Gertrude Kritzer

Gertrude Kritzer

Gertrude Kritzer
Wien
Österreich
Interview: Mai 2003
Interviewer: Tanja Eckstein

Gertrude Kritzer ist eine große und elegante Dame mit leuchtend blauen Augen. Sie empfängt mich in ihrer großen Wohnung mit Blick auf das 'Theateran der Wien' und den 'Naschmarkt'. Vor unserer ersten Begegnung ist sie etwas vorsichtig und bittet einen Freund, beim ersten Interview anwesend zu sein. Sie ist eine Modekennerin und - liebhaberin und trägt immer genau zu ihrer Erscheinung die passende Kleidung. Nach den Sitzungen gehen wir ins Kaffeehaus oder auf den 'Naschmarkt', wo sie mit allen jüdischen Händlern bekannt ist.

Gertrude Kritzer ist im Juli 2016 gestorben.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Mein Leben in Israel
Rückkehr nach Wien
Glossar

Meine Familiengeschichte

Meine ganze Familie war sehr fromm, sehr orthodox. Wie meine Großeltern
väterlicherseits hießen, weiß ich nicht. Großvater hatte ein großes Haus
und einen Gemischtwarenladen in Krumbach in Niederösterreich. Wie damals
üblich, gab es im Gemischtwarenladen alles zu kaufen, was die Bewohner
einer Zweitausend-Seelen Gemeinde brauchten, von Lebensmitteln bis Schürzen
und Landmaschinen. Im Hof des Hauses hatten meine Großeltern ihre eigene
Synagoge. Sie hatten fünf Kinder, meinen Vater Adolf sowie Max, Jacob,
Maria und Käthe. Alle Kinder wurden sehr fromm erzogen und blieben es auch
als Erwachse. Die Großeltern starben vor meiner Geburt, also noch vor 1923.

Onkel Max war mit Tante Mira verheiratet. Sie lebten wie wir in Krumbach,
und nach dem Tod des Großvaters übernahmen Onkel Max und mein Vater das
Geschäft. Max und Mira hatten sieben Kinder: Moritz, David, Julius, Grete -
sie war etwas älter als ich und kam jeden Schabbat zu meiner Mama - Fredl,
Fritz und Elsa.
Die einzigen aus dieser großen Familie, die sich vor dem Holocaust retten
konnten, waren meine Cousins Julius, Fritz, David und Fredl. Alle anderen
wurden ermordet.

Julius floh nach England und dann nach Marokko. Ich hatte nach dem Krieg
keinen Kontakt mehr zu ihm. Ich weiß nicht, ob er noch lebt.
Fritz floh nach Frankreich, war in der Fremdenlegion, dann in England und
ging nach dem Krieg nach Kanada. Er war ein guter Geschäftsmann und besitzt
zwei Häuser in Israel. Er hat einen Sohn Max.
David emigrierte nach Palästina, lebte in einem Moschaw 1 und starb in
Israel.
Fredl emigrierte nach Palästina, arbeitete in einem Büro und heiratete nie.
Er starb vor ungefähr vier Jahren in einem Altersheim in der Nähe von Tel
Aviv.

Onkel Jakobs Frau war eine geborene Jaul - ihren Vornamen habe ich
vergessen. Sie lebten in Wiener Neustadt. Onkel Jacob kaufte und verkaufte
Kaffee. Er war sehr reich und besaß sogar ein Auto. Jacob und seine Frau
hatten drei Söhne und eine Tochter. Die Söhne hießen Robert, Erich und Leo.
Den Namen der Tochter habe ich leider vergessen. Die ganze Familie floh vor
dem Holocaust nach Palästina. Onkel Jacob und seine Frau starben in Israel,
meine Cousins und meine Cousine leben alle in Haifa selbst oder in der
Umgebung. Erich ist ein bekannter Architekt. Er hat Söhne und lebt in einer
herrlichen Villa auf dem Karmel 2.
Robert lebt in Kiriat Motzkin, ist verheiratet und hat keine Kinder. Er
arbeitete in einem Büro der Regierung und seine Frau arbeitete in einer
Bank. Leider weiß ich den Namen seiner Frau nicht.
Leo besaß ein Taschengeschäft in einem Ort bei Kiriat Motzkin und hat zwei
oder drei Söhne und eine Tochter.

Tante Maria - genannt Mizzi - wurde 1888 geboren. Ihr Mann hieß Schomer
Mandl. Auch sie lebten in Wiener Neustadt und besaßen eine sehr große
Weinhandlung. Sie hatten fünf Kinder: Erwin, Rosa, Hedy, Erika und Helma.
Tante Maria, Onkel Schomer und ihre Töchter Rosa und Hedy wurden in
Jugoslawien in Kladovo 3 ermordet, als sie versuchten nach Palästina zu
fliehen.
Erwin gelang die Flucht und er lebte dann in Israel.
Erika lebte in Amerika. Ich weiß nicht, ob sie und Erwin noch leben.
Helma lebte und starb in Kanada.

Tante Käthe war mit Maier Stössel verheiratet. Sie lebten in Deutschkreuz
[Burgenland] und besaßen dort einen kleinen Gemischtwarenhandel. Sie hatten
Kinder, ich weiß aber nicht wie viele. Ich weiß nur, dass ein Sohn
körperlich behindert war. Wir hatten nicht viel Kontakt zu ihnen. Alle
wurden ermordet.

Mein Vater hieß Adolf Roman und wurde am 29. Juni 1880 in Krumbach geboren.

Mein Großvater mütterlicherseits hieß David Koppel. Meine Großmutter hieß
Rosa und war eine geborene Figdor. Sie lebten im Burgenland, in Wiesen. Sie
besaßen zwei große Häuser und zwei Geschäfte. Das waren auch
Gemischtwarenhandlungen, in denen man alles kaufen konnte. Sie waren sehr
religiös. Im Hof befand sich ein Holzhäuschen und zu Sukkot
[Laubhüttenfest] diente es als Sukkah [Laubhütte].

Die Großeltern hatten sieben Kinder: Josef, Emil, Adolf, meine Mutter Irma,
Helene, Ella, und Sofie. Als meine Großmutter starb, war ich noch ein
kleines Mädchen.

Onkel Josef war Gemüsegroßhändler am Naschmarkt. Er war ein großer, fescher
junger Mann mit rotblonden Haaren. Er war mit Tante Manci verheiratet. Sie
wohnten in der Großen Pfarrgasse im 2. Bezirk und hatten keine Kinder. Den
Onkel Josef liebte ich besonders, wahrscheinlich hat er uns Kinder auch
sehr geliebt.
Jeden Sommer verbrachten wir Kinder mit unserer Mutter bei den Großeltern
in Wiesen. Sie besaßen auch riesengroße Felder mit Erdbeeren. Wir Kinder
jäteten auf den Erdbeerfeldern das Unkraut und sammelten Fallobst auf,
wofür uns der Onkel Josef fünf Groschen pro Kilo bezahlte. Am 10. November
1938, nach der Pogromnacht 4 - nachdem mein Papa verhaftet worden ist -
bin ich zu ihm gegangen und er hat zu mir gesagt:
'Siehst du, wie dumm es ist, die Tür zu öffnen?' Kurze Zeit später wurde er
verhaftet. Auf dem Weg nach Dachau soll er einen SA Mann geschlagen haben
und der hat ihn erschossen.

