesetzt. Die bekannteste davon war der so genannte Westwall entlang der deutsch-französischen Grenze.

13 Kibbutz [Pl.: Kibbutzim]: landwirtschaftliche Kollektivsiedlung in Palästina, bzw. Israel, die auf genossenschaftlichem Eigentum und gemeinschaftlicher Arbeit beruht.

[14] Haschomer Hatzair [hebr.: 'Der junge Wächter']: Erste Zionistische Jugendorganisation, entstand 1916 in Wien durch den Zusammenschluss von zwei jüdischen Jugendverbänden. Hauptziel war die Auswanderung nach Palästina und die Gründung von Kibbutzim. Aus den in Palästina aktiven Gruppen entstand 1936 die Sozialistische Liga, die sich 1948 mit der Achdut Haawoda zur Mapam [Vereinigte Arbeiterpartei] Zusammenschloss.

15 Freie Österreichische Jugend [FÖJ]: Die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Österreichs. Sie wurde 1945 als überparteiliche 'österreichische und antifaschistische' Vereinigung gegründet.

Bis Frühling 1956 zogen sich die sozialistischen, christlichen und parteilosen Aktivisten zurück. Die FÖJ wurde, wenn auch formal unabhängig, zu einer kommunistischen Teilorganisation.

16 Slansky, Rudolf [geb. 1901]: Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei [1945-1951], wurde am 23. November 1951 verhaftet und des Hochverrats angeklagt. Slánský war, wie die Mehrzahl seiner Mitangeklagten jüdischer Abstammung.

In einem Schauprozess im November 1952 wurde er als angeblicher 'Leiter eines staatsfeindlichen Verschwörungszentrums' zum Tode verurteilt und am 3. Dezember 1952 zusammen mit zehn weiteren Mitangeklagten hingerichtet. Die Asche der Hingerichteten wurde dem Streusplit im Winterdienst beigemischt und auf einer Strasse bei Prag verteilt. 1963 wurde er juristisch rehabilitiert, 1968 auch von der Partei.

17 Algerienkrieg: Nach dem 2. Weltkrieg lehnte Frankreich die Unabhängigkeitsbestrebungen Algeriens ab, unter anderem wegen der starken französischen Minderheit von 800.000 Siedlern bei 8 Millionen Einwohnern.

1954 begann der bewaffnete Kampf der Algerier. Der Algerienkrieg gilt als einer der grausamsten Befreiungskriege. Erst 1962 erkannte Charles de Gaulle den Algeriern das Recht auf Selbstbestimmung zu.

18 General de Gaulle, Charles André Joseph Marie [: 1890-1970] : Französischer General und Politiker. Im 2. Weltkrieg führte er den Widerstand des Freien Frankreichs gegen die deutsche Besatzung an und war danach von 1944 bis 1946 Chef der Übergangsregierung. Von 1959 bis 1969 war er Frankreichs Präsident.