Richard Kohn

Richard Kohn und seine Frau Bella Kohn

Richard Kohn
Wien
Österreich
Interviewer: Tanja Eckstein
Datum des Interviews: Oktober 2003

Ich erfuhr von meinem ehemaligen Interviewpartner Aron Neumann über Richard Kohn. Sie waren einander in der Tagesstätte des Maimonideszentrums, dem jüdischen Seniorenheim, begegnet und Freunde geworden. Herr Kohn wohnte während der Zeit meines Interviews mit seiner Tochter Rita, deren Ehemann und drei Enkelkindern, ein Enkelsohn ist schwer behindert, in Wien - Stammersdorf, einem Teil des 21. Bezirks. Richard Kohn sitzt im Rollstuhl und freut sich, seine Lebensgeschichte erzählen zu können. Später bezieht er ein sehr schönes Zimmer im Maimonides-Seniorenheim im 19. Bezirk, in der Bauernfeldgasse, ganz nahe dem Haus, in dem seine Geschichte beginnt.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Nach dem Krieg
Glossar

Meine Familiengeschichte

Mein Großvater väterlicherseits hieß Jacob Kohn. Er wurde im Jahre 1856, wahrscheinlich in Wien, geboren. Über Geschwister meines Großvaters weiß ich nichts. Er besaß im Stadtbezirk Döbling, in der Hardtgasse, eine kleine Schlosserei.
Meine Großmutter väterlicherseits hieß Caroline Kohn und war eine geborene Schwartz. Ich weiß weder, wo meine Großmutter geboren wurde, noch ob sie Geschwister hatte.
Die Großeltern hatten sieben Kinder, vier Söhne und drei Töchter: Adolf, Emanuel, Theodor und Alfred, meinen Vater, Teresa, Resi genannt, Rosa und Adele, die ich merkwürdigerweise nur unter dem Namen Ida kannte.
Wir wohnten mit den Großeltern zusammen in einer Wohnung. Die Großmutter kümmerte sich um die Familie und erledigte die Hausarbeiten. Bereits im Jahre 1923 starb sie, da war ich gerade drei Jahre alt. Trotzdem erinnere mich an sie als eine warmherzige Großmutter.

Meinen Großvater habe ich sehr gut gekannt. Bis zu seinem Tode, im Jahre 1929, wohnte er mit uns, und meine Mutter kümmerte sich um ihn. Er wurde 73 Jahre alt, das war in dieser Zeit ein hohes Alter. Seine Werkstatt hatte der Großvater meinem Vater übergeben. Der Großvater war ein strenger, unnahbarer Mensch. Er lächelte kaum und verstand keine Witze. Immer las er Zeitungen und dachte sehr viel nach. Er beschäftigte sich nie mit mir, wie man sich mit einem Kind beschäftigt, aber ich respektierte ihn, und ich hatte ihn sogar lieb. Vielleicht deswegen, weil er mir viele, sehr kluge Antworten auf meine Fragen gab.

Mein Onkel Adolf Kolm, er hatte seinen Namen Kohn in Kolm geändert, wurde 1895 geboren. Er war Chauffeur beim Gerngross [Kaufhaus in Wien] und mit Tante Teresa, einer Christin, verheiratet. Sie hatten einen Sohn Hans. Onkel Adolf war ein begeisterter Kommunist. Mein Onkel überlebte den Holocaust in Shanghai. Tante Teresa und ihr Sohn Hans überlebten den Krieg in Wien. Nach dem Krieg kam Onkel Adolf nach Wien zurück. Teresa hatte die vielen Jahre auf ihn gewartet. Er hatte sieben Jahre in Shanghai gelebt, war dort an Malaria erkrankt und herzkrank. Er starb am 5. Juni 1970 in Wien und liegt am vierten Tor, auf dem Zentralfriedhof, begraben. Hans starb vor langer Zeit.