Onkel Emil wohnte in der Leopoldsgasse 22 im 2. Bezirk und war mit Olli
Sputz verheiratet. Er und Onkel Josef arbeiteten zusammen als Obsthändler
am Naschmarkt. Sie waren zwar sehr orthodox, trugen aber keine Pejes oder
Bärte und auch keine schwarze Kleidung. Sie sahen nicht einmal jüdisch aus
- auch meine Mutter war blond.
Es muss ihnen finanziell sehr gut gegangen sein, denn sie besaßen herrliche
Wohnungen. Ich erinnere mich noch genau, dass in dem Haus, in dem Onkel
Emil mit seiner Familie gewohnt hat, eine Polizeipräfektur war. 1938
flüchteten sie alle nach England.
Nach dem Krieg verkaufte Onkel Emil die Häuser und Felder, die meiner
Familie gehört hatten.
Onkel Emil und Tante Olli hatten eine Tochter und zwei Söhne. Ihre Namen
weiß ich nicht mehr. Ein einziges Mal waren mein Mann und ich in England,
und da trafen wir sie. Sie wohnten im jüdischen Viertel von London. Tante
Manci, die Witwe vom Onkel Josef lebte mit ihnen. Sie brachte Gefillte
Fisch für den Schabbat. Es war kalt in ihrer Wohnung, denn sie waren so
fromm, dass sie am Schabbat nicht heizten.

Vor ungefähr zehn Jahren erlebte ich eine schöne Geschichte. Sie klingt wie
ein Märchen; man kann sich gar nicht vorstellen, dass es so etwas gibt:
Ich war im Tempel auf einer Bar Mitzwah und sah einen gut aussehenden
jungen Mann, der Besteck, das auf den Boden gefallen war, aufgehoben hat.
Er sprach Englisch, wir kamen ins Gespräch und er fragte mich: 'Sind sie
Österreicherin?'
Ich sagte: 'Ich bin Österreicherin.'
Er sagte: 'Haben sie eine Familie Sputz gekannt? Meine Frau ist eine
geborene Sputz, und ihre Familie stammt aus Wien.'
'Da brauchen sie gar nicht weiter zu suchen, Olli Sputz war meine Tante.'

Die Familie Sputz, die nach Amerika emigriert ist, besaß vor dem Krieg ein
großes Juweliergeschäft am 'Graben' [elegante Einkaufsstraße im 1. Bezirk].

Der junge Mann und ich gingen gemeinsam zum Graben, um für seine Kinder
Spielsachen aus Wien zu kaufen.
'Wenn du schon da bist, gehen wir doch in das Geschäft der Familie Sputz!'
sagte ich und wir betraten das Geschäft, das heute 'Heldwein' heißt.
Ich sagte: 'Entschuldigen sie, es ist eine unangenehme Frage, die ich jetzt
stelle; aber da ist ein Verwandter von mir aus Amerika und möchte gerne
wissen, ob sie das Geschäft seit 1938 haben? Bis 1938 gehörte es Verwandten
von uns, es war ein großes Juweliergeschäft.'
Ihm war das unangenehm, aber ich wollte das so.
Er und seine Frau - die Namen habe ich schon vergessen - leben in New York.
Er hat damals für Bertelsmann 5 gearbeitet.
Meine Verwandte Sputz aus New York, auch ihren Namen kenne ich nicht mehr,
rief mich dann an und sagte: 'Trude, komm einmal; wir würden uns freuen.'
Ich wollte eigentlich, bin aber nie hingefahren.

Onkel Adolfs Frau hieß Grete. Ihren Mädchenname weiß ich nicht. Sie hatten
eine Tochter - den Namen weiß ich auch nicht mehr - und sie führten nach
dem Tod der Großeltern mütterlicherseits die zwei Geschäfte meiner
Großeltern weiter.
Ab 1939 lebten sie in der Großen Pfarrgasse im 2. Bezirk, gegenüber von
meinem Onkel Josef. Sie konnten alle drei rechtzeitig Österreich verlassen
und sind nach Amerika emigriert.

Tante Helene war mit Josef Hacker, genannt Joschi, verheiratet. Sie lebten
in Gainfang und hatten zwei Söhne: Kurt und Paul. Sie besaßen ein großes
Haus, viele Grundstücke und ein koscheres Hotel. Meine Tante und mein Onkel
wurden beim Versuch über die Donau nach Palästina zu fliehen, in Kladovo in
Jugoslawien ermordet.
Kurt und Paul konnten nach Palästina emigrieren. Kurt hat eine Tochter und
einen Sohn und Paul hat zwei Töchter. Sie leben in Israel. Mehr über sie
weiß ich nicht.

Tante Ella und ihr Mann Jenö Weiss lebten in Györ. Als man Tante Ellas Mann
verhaftete, ging sie mit ihren drei noch kleinen Kindern, um nach ihm zu
suchen. Sie wurden alle ermordet. Leider weiß ich die Namen der Kinder
nicht mehr.

Tante Sofie war mit Josef Pollak verheiratet. Sie lebten in Pressburg und
hatten drei Kinder, die heute in Israel leben. Josef Pollak arbeitete in
einem damals sehr berühmten Modegeschäft, das 'Schmetterling' hieß.
Ich erinnere mich an den Namen, weil die Besitzer dieser jüdischen Firma -
sie hießen Lamm - auch mit uns verwandt waren. Verwandte der Lamms hatten
auf der Taborstraße im 2. Bezirk ein großes Geschäft. Ich glaube, es hieß
auch 'Schmetterling'.
Die ganze Familie Pollak emigrierte nach Palästina.
Der Sohn heißt Max und lebt in Israel. Ich glaube er war Berufssoldat. Er
hat zwei Kinder. Die Namen der Töchter kenne ich nicht. Eine Tochter
arbeitet in der Nähe von Ramat Gan als Advokatin.

Meine Mutter, Irma Koppel, wurde am 25. Juni 1891 in Wiesen geboren. Sie
war eine schöne Frau. Im Jahr 1912 heiratete sie meinen Papa, Adolf Roman
Blum, in Sauerbrunn [Kurort]. Alle Familienmitglieder heirateten in
Sauerbrunn. Ich bin sicher, dass die Ehe durch Vermittlung zustande
gekommen ist, denn beide Familien waren sehr religiös.

Ich hatte vier Brüder: Ignaz, Wilhelm, Herbert und Rudolf Blum. Sie wurden
alle in Krumbach geboren.

Ignaz, der Älteste, wurde 1913 geboren. Nach der Schule wurde er von meinen
Eltern nach Mattersburg in die Lehre geschickt. Dann arbeitete er in Wien.
Aber ehrlich gesagt, ich weiß nicht genau, worin seine Arbeit bestand.

Wilhelm wurde 1915 geboren. Er bekam eine kaufmännische Ausbildung im
Geschäft des Großvaters in Wiesen.

Herbert wurde 1921 geboren. Er war Lehrling bei der Firma 'Schön'. Das war
eine Gemischtwarenhandlung in Mattersburg, im Burgenland.

Rudolf war der Jüngste und wurde 1925 geboren.

Meine Kindheit

Ich wurde am 7. Februar 1923 in Krumbach geboren.

Meine Brüder und ich wuchsen in Krumbach auf wie alle anderen Kinder; da
gab es keinen Unterschied. Bei mir zu Hause aßen meine Spielkameraden ein
Butterbrot und ich aß bei meinen Freunden ein Schmalzbrot. Als ich klein
war, habe ich nicht gewusst, dass Schmalz nicht koscher ist. Später habe
ich natürlich kein Schmalzbrot mehr gegessen.

In meiner Kindheit habe ich keinen Antisemitismus erlebt. In einem kleinen
Dorf wie Krumbach kennt jeder jeden und mein Leben war ganz normal. Vor
1938 sagte nie jemand zu mir, ich sei eine Jüdin und er wolle mit mir
nichts zu tun haben. Auch in der Schule nicht. Ich kannte den Unterschied
zwischen mir und den anderen Mädchen überhaupt nicht. Ich wachte morgens
auf und ging wie alle anderen Kinder in die Schule, die neben der Kirche
war. Eigentlich rannte ich immer in die Schule, damit ich meinem Lehrer die
Klassentür aufhalten konnte, und er stellte mich dann auf das Podium und
sagte zu den anderen Kindern:
'Seht euch das an, Kinder, und lernt von der Trude Blum!' Ich lernte gut
und die Lehrer hatten meine Brüder und mich besonders gern. Von meinen
älteren Brüdern Ignatz und Wilhelm hingen sogar noch in meiner Schulzeit
Zeichnungen an der Klassenwand. Nur mein kleiner Bruder Rudi war ein
schlechter Schüler, aber brav waren wir alle.
Ich war auch mit der Tochter des Oberlehrers befreundet. Ich erinnere mich
an einen Lehrer, von dem ich später dachte, er sei ein bisschen
antisemitisch. Andererseits korrespondierte er jedoch noch mit meinen
Brüdern, als diese schon in Palästina waren.

In Krumbach lebten nur drei jüdische Familien: wir und mein Onkel Max,
Familie Mayer, und Familie Reininger. An die Familie Mayer kann ich mich
nicht erinnern; sie verließen Krumbach, als ich noch klein war. Sie besaßen
ein Sägewerk. Peter Mayer, ein Nachkomme dieser Familie, lebt in Wien und
arbeitet in der Kultusgemeinde als Gebäudeverwalter.
Familie Reiniger glückte die Flucht. Als Hitler einmarschiert ist, sind sie
weg - zuerst in die Schweiz und dann nach Amerika.

Mein Vater war Kaufmann. Gemeinsam mit seinem Bruder Max hat er nach dem
Tod des Großvaters die Gemischtwarenhandlung geerbt. Das Haus war ein
Doppelhaus: im Hof war unser Tempel und in dem Haus wohnte Onkel Max mit
seiner Familie. Wir lebten in einer 2½-Zimmer Wohnung. Die vier Buben
schliefen zusammen in einem Zimmer. Nach Großvaters Tod gab es deshalb
Unstimmigkeiten zwischen Onkel Max und meinem Vater. Onkel Max nahm sich
nämlich das große Haus des Großvaters und für uns blieb nur eine kleine
Mietwohnung. Außerdem ernannte sich Max zum Geschäftsinhaber, und das
kränkte meine Mutter sehr.

Meine Mutter hatte immer Hausgehilfinnen, aber sie hat selbst gekocht und
trotz der Hausgehilfinnen viel Arbeit gehabt. Sie hat sich sehr geplagt,
denn die Wohnung war viel zu klein für eine Familie mit fünf Kindern. Sie
hat sich ihr Leben sicher anders vorgestellt. Natürlich hat sie uns Kinder
geliebt, und mein Papa ist ein guter Mann gewesen. Dass der Onkel Max das
große Haus gehabt hat und wir in der kleinen Mietwohnung wohnen haben
müssen, blieb für sie eine Ungerechtigkeit.

Heute ist das Krumbacher Gemeindeamt in diesem Haus. Mir wurde erzählt,
dass der Tempel im Hof erst nach dem Krieg zerstört wurde. Ich habe es
nicht nachgeprüft. Angeblich wurden die Steine des Tempels nicht
zerschlagen, sondern begraben, wie es ein jüdisches Gebot ist. Ich bin
nicht so sicher, ob sie das wirklich so gemacht haben. Einmal war ich mit
meinem Bruder Ignatz in dem Hof, und wir schauten uns das an; es sah
wirklich so aus.

Meine Eltern waren sehr verwurzelt in Österreich. Sie waren keine Zionisten
und wären nie nach Palästina gegangen.

Mein Vater war ein religiöser Mann, aber meine Mutter war noch religiöser.
Sie trug immer, sogar zu Hause, einen Scheitl 6 oder ein Kopftuch. Bevor
wir etwas aßen, mussten wir uns am Brunnen, der sich im Hof befand, die
Hände waschen und die Bracha [Segensspruch] sagen. Ich bin wirklich aus
einem sehr, sehr religiösem Haus. Ein einziges Mal in meinem Leben bekam
ich eine Ohrfeige von meiner Mama: mein kleiner Bruder Rudi und spielten
ich mit anderen Kindern und kamen deswegen zu spät zur Havdalah 7. Da
bekamen wir beide, einer links, einer rechts, Ohrfeigen. Sonst geschah das
nie - meine Mama war eben sehr fromm.

Als ich in die erste Klasse kam, begann auch die religiöse Erziehung im
Cheder 8.
Fast jeden Tag hatten wir Religionsunterricht. Die Lehrer waren arme
Burschen aus Polen oder Ungarn, die für einige Monate nach Österreich
gekommen sind. Mein Vater, der mit dem Bürgermeister befreundet war, hat
ihnen Papiere beschafft, die bestätigten, dass sie in der Landwirtschaft
gearbeitet haben. So war es leichter für sie, Zertifikate 9 für die
Einwanderung nach Palästina zu erhalten. Die Lehrer waren sehr streng. Ich
erinnere mich, dass sie uns mit dem Staberl auf die Hände gehauen haben,
wenn wir schlimm waren. Mein jüngerer Bruder Rudi hat mehr Schläge als ich
bekommen. Aber er hat nicht geweint, ich habe mehr geweint.
Meine Vater hat jeden Morgen Tefillin angelegt und gebetet und meine Brüder
haben es natürlich auch tun müssen. Ich weiß noch, dass einer einmal eine
Ohrfeige bekommen hat, weil er mit dem Gebet zu schnell fertig war. Aber
ich glaube, mein Papa hat später, als meine Brüder älter waren, beide Augen
zugedrückt. Es lebten ja überhaupt keine Juden in der Umgebung, alle unsere
Bekannten waren Christen.