Onkel Emanuel Kolm, auch er hatte sich von Kohn in Kolm umbenannt, war Ingenieur und arbeitete mit Metall. In zweiter Ehe war er mit Tante Sofie, die am 9. September 1886 geboren wurde, Pianistin war und am Konservatorium in Wien lehrte, verheiratet. Tante Sofie war Jüdin, aber seine erste Frau war keine Jüdin. Sie hatten einen Sohn Friedrich, der 1910 geboren wurde. Mit seiner zweiten Frau, der Tante Sofie, hatte er eine Tochter Eva, die 1924 geboren wurde. Onkel Emanuel war auch Kommunist, aber er war auch ein Funktionär in der Israelitischen Kultusgemeinde. Meine Cousine Eva entkam rechtzeitig dem Holocaust mit einem Kindertransport 1 nach England. Sie lebt heute in London, hat mit ihrem ersten Mann Cyril Erik Williams, der 1909 in Kalkutta geboren wurde, zwei Töchter, Rebekka Williams, die mit Aharon Avner aus Tel Aviv verheiratet ist und Ruth Alexandra Williams, die ledig ist. Alle leben in London. Eva war nach dem Tod ihres ersten Mannes noch einmal verheiratet, aber auch ihr zweiter Mann Giogio lebt nicht mehr. Friedrich, heute Frederik Ludwig Kolm lebt mit seinen Söhnen Claude und Cary Kolm in den USA, in Los Angeles. Onkel Emanuel und Tante Sofie überlebten den Holocaust in einem KZ, ich weiß aber nicht in welchem. Onkel Emanuel starb am 9. November 1951 in Wien und Tante Sofie am 3. November 1986 im jüdischen Altersheim in Wien. Sie wurde 100 Jahre alt.

Onkel Theodor Kohn war mit Tante Gisela verheiratet. Tante Gisela war keine Jüdin. Onkel Theodor starb bereits im Februar 1924. Sie hatten drei Kinder, Gretl, Lotte und Ludwig. Alle überlebten den Holocaust. Nach dem Krieg hatte ich noch kurzfristig Kontakt zu Gretl, die mit einem Albert, Bertl, verheiratet war. Ich erfuhr, dass Lottes Mann Gießer in einer Fabrik in Atzgersdorf war und dass Ludwig Kriminalist war. Dann riss der Kontakt ab, und ich weiß nicht einmal, ob es Nachkommen gibt.

Tante Adele, die komischerweise nur Ida genannt wurde, war mit Hieronymus Herzog, einem Bahnhofsvorsteher, verheiratet. Sie wohnte im 14. Bezirk, in Hietzing, und war schon in jungen Jahren Witwe. Sie lebte von der Witwenpension. Einmal in der Woche, bis zu ihrem Tod, besuchte sie uns in Döbling. Sie gab mir dann oft Unterricht in französischer Sprache. Selber kinderlos, liebte sie uns Kinder sehr. Sie starb im April 1932 an einer Vergiftung, mehr weiß ich nicht.

Tante Rosa Kohn war mit Josef Somlo verheiratet. Rosa und ihr Mann hatten zwei Töchter, eine wurde Häschen genannt, mehr weiß ich nicht. Ich habe die Tante Rosa ein einziges Mal gesehen, den Onkel Josef sah ich nie. Die Tante Rosa war sehr reich. Ich kann mich erinnern, dass sie nach Wien kam, meiner Schwester eine goldene Halskette mitbrachte, und mir gab sie zehn Schilling. Oh, das war viel Geld, ein Lehrjunge bekam drei Schillinge in der Woche. Ich weiß gar nicht mehr, was ich mit dem Geld gemacht habe. Ich wusste, dass Josef Somlo ein Filmproduzent in Berlin war, aber mehr wusste ich nicht. Jetzt weiß ich, dass Josef Somlo ein sehr erfolgreicher Filmproduzent in Berlin war. Hermann Fellsner und Josef Somlo gehörte die Produktionsgesellschaft' Felsom-Film GmbH Fellner & Somlo, Berlin'. Es entstanden unter anderem im Jahre 1931 die Spielfilme 'Drei Tage Liebe' mit Hans Albers und Käthe Dorsch in den Hauptrollen und 1932 'Mädchen zum Heiraten' mit Wolf-Albach Retty. Nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland im Jahre 1933, emigrierten sie nach England. Bereits ab 1939 produzierte mein Onkel in Großbritannien wieder Filme. Ich habe aber nie wieder von Tante Rosa und Onkel Josef und ihren Töchtern gehört.

Tante Teresa war mit dem Filmproduzenten Albert Heymsen verheiratet. Auch sie lebten in Berlin, hatten aber keine Kinder. Ich hatte geglaubt der Onkel Somlo und der Onkel Heymsen wären Kompagnons gewesen, aber ich weiß das nicht. Auch sie emigrierten nach England. Nach dem Krieg hatte ich noch Kontakt mit meiner Tante Teresa. Sie hatte ihren Unmut vor dem Krieg Ausdruck gegeben, dass ich in Hirschbach als Jugendlicher eine nichtjüdische Freundin hatte, und als ich meine Frau heiratete, schrieb sie mir in einem Brief: 'Mit großen Freuden höre ich, dass du eine Jüdin geheiratet hast.' Leider weiß ich überhaupt nicht, was aus meiner Tante und ihrem Mann wurde.