Jeden Sommer kamen Sommergäste aus Wien. Es waren fromme Juden und auch
nicht fromme Juden. Sie sprachen Jiddisch, das klang für uns Kinder sehr
merkwürdig. Wir machten uns über sie lustig, denn wir sprachen hochdeutsch
oder Dialekt. Und wenn ein Kind dieser Sommergäste am Schabbat mit dem
Dreirad fuhr, dann sagte ich:
'Das sind keine Juden, die fahren am Schabbat mit dem Dreirad. Die dürfen
fahren, wir dürfen nicht: das sind keine Juden.'

In Krumbach gab es kein Kino. Um ins Kino zu gehen, musste man mit dem
Autobus eine halbe Stunde nach Kirchschlag fahren. Ich erinnere mich, dass
meine Mama dreimal mit mir ins Kino gegangen ist. Was für Filme wir gesehen
haben, weiß ich nicht mehr. Ich nehme an, es waren Filme mit Paula Wessely
10.

Meine Eltern wollten unbedingt, dass einer ihrer Söhne studiert, und sie
wollten, dass einer zumindest Kürschnerei lernt oder etwas ähnliches. Sie
wollten, dass ihre Kinder 'bessere Berufe' haben. Das wäre wahrscheinlich
auch so gewesen, aber dann kam eben der Hitler.

Während des Krieges

Unser Geschäft konnte 1938 nicht arisiert werden, denn es existierte zu
dieser Zeit nicht mehr. In unserer Nähe wohnte eine Bäuerin, die uns Butter
und Kartoffeln brachte. Das war gefährlich, besonders in so einem kleinen
Dorf. Ein junger Polizist rief meinen Vater daraufhin zur
Polizeidienststelle, und mein Vater musste die Butter und die Kartoffeln
der Bäuerin zurückbringen. Ich war damals 15 Jahre alt und habe gesehen,
wie mein Papa geweint hat - schrecklich war das!
1914-1918 war mein Vater Soldat in der k.u.k. Armee 11. Er war so stolz
auf seine Auszeichnungen aus dem Weltkrieg und darauf 'Österreicher' zu
sein. Er war sicher, ihm könne nichts passieren. Das war eine große
Dummheit.

Mein Bruder Herbert emigrierte als erster nach Palästina. Er war noch sehr
jung und das Leben in Tel Aviv war damals sehr schwer. Als er und einige
andere Burschen mit einem Kastenwagen aufs Land fuhren, um Orangen zu
pflücken, haben Araber sie überfallen und Herbert so schwer verletzt, dass
er an den Folgen der Verletzung gestorben ist. Als sie davon hörte, erlitt
meine Mutter einen Herzinfarkt.

Im Herbst 1938 mussten wir Krumbach verlassen. Der Pfarrer half uns und war
sehr lieb zu uns. Er kam immer gern zu meiner Mama. Das war ein komisches
Verhältnis - er streng katholisch und meine Mama streng jüdisch.
Wir sind mit dem Autobus nach Wien gefahren und es war sehr schlimm, alles,
was uns gehörte, zurücklassen zu müssen.

Eine Cousine meiner Mutter, sie hieß Goldschmied, hat mit ihrer Familie in
der Malzgasse 2 im 2. Bezirk gewohnt. Sie hat uns ihre Wohnung gegeben, da
die Familie nach Palästina emigriert ist.

Mein Großpapa David Koppel musste 1938 aus seinem Haus in Wiesen, das er
von seinen Eltern geerbt hatte, ausziehen. Kurze Zeit später ist er im
Rothschild-Spital in Wien gestorben.

Ich war vor dem Einmarsch der Deutschen zweimal in Wien, aber an
Erinnerungen von Wien sind mir jene ab Herbst 1938 geblieben: da habe ich
das ganze Grauen mit angesehen. Obwohl ich jetzt schon fast fünfzig Jahre
wieder in Wien lebe, sehe ich es noch immer vor mir: Ich bin mit meinem
Papa von der Schiffschul 12 nach Hause gegangen. Auf dem Karmelitermarkt
[Marktplatz] ist mein Hebräischlehrer - bei dem ich zweimal im Kurs war,
ehe er verboten worden ist - auf einem Sessel gesessen, der auf einem Tisch
gestanden ist. Dieser Mann war Epileptiker und die Uniformierten hatten ihn
speziell herausgesucht. Sie haben ihm mit der Schere den Bart abgeschnitten
und das Blut ist an ihm heruntergelaufen und die haben Fotos gemacht,
wahrscheinlich für den 'Stürmer', und geschrieen:
'Mach das Ohr so, die haben ja nicht so kleine Ohren!' Wahrscheinlich
wurden die Ohren dann vergrößert und er wurde als hässlicher Jude im
'Stürmer' [Antisemitische Zeitung] abgebildet. Wer so etwas gesehen hat,
vergisst es nie!

Im Herbst 1938 waren die jüdischen Geschäfte schon alle geschlossen. Nach
dem Krieg wollte ich nie im 2. Bezirk leben. Später habe ich das bedauert.
Denn heute gefällt es mir, wenn ich Freitags oder an einem anderen Tag im
2. Bezirk bin und so viele fromme Juden sehe. Aber meine Erinnerungen an
den 2. Bezirk sind schauderhaft. Was ich dort am Karmelitermarkt gesehen
habe, war grauenhaft. Das kann man sich gar nicht vorstellen.

Als sie meinen Papa am 10. November 1938, nach der Pogromnacht, aus der
Wohnung abgeholt haben, hat meine Mama ihnen alles gegeben, damit sie ihn
nicht mitnehmen.
'Lasst meinen Mann, lasst meinen Mann da, nehmt ihn nicht mit', weinte
meine Mama, aber es hat nicht geholfen. Ich glaube, meine Eltern hatten
ziemlich viele Wertpapiere. Die hat sie ihnen gegeben. Sie haben ihr noch
den Ehering vom Finger gezogen und ihre Ohrringe genommen. Trotzdem haben
sie meinen Papa mitgenommen und misshandelt.
Nach zehn Tagen kam er zurück. Seine vorher schwarzen Haare waren
schneeweiß.

Mein kleiner Bruder Rudi kam mit einem Jugendtransport der Kultusgemeinde
nach Palästina. Ich glaube, es war nicht so leicht, auf so einen Transport
zu kommen. Die meisten waren arme Kinder. Auch wir hatten kein Geld mehr.
Es war weg, nachdem man uns alles genommen hatte, und meine Mama auch noch
den Rest weggegeben hat, weil sie geglaubt hat, sie könne so meinen Papa
behalten. Wir waren wirklich arm.
Mein Bruder Herbert war tot und vielleicht taten wir ihnen leid, und mein
kleiner Bruder wurde deshalb mitgenommen. Es war das letzte legale Schiff
nach Palästina. Ich glaube, nach einem halben Jahr in Palästina ging er als
Wächter an die Grenze. Dort war er ziemlich lange, es war eine schwere
Arbeit, und er verdiente sehr wenig. Ich half ihm finanziell, so gut es
ging. Danach war er Schlosser in einer Fabrik in Ramat Gan. Dort lernte er
seine spätere Frau Sara kennen. Sein Schwiegervater hatte in Ramat Gan ein
sehr schönes Haus. Es stand direkt neben der Fabrik. Die Familie war schon
seit zwei oder drei Generationen im Lande. Ich glaube, sie stammt aus
Russland.
Rudolf und seine Frau hatten drei Kinder: Irit, Moshe und Arni. Sie gingen
in den 1950er oder -60er Jahren nach New York. Die Kinder waren noch klein.
Rudi wurde Chefkonstrukteur in einer Werkstätte bei Blumingdale, das war
immerhin ein großes Geschäft.
Seine Frau starb an Krebs, das war schrecklich. Seitdem war er allein und
das Alleinsein hielt er schwer aus. Er war immer wieder in Wien und ich war
bei ihm in New York.
1990 starb er 65jährig an einem Herzinfarkt.

Mein Bruder Ignatz ist wie mein Vater im November 1938 auf der Straße
verhaftet und ins KZ Dachau deportiert worden. Von dort ist er in das KZ
Buchenwald verlegt worden. Unsere Cousins Fritz und Julius, die in England
lebten, haben ihm ein Permit [Einreiseerlaubnis] besorgt und das hat ihn
gerettet. Kurz vor Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde er entlassen. Er
emigrierte sofort nach England. In England heiratete er Serafine, eine
Jüdin aus Graz. Sie hatte zwei Kinder aus erster Ehe und war zum Judentum
übergetreten, denn ihr erster Mann war auch Jude.

Tante Manci ging jeden Tag zur Gestapo und fragte nach ihrem Mann, meinem
Onkel Josef. Eines Tages sagte man ihr: 'Ihr Mann ist da.' Man brachte ihr
ein Kisterl, und darin war die Asche meines Onkels.

Ich bin jeden Tag aufs Palästinaamt 13 in der Marc Aurel Straße gegangen,
um Papiere für die Emigration zu erhalten. Die Menschenschlange hat bis zum
Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz gereicht.
Man musste sich auch an der 'Zentralstelle für jüdische Auswanderung'
anstellen, um Österreich verlassen zu dürfen. Die 'Zentralstelle', die von
Adolf Eichmann 14 geleitet wurde, befand sich in der Prinz Eugen Straße
im enteigneten Rothschild-Palais. Tausende Menschen stellten sich dort an,
um Pass und Ausreisebewilligung zu erhalten.

Mein Bruder Willi emigrierte noch vor mir mit einem Transport der
Kultusgemeinde. In Arnoldstein [an der italienischen Grenze] wurde der Zug
drei Wochen lang aufgehalten. Dann mussten alle nach Wien zurück. Er
schaffte es dann mit einem anderen Transport über die Donau.

Ich fuhr mit einem italienischen Schiff nach Abessinien und dann nach
Palästina. Die Reise verlief ohne Zwischenfälle. Die Kinder fühlten sich
gut, nur ich war seekrank. Das Schiff schlingerte hin und her. Mir ging es
so schlecht, dass ich den anderen sagte, sie sollten alle meine Verwandten
noch einmal grüßen, weil ich jetzt sterben müsse. Meinen schönen
Regenmantel hat mir ein Italiener gestohlen. Der Regenmantel war für mich
so etwas Kostbares, und weg war er. Ich liebe die Italiener trotzdem.

In Haifa gingen wir an Land. Ich kam gerade noch zur rechten Zeit zu meinem
Bruder Willi. Man hatte ihn schon in einen Raum zum Sterben gebracht. Er
war krank, und man hatte ihn aufgegeben. Das Seelische ist sehr wichtig bei
Krankheiten, ich glaube ich habe ihm das Leben gerettet; dass ich kam, war
für ihn die beste Medizin. Gott sei Dank, nach ein paar Tagen ging es ihm
wieder besser und er kam in ein Erholungsheim.
Nach dem Krieg blieb er in Israel. Mein Bruder arbeitete zuerst als Kellner
und dann als Sekretär in einer großen staatlichen Firma. Er lebte in
Jerusalem, heiratete Klari und hatte zwei Kinder, Avi und Irit. Sein Sohn
Avi fiel mit 24 Jahren im Jom Kippur Krieg. Er war gerade sechs Wochen
verheiratet. Bevor Avi starb, hat er mich noch angerufen und gesagt:
'Hakol beseder [hebr. Alles in Ordnung]. Es ist schon Frieden mit Ägypten,
man hat schon Schluss gemacht.' Die Ägypter probierten dann noch eine
russische Rakete aus und Avi ging in den Bunker. Freunde erzählten mir,
dass die Rakete genau dort eingeschlagen hat. Das war schlimm, wirklich
furchtbar schlimm.
Irit, seine Schwester, lebt in Jerusalem und hat zwei Söhne - Avi und
Itamar - und eine Tochter: Sherim.
Willi starb vor ungefähr zehn Jahren in Jerusalem.

Mein Papa starb in Folge der Misshandlungen am 29. März 1940 in Wien.
Meine Mama wurde im Mai 1942 von Wien nach Izbica 15 deportiert und dort
ermordet.

Mein Leben in Israel

Meine Zeit in Israel war sehr schwer, aber ich würde sie nicht missen und
nicht tauschen wollen. Zwei Jahre verbrachte ich in einem frommen
Mädchenhaus von der 'Misrachi' 16, in Tel Aviv. Das Haus, mitten in Tel
Aviv, wurde von religiösen amerikanischen Damen gespendet. Es war ein sehr
schöner Bau, jetzt ist eine Schule darin.

Wir waren ungefähr 120 österreichische, deutsche und tschechoslowakische
Mädchen. Zwei Jahre mussten wir putzen, zum Beispiel die Kacheln im
Badezimmer mit Sand und dann mit Seife, damit sie ja schön glänzen, und wir
mussten Handarbeiten machen. Für mich waren es zwei verschenkte Jahre.
Heute sage ich, es ist wirklich schrecklich schade, wir hätten viel lernen
können in dieser Zeit. Wir mussten immer einen Piaster zahlen, wenn wir
Deutsch untereinander sprachen statt Hebräisch. Aber ehrlich gesagt,
Hebräisch habe ich dort nicht gelernt, obwohl wir Unterricht hatten. Aber
wir waren sehr gut aufgehoben, alles war sehr religiös. Meine Eltern hätten
das so gewollt, obwohl es damals für sie nicht mehr so wichtig gewesen ist;
Hauptsache, ich war gerettet! Aber es gefiel ihnen, dass ich in einem
religiösen Heim untergekommen war.

Nach zwei Jahren durften wir uns ein Zimmer und Arbeit suchen. Wir konnten
aber zunächst noch im Heim schlafen, bis wir etwas gefunden hatten. Weil
wir nichts besaßen, zogen immer zwei Mädchen zusammen in ein Zimmer. Meine
Mama hatte mir eine Tuchent [Deckbett] mitgegeben, die legte ich auf den
Fußboden des ersten Zimmers, in dem es nicht einmal eine Matratze gab.
Meine Freundin Hilde und ich suchten uns dann ein Zimmer mit Matratzen. Das
hatte aber den Nachteil, dass es ansonsten absolut leer war.

Zuerst arbeitete ich in einer Fabrik, in einer Diamantenschleiferei, aber
da streikten wir mehr als wir arbeiteten. Das war eine Akkordarbeit, wir
schliffen Industriediamanten, die für Flugzeuge benützt werden. Wenn die
weghüpften, mussten wir die ganze Werkstätte aufkehren und alles
durchsieben. Wir hatten keinen Mundschutz, und geraucht habe ich auch.
Eines Tages stand ich am Morgen auf und konnte überhaupt nicht mehr
sprechen. Ich ging zu einem HNO [Hals-Nasen-Ohren] Arzt und der sagte:
'Mein liebes Kind, erst einmal hörst du sofort auf zu rauchen, und am
besten du hörst auch auf in der Fabrik zu arbeiten, oder du musst einen
Mundschutz tragen.'
Ich sagte: 'Ich werde sowieso aufhören, weil wir immerzu streiken und ich
kein Geld verdiene, weder für den Zins noch um ein Falafel [Fladenbrot
gefüllt mit Kichererbsenbällchen und verschiedenen Salaten] zu kaufen.'
Seit damals bin ich immer heiser.
Nachher habe ich nur noch als Kindermädchen gearbeitet.

Rückkehr nach Wien

Mein Bruder Ignatz trat in England der KPÖ [Kommunistische Partei
Österreichs] bei. Nach dem Krieg ging er mit seiner Frau nach Wien zurück.
Die Ehe hielt nicht, und nach ungefähr zehn Jahren kehrte seine Frau nach
England zu ihren Kindern zurück. Nach dem Ungarnaufstand im Jahre 1956 trat
er aus der KPÖ aus. Er arbeitete in Wien als Angestellter, unter anderem
bei der 'Voest Alpine' und wollte sich irgendwann selbständig machen. Er
kaufte sich ein Büro und Möbel, und da er sehr viele Leute in Polen und
Russland kannte, hoffte er, mit ihnen gute Geschäfte machen zu können. Aber
es klappte nicht. Im Alter von ungefähr 60 Jahren erlitt er einen
Herzinfarkt und dann ging er in Pension. Er war ziemlich einsam und seine
letzten Jahre verbrachte er in Wien im jüdischen Altersheim in. Er starb im
Jahre 1997 im Alter von 84 Jahren.

Ende 1951 hat Ignatz mich nach Wien eingeladen. Ich kam und blieb.
Zwei Jahre war ich Kindermädchen bei der jüdischen Familie Schreiber. Sie
hatten ein zweijähriges Kind und wollten ein jüdisches Kindermädchen für
ihre Tochter, damit sie von klein auf ein wenig jüdische Tradition und
Religion lernt. Ich war gern bei der Familie Schreiber. Sie hatten mich
richtig in die Familie aufgenommen. Mit der Frau meines Bruders Ignaz
verstand ich mich nicht besonders gut, und darum war damals eigentlich die
Familie Schreiber meine Familie. Ich wohnte bei ihnen und schlief im
Kinderzimmer. Ihr Kind war für mich wie mein eigenes. Die Frau Schreiber
hatte noch zwei Töchter von ihrem ersten Mann, die zwischen vierzehn und
sechzehn Jahre alt waren. Ich verdiente nur 450 Schilling im Monat. Das war
sehr wenig und ich war auch nicht versichert.

Als ich 28 Jahre alt war sagte Frau Schreiber: 'Trude, es ist Zeit zum
Heiraten.'
Auch ich wollte endlich heiraten. Es war mir egal, ob ich nach vier Wochen
wieder geschieden sein würde. Ich fand, heiraten gehört dazu, und ich
wollte einen Ehering am Finger tragen.

Frau Schreiber stellte mir einige Männer vor; es waren reiche Männer
darunter. Mein Mann hatte nicht viel Geld, aber er imponierte mir. Er war
ein sympathischer Mann und sehr ehrlich. Vorher hatte ich Freunde, die
waren 'Schöntuer'; lieb, sie machten mir den Hof und hatten einen Wiener
Schmäh. Wenn man aber ein bisschen am Lack kratzte, war nichts darunter.
Ich kannte viele Männer, die nicht halb soviel Wissen über Literatur,
Theater und Oper hatten wie mein Mann. Er liebte die Literatur, die Oper
und das Theater.

Frau Schreiber richtete die Hochzeit aus und wir heirateten 1954 im Hof des
Hauses der Familie Schreiber. Unsere Hochzeit war sogar in der Zeitung, so
schön war alles vorbereitet.

Wir wohnten zuerst zur Untermiete, das war schrecklich. Mein Mann Isaac
Kritzer war nicht sehr religiös, aber ich führte einen koscheren Haushalt.

Er wurde am 10. Oktober 1916, in Sadagura, in der Bukowina, geboren. Er
stammte aus sehr religiösem Haus. Ich glaube sein Vater war Viehhändler. Er
wuchs in Czernowitz auf, machte eine Kürschnerlehre und arbeitete als
Kürschner. Sein Bruder hieß Moses und war älter als mein Mann.
Die Eltern meines Mannes starben in Transnistrien 17 in einem Lager. Es
war schrecklich, er hat sie selber begraben.

Nach dem Krieg war mein Mann in Amerika, aber zuerst war er in Wien und
wohnte im Rothschild Spital, denn da lebten viele Juden nach dem Krieg, bis
es verkauft wurde. Eigentlich wollte er in Amerika leben, aber er vertrug
das Klima in New York nicht. Er kam dann mit amerikanischen Papieren nach
Wien zurück. Er war aber sehr viel in New York und kaufte und verkaufte
Pelze. Sein Bruder Moses war auch nach Amerika gegangen und kam auch nach
Wien zurück.

Als wir heirateten, wohnten wir nicht weit entfernt vom Rothschild Spital.
In der Porzellangasse, im 9. Bezirk, hatten mein Mann und sein Bruder das
Lager. Es war sehr schwer, denn zwei Familien mussten von einem kleinen
Geschäft leben.

Antisemitismus, so komisch es ist, spürte ich nur durch meinen Mann und
seinen Bruder geschäftlich und in Spitälern. Mein Schwager war ein sehr
jüdischer Typ, ein Ostjude, und die Leute wollten von ihm nichts kaufen. In
den 1950er Jahren gab es noch ganz offenen Antisemitismus, aber ich hätte
das gar nicht bemerkt, weil man mir nicht ansieht, dass ich Jüdin bin.
Außerdem spreche ich einen schrecklichen österreichischen Dialekt.
'Frau Kritzer, kommen Sie, Ihr Mann kann auch einmal kommen, aber ihr
Schwager bitte nicht.' Das habe ich oft gehört. Sie wussten auch, dass ich
Jüdin bin, aber mich hielten sie aus. Zweimal ist es mir passiert, dass
Leute auf die andere Straßenseite wechselten, als ich mit jüdisch
aussehenden Männern den Gehsteig entlang gegangen bin. Ich glaube nicht,
dass ich überempfindlich bin.

Mein Mann wollte dann doch, dass wir gemeinsam nach Amerika gehen. Aber das
klappte nicht. Er hat wertvolle Pelze in Amerika gekauft und nach Wien
geschickt, wo sie nie angekommen sind.

Mit meinem Bruder Ignaz war ich zweimal in Amerika bei Verwandten. Mein
Mann und ich waren gemeinsam in Israel und Kanada. In Montreal hatten wir
viele Verwandte, und da trafen wir auch Freunde meines Mannes, Kürschner
und Pelzhändler.

Wir gingen jede Woche gemeinsam in die Oper und ins Konzert. Da wir nur
wenig Geld hatten, konnten wir uns nur Stehplätze leisten, aber das hat uns
nicht gestört. Mein Mann war ein ganz fanatischer Theaterbesucher und wenn
ich sagte: 'Der Werner Kraus war ein Nazi, er hat im 'Jud Süß'
[antisemitischen Hetzfilm] mitgespielt', so sagte er: 'Du verstehst das
nicht, das sind Schauspieler!'
Wir waren auch bei den Salzburger Festspielen. In Salzburg suchten wir ein
billiges Hotel, oder wir fuhren mit dem Zug ein paar Stationen aus Salzburg
heraus. Manchmal wohnten wir bei Bauern, das war sogar ganz nett.

In Israel war ich eine stolze Israelin. Um die österreichische
Staatsbürgerschaft wieder zu bekommen, musste ich aber die israelische
zurückgeben. So war das Gesetz. Das hat mir sehr weh getan.

Als mein Mann krank war, ging er für einige Zeit ins jüdische Altersheim.
Dort war die medizinische Betreuung gut. Aber er wollte dann doch wieder
nach Hause und danach habe ich ihn jahrelang in verschiedenen Spitälern
besucht; ich habe alle gekannt.
Einmal waren wir Samstag in der Früh zum Katheterwechsel in einem Spital.
Da sagte der Arzt: 'Der Herr Kritzer hat nichts zu tun; da denkt er sich,
na, da gehe ich ins Spital. Aber er vergisst, dass wir hier sehr viel zu
tun haben. Mein Vater war auch krank, war 75 Jahre alt und hatte
Disziplin!'
Ich dachte, ich drehe durch und sagte zu ihm: 'Wissen Sie eigentlich, was
die Pflichten eines Arztes sind?'
Und er fragte mich: 'Warum haben sie einen Juden geheiratet?'
Darauf sagte ich: 'Sie werden lachen, ich bin auch Jüdin!'
So war das Gespräch und mein Mann saß mit großen Schmerzen zitternd dabei.
Nachdem der Arzt endlich den Katheter gewechselt hatte, hab ich ihn gepackt
und ihm gesagt:
'Sie sind ein richtiges Nazischwein.' Dann habe ich ihn noch angespuckt.
Mein Mann bekam Angst um mich. Seit fünfundzwanzig Jahren kann ich nicht
mehr weinen, aber ich bekam damals oft Schüttelfrost. Wenn man nicht mehr
weinen kann, ist das schlimm, weil das in der Brust sitzt und weh tut.

Ich beschwerte mich dann beim Chef des Krankenhauses, aber er sagte:
'Wissen sie, die Ärzte sind so überlastet.'
'Aber in diesem Fall, Herr Professor, war das nicht so, tun Sie etwas!'
forderte ich.
Ich schrieb dann dem Gesundheitsminister, und er antwortete: 'Ihr Mann
hätte schon längst operiert werden müssen, aber die Ärzte sind sehr
überlastet.'

Aber nicht alle Ärzte waren so, manche waren auch sehr nett, ich lernte
auch gute Christen kennen.

Ich hatte eine Freundin in Salzburg, sie ist seit einigen Jahren tot. Ich
habe sie auf einer Kur in Italien kennen gelernt. Ich habe geglaubt, eine
Kur könne mir helfen, doch noch ein Kind zu bekommen, denn ein Kind wollte
ich gern haben. Sie erzählte mir, sie wäre in der HJ [Hitler Jugend]
gewesen, aber ihr Vater sei umgebracht worden, weil er etwas gegen die
Nazis gesagt hatte. Als ich sie in Salzburg einmal besuchte, gingen wir zu
ihrem Sohn und tranken mit der Nachbarin Kaffee. Der Nachbarin gefiel meine
Halskette und sie zeigte mir daraufhin ihren Schmuck. Sie hatte eine
herrliche Smaragdgarnitur, fantastisch und ich dachte sofort: Vielleicht
ist dieser Schmuck von einer jüdischen Familie. In einer Kassette hatte sie
auch Silberzeug und darunter lag ein Hakenkreuz aus Rubinen und ich sagte:
'Warum haben sie das aufgehoben?'
Meine Freundin machte ihr ein Zeichen, aber sie verstand es nicht und
sagte:
'Na ja, man weiß nicht, wann man das wieder brauchen kann.'
Meine Freundin war mir gegenüber einmalig. Wenn mein Mann krank war, fuhr
sie von Salzburg nach Wien und am selben Tag wieder zurück, nur um ihn im
Krankenhaus zu besuchen. Sie war auch die Erste, die am Friedhof war, als
mein Mann gestorben ist. Ich hatte sie sehr gern und sie sagte immer:
'Schau, mein Vater ist auch umgebracht worden, weil er in einem Wirtshaus
was gegen die Nazis gesagt hat.'
Wenn man zu hart ist, kann man in Österreich nicht leben.

Mein Mann starb am 9. Juni 1989.

Ich bin natürlich oft nach Israel gefahren. Mein Mann hatte das nicht gern,
trotzdem bin ich oft gefahren, denn ich hatte dort meinen Neffen Avi, den
ich abgöttisch geliebt habe und der im Yom Kippur Krieg gefallen ist. Ich
hätte gern in Israel gelebt, aber mein Mann konnte nicht. Er hat die Hitze
nicht ertragen. Ich kann mir in Israel kein Altersheim leisten, aber für
mich ist dieses Land das Wichtigste in meinem Leben. Ich gehe zu allen
Veranstaltungen über Israel. Ich würde fast sagen, ich bin eine
Fanatikerin. Es tut mir weh, wenn Israelis sterben, Kinder junge Mädeln und
Burschen. Mein erspartes Geld bekommt ein Soldatenheim in Israel. Ich habe
dort verkrüppelte Soldaten gesehen. Die bekommen jeden Schilling oder jeden
Cent, den ich besitze.

Wenn ich zu Hause bin und zum Beispiel Beinschinken esse, was selten
vorkommt, dann esse ich ihn aus dem Papier, denn mein Geschirr ist koscher.
Zu mir können auch Fromme kommen, aber ich koche überhaupt nicht mehr. Im
Haus ist ein japanisches Lokal - dort esse ich - das ist wunderbar für
mich.

Jeden Samstag gehe ich in den Tempel. Ich bete selten, aber ich höre zu und
ich singe mit, und ich liebe die Frau vom Rabbiner Eisenberg. Sie ist
Amerikanerin, hat sechs wunderbar erzogene Kinder, alle dreisprachig. Sie
lädt oft Leute ein, und auch ich werde an Feiertagen eingeladen, obwohl ich
nie so religiös war wie sie. Ich habe sie wirklich sehr gerne, sie ist ein
wertvoller Mensch.

Man muss unbedingt einen Kreis von Freunden haben. Das ist wichtig, weil
man sich geschützter fühlt. Mein Kreis ist einfach abhanden gekommen, ich
habe heute niemanden mehr. Meine guten Bekannten sind alle am vierten Tor
[Jüdischer Friedhof].
Sonntags gehe ich immer ins Maimonides Heim [Jüdisches Altersheim] zum
Mittagessen, weil ich dort eine gute Bekannte habe. Ich begrüße alle, die
ich kenne. Ich habe aber Angst, dass ich eines Tages hin muss. Ich möchte
es wirklich nicht. Ich habe meine angenehmen vier Wände, und ich will nicht
ins Heim. Den Gluskin, der ist hundert Jahre alt, den liebe ich. Es ist ein
Vergnügen mit ihm zusammen zu sein. Aber wenn mir einer erzählt, er habe im
Cheder gelernt und dann in seinem späteren Leben nur geschaut, viel Geld zu
verdienen, passt das für mich nicht zusammen. Ich werde immer einsamer,
aber auch im Heim kann man einsam sein. Als mein Bruder Ignatz dort war,
hatte er Glück, es gab eine nette Gesellschaft. Das waren Leute, die er
schon aus der Emigration in England kannte. Es war ein angenehmer Kreis,
aber alle sind schon gestorben.

Mutter hat in einem Brief geschrieben: 'Gott wird weiter helfen'. Ich weiß
nicht. Man sieht ja Juden, die, bevor sie ermordet wurden, die Hände zum
Himmel heben, weil sie glauben, da oben ist jemand. Vielleicht ist es
besser, man hat diesen Glauben. Ich sage: 'Da oben sind Wolken, weiter nix.
Wieso konnte einer zuschauen, wie Kinder vergast und verbrannt werden?'

Glossar

1 Moschaw

Der Moschaw ist eine genossenschaftlich organisierte ländliche
Siedlung in Israel. Der Moschaw ist neben dem Kibbuz und der Moschawa
(Verwechslungsgefahr) die dritte jüdische, ländlich geprägte Siedlungsform.
Der Moschaw ist die jüngste und häufigste Form israelischer Dörfer.

2 Karmel

Der Karmel ist ein Gebirgszug in Israel. Es erhebt sich 23
Kilometer lang und bis zehn Kilometer breit bis zu einer Höhe von 546
Metern entlang der Mittelmeerküste. Die Stadt Haifa, Israels größter Hafen,
liegt am nördlichen Abhang des Karmel.

3 Kladovo

Kladovo ist ein serbisches Dorf an der Donau. Der 'Kladovo-
Transport' ist der [misslungene] Versuch, über 1000 Juden von Bratislava
aus über die Donau nach Palästina zu bringen und so zu retten. Das Schiff
erreichte Kladovo und die Flüchtlinge blieben dort stecken. Nur etwa 200
Jugendlichen gelang es wenige Tage vor dem Überfall auf Jugoslawien [April
1941], nach Palästina zu entkommen.

4 Pogromnacht

Kristallnacht: Bezeichnung für das [von Goebbels
organisierte] 'spontane' deutschlandweite Pogrom der Nacht vom 9. zum 10.
November 1938. Im Laufe der ,Kristallnacht' wurden 91 Juden ermordet, fast
alle Synagogen sowie über 7000 jüdische Geschäfte im Deutschen Reich
zerstört und geplündert, Juden in ihren Wohnungen überfallen, gedemütigt,
verhaftet und ermordet.

5 Bertelsmann

Im 19. Jahrhundert gegründeter deutscher Verlag, der sich
zu einem internationalen Medienunternehmen entwickelt hat.

6 Scheitl od

Scheitel: Die von orthodoxen Frauen getragene Perücke.

7 Hawdala

heißt Trennung, Teilung. Die Hawdala markiert das Ende des
Schabbats. Es ist das Gebet, das dem Kiddusch zum Schabbatbeginn
entspricht.

8 Cheder [hebr

Zimmer] ist die Bezeichnung für die traditionellen
Schulen, wie sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts im westeuropäischen -
und bis ins 20. Jahrhundert im osteuropäischen - Judentum üblich waren. Der
Unterricht im Cheder fand im Haus des Lehrers statt, der von der jüdischen
Gemeinde bzw. einer Gruppe von Eltern finanziert wurde. Diese Form der
Erziehung war in der Regel nur Jungen zugänglich.

9 Zertifikat

Einreisegenehmigung für Palästina, das bis 1948 britisches
Mandatsgebiet war.

10 Wessely, Paula [1907 - 2000]

Wessely war eine österreichische Film-
und Theaterschauspielerin. Sie galt lange Jahre als Grande Dame der
deutschen Schauspielkunst und war zudem ein gefeierter Star am Wiener
Burgtheater.

11 k

u.k. Armee: Die 'kaiserlich und königliche' Armee der österreich-
ungarischen Monarchie.

12 Schiffschul

1864 eröffnete Synagoge im Hof des Grundstückes Große
Schiffgasse 8 -10. (Von dieser Straßenbenennung leitet sich auch der Name
'Schiffschul' ab).

13 Palästinaamt

Von den Nazis geduldete Organisation, welche die
Auswanderung von Juden nach Palästina organisierte.

14 Eichmann, Adolf [1906 - 1962]

SS-Sturmbannführer Adolf Eichmann
leitete in Wien die 'Zentralstelle für jüdische Auswanderung', die einzige
Dienststelle, die ermächtigt war, Juden aus Österreich, später auch aus der
Tschechoslowakei und dann aus dem gesamten Reichsgebiet
Ausreisegenehmigungen zu erteilen. Von 1941 an organisierte er die
Massentransporte der europäischen Juden in die Vernichtungslager. Nach
Kriegsende konnte Eichmann nach Argentinien fliehen. 1960 wurde er vom
israelischen Geheimdienst entdeckt, nach Jerusalem entführt und dort vor
Gericht gestellt. Im Dezember 1961 zum Tode verurteilt, wurde Eichmann im
Juni 1962 hingerichtet.

15 Izbica

1942 schickten die Deutschen Deportationszüge mit Juden aus
Deutschland, Österreich und aus dem Ghetto Theresienstadt nach Izbica bei
Lublin [Polen]. Transporte mit Juden aus Izbica gingen vom März 1942 bis
zum April 1943 nach Sobibór bzw. Be??ec. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle
betroffenen Männer, Frauen und Kinder umgebracht worden.

16 Misrachi [Abk

für Merkas Ruchani - Geistiges Zentrum]: jüdische
national-religiöse Partei in Europa [gegründet 1902] und in Palästina/
Israel, 1918-1956.

17 Transnistrien

der ukrainische Gebietsteile zwischen den Flüssen
Dnjestr und Bug, wohin über 200.000 rumänische Juden aus Bessarabien (dem
heutigen Moldawien), der Bukowina und dem Verwaltungsbezirk Dorohoi
(Nordmoldau) zwangstransportiert wurden.