Mein Vater Alfred Kohn wurde am 19. September 1886 in Wien geboren.

Der Großvater mütterlicherseits hieß Theodor Augusta. Er war nicht jüdisch. Der Großvater war Theatermaler in Wien. Der Vater meiner Großmutter Sofie liegt auf dem jüdischen Friedhof in Zwettl begraben. Meine Großmutter Sofie Augusta, geborene Herlinger, wurde im Waldviertel, in der Nähe von Zwettl bei Gmünd, eventuell in Hirschbach geboren, wo ihre Familie ein kleines Geschäft besaß. Als meine Großeltern heirateten, hatte meine Großmutter bereits einen Sohn, der Robert Herlinger hieß und am 16. Mai 1894 in Wien nicht ehelich geboren war.

Die Großeltern lebten im 18. Bezirk in einer Zweizimmerwohnung. Meine Großmutter bekam noch zwei Kinder, meine Mutter Franziska Kohn, geborene Augusta, geboren am 12. November 1898 und ihren Bruder Friedrich Augusta, geboren am 21. Juni 1900. Bereits im Jahre 1905 oder 1906 starb mein Großvater Theodor an einer Vergiftung. Es hieß, er habe oft an seinem Pinsel geleckt und starb durch eine giftige Farbe.

Meine Großmutter war sehr wichtig für mich, ich habe sie sehr geliebt. Da der Großvater so früh gestorben ist, war es schwer für die Großmutter, ihre Kinder aufzuziehen. Sie lebten in ziemlicher Armut. Die Großmutter lebte immer in ihrer kleinen Wohnung zusammen mit ihren Söhnen und der Ehefrau ihres Sohnes Fritz, die Frida hieß. In dem großen Zimmer wohnten Fritz und Frida, in dem ganz kleinen Zimmer wohnte sie mit ihrem Sohn Robert, der nicht verheiratet war, und ich glaube, eine zeitlang als Heizer in einem Hotel arbeitete.

Frida war eine fromme Jüdin, und es war das einzige Mal, dass ich eine jüdische Hochzeit erlebte. Als sie heirateten war ich vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt. Die Hochzeit fand im Währinger Tempel statt. Ich kann mich schon nicht mehr erinnern, ich weiß nur, der Oberrabbiner Dr. David Feuchtwang traute sie. Tante Fritzi wurde sie genannt und weil ihre ganze Familie fromm war, brachte mein Onkel eine Mesusa 2 an der Wohnungstür an.

Meine Großmutter war eine sehr fleißige Frau. Sie arbeitete in der Garderobe im Konzerthaus, wo jetzt meine jüngere Enkelin und mein Enkel arbeiten. Sie verdienen sich dort ihr Taschengeld, aber für die Großmutter war das damals der Hauptverdienst. Onkel Friedrich war Verkäufer in einem Stoffgeschäft irgendwo am Stephansplatz. Ich glaube drei, vier Jahre bevor die Faschisten kamen, wurde er, wegen dem Konkurs seines Unternehmers, arbeitslos. Onkel Friedrich wurde nach dem Einmarsch der Deutschen zum Arbeitsdienst kommandiert und am 20. Oktober 1939 von Wien nach Nisko 3 deportiert. In Nisko musste er, um nicht von den Deutschen erschossen zu werden, in einen Wald nach Russland fliehen. Seine Frau Frida wurde am 6. Mai 1942 von Wien nach Maly Trostinec 4 deportiert und ermordet. Onkel Robert Augusta wurde am 23. November 1941, zusammen mit meiner Großmutter Sofie, ihrer Schwester Julie Schulz, meiner Mutter, meinem Vater, meiner damals 16jährigen Schwester Hildegard und meinem damals erst sechsjährigen kleinen Bruder Erich von Wien nach Kowno 5 deportiert und alle wurden in Kowno am 29. November ermordet.

Wie und wo sich meine Eltern kennerlernten, weiß ich nicht. Da ich am 18. September 1920 geboren wurde, nehme ich an, dass meine Eltern 1919 heirateten. Ob meine Eltern im Tempel heirateten, weiß ich nicht.

Meine Kindheit

Meine Mutter hatte an einer Fachschule Näherin gelernt, arbeitete zu Hause als Näherin und kümmerte sich um den Haushalt. Solange die Großmutter Kohn lebte, half sie ihr dabei und sie kümmerte sich um mich. In einen Kindergarten bin ich nie gegangen. Jedes Jahr im Sommer fuhr ich für drei Monate zusammen mit meiner Großmutter Sofie nach Hirschbach ins Waldviertel. Für einen Monat kam auch meine Mutter hinaus, die andere Zeit musste sie sich um den Haushalt kümmern, weil mein Vater sie brauchte. Er arbeitete in der Schlosserei, und sie hat gekocht und die Wäsche gewaschen. Jedes Jahr kam mein Vater für zwei Tage nach Hirschbach. Dann ging er sehr viel spazieren, ruhte sich aus und ich habe wenig von ihm gesehen.

Die Großmutter hatte in Hirschbach eine alte Freundin, das war die Frau Pscheid. Bei dieser Frau Pscheid wohnten wir während der Ferien. Im Haus gab es kein elektrisches Licht, da gab es nur Petroleumlampen. Ich besitze eine Petroleumlampe, die ist hundert Jahre alt und ein Andenken an meine Großmutter. Die hat mir die Enkelin von Frau Pscheid gebracht. Als ich in die Schule kam, bat meine Mutter jedes Mal den Direktor meiner Schule, mich einige Zeit vom Unterricht freizustellen, weil die Ferien keine drei Monate lang waren, und nie hatte er etwas dagegen. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil ich nicht so schlecht lernte, also etwas besser als andere Kinder.

Ich war an den kleinen Ort in Hirschbach sehr gebunden. Dort lebten 700 Einwohner. Die meisten waren arme Bauern. Die mussten schwer arbeiten, reden konnte man mit denen nicht, dafür hatten sie keine Zeit. Die Kinder mussten den Eltern helfen, das war ein hartes Leben. Pferde besaßen vielleicht drei, vier Bauern. Die Wagen wurden von den Kühen gezogen und wenn ein Bauer ein Pferd besaß, galt er dort als wohlhabend. Einem Baron von Fischer gehörte ein Wald und eigentlich durfte man da nicht hinein, aber dort gab es wunderbare Schwammerln. Natürlich trauten sich viele nicht hinein, aber wir Jungens habe immer die Schwammerln gestohlen. Ich war mit den Jungen sehr befreundet und ging sogar oft mit ihnen in die Kirche. Die Jungens gingen alle in der Früh in die Kirche, und ich wollte nicht allein bleiben. Einmal, ich war ein ganz kleiner Knirps, schlief ich in der letzten Reihe ein und fiel schlafend aus der Bank. Da begann ich natürlich schrecklich an zu schreien und das während der Messe. Man rief meine Großmutter, und sie trug mich hinaus.

Meine Schwester Hildegard war fünf Jahre jünger als ich. Sie wurde am 9. April 1925 in Wien geboren.

Unsere Wohnung bestand aus zwei Zimmern und einem großen Vorzimmer. In einem Zimmer wohnten meine Mutter, mein Vater und ich und ab der Geburt meiner Schwester, auch meine Schwester. Im anderen Zimmer wohnte bis zu seinem Tod der Großvater. Das Waschbecken und die Wasserleitung waren am Gang, wo sich die Nachbarn trafen und tratschten. Die Toilette war in der Wohnung, aber es war kein WC. Manches Mal, was nicht angenehm war, je nach Wetter, roch es nicht gut in der Wohnung. Der Staub aus den Decken wurde auf die Gasse geklopft.

Ich will nicht sagen, dass ich ein ausgezeichneter Schüler war. Mathematik und Physik hatte ich nicht gern, aber in den Gegenständen Geografie, Geschichte und Biologie war ich immer ausgezeichnet, das hat mir gefallen. Aber in den Gegenständen, die mir nicht gefielen, war ich zufrieden, wenn ich einen Zweier oder Dreier bekam. Der Deutschunterreicht gefiel mir auch sehr gut. Ich kann noch immer ohne Fehler schreiben, genauso gut, wie in der russischen Sprache.

Wenn der Pfarrer den Religionsunterricht für die katholischen Kinder abhielt, in meiner Klasse waren wir drei jüdische Kinder und zwei protestantische Kinder, gingen wir fünf während des Unterrichts spazieren. Einmal hatte ich eine vielleicht nicht so gute Idee. Aber ich wollte nur einen Scherz machen. Ich wusste, dass die Mädchen dem Pfarrer immer nach dem Unterricht die Tür aufmachen und sich, während er das Klassenzimmer verlässt, vor ihm verbeugen. Also hielt ich die Tür von außen zu. Und als man von innen an der Tür riss, ließ ich los. Die Tür ging auf und der Pfarrer saß auf dem Boden. Er war ein großer und etwas dicker Mann. Er stand auf, putzte sich ab und schaute mich mit wütenden Augen an. Dann lief er zum Direktor. Der Direktor kam zu mir und gab mir eine Einladung für meine Eltern. Mein Vater ging hin und als ich an dem Nachmittag nach Hause kam, hörte ich meinen Vater in der Küche lachen. Er erzählte die Geschichte meiner Mutter und lachte. Und mir fiel ein Stein vom Herzen, weil mein Vater sehr streng zu mir war, aber dieser grobe Scherz gefiel ihm.

Mein Schulfreund Konrad, mit dem ich viele Jahre in einer Bank saß, war der Sohn eines Kommunisten und Konrad war in der kommunistischen Jugendbewegung. Mein Vater war damals noch Sozialdemokrat und ich noch ein sozialdemokratischer Jugendlicher. Konrad lachte oft über uns: 'Ihr nennt's euch Rote, ihr seit doch keine Roten, wir sind Rote.'

Meine Mutter liebte ich sehr, sie war eine sehr liebe Frau und sie war eine gute Hausfrau. Überall wurde sie geachtet. Sie hatte zu vielen Leuten freundschaftliche Beziehungen. Meinen Vater sah ich selten. Er arbeitete tagsüber und kam abends müde nach Hause. Manches Mal gab er mir einen guten Klaps, wenn ich mich nicht richtig benahm. Aber es war sehr schwer für mich, mich richtig zu benehmen, oft habe ich etwas gesagt, was ich gar nicht wollte, und er hatte dafür überhaupt kein Verständnis. Mein Vater sprach nur von der Politik. Zuerst war er Sozialdemokrat, ein verbissener, und dann, nach dem Putsch im Februar 1934, wurde er Kommunist. Ich war zuerst ein illegaler jugendlicher Sozialdemokrat und dann ein illegaler kommunistischer Jugendlicher. Ich verteilte Zeitungen und nahm an Demonstrationen teil.

Meine Schwester Hildegard war ein Mädchen, deshalb war ich weit von ihr entfernt. Ich war noch zu jung, um zu verstehen, und ich ahnte nicht, wie wenig Zeit wir miteinander verbringen durften. Meine Schwester war ein eher ruhiges, nachdenkliches Kind. Beim Einmarsch der Deutschen im Jahre 1938 war sie dreizehn Jahre alt und erlebte in der Schule den offenen aggressiven Antisemitismus. Das war schrecklich für sie, und sie versuchte, alles für sich zu behalten und zog sich sehr in sich zurück. Als ich in die Schule ging, erlebte ich keinen Antisemitismus, und nach dem Einmarsch der Deutschen war meine Schulzeit bereits beendet.

Für Kultur fehlte in meiner Familie das Geld. Wir mussten mit der Wirtschaftskrise sehr schwer kämpfen. Für uns war Essen wichtiger als Kultur. Aber ich ging mit meiner Mutter ins Kino. Mein Vater hatte gern einen guten Wein, sogar meine Großmutter trank manchmal ein Gläschen Wein, aber das war alles. Klassische Musik oder Opern hörte ich nie in meiner Kindheit. Wir besaßen auch kein Radio, aber ein Grammophon mit Schallplatten. Der Vater hatte das Grammophon bei einem Lotto gewonnen. Jetzt habe ich großes Interesse an schönen Opern. Aber es gibt Opern, die mir nicht gefallen, zum Beispiel 'Eugen Onegin'. Es sind manche Sachen von Mozart, die mir nicht gefallen, die sind sehr langweilig, sogar die 'Zauberflöte' ist für mich nichts. Ich liebe italienische Opern und klassische Musik.

Mein Bruder Erich wurde am 18. März 1934 in Wien geboren. Er war ein Nachkömmling und wurde von allen geliebt. Er war ein sehr schöner kleiner Junge mit blonden Locken. Meine Mutter war so glücklich und mein Vater drohte uns sogar, dass wir ja immer gut auf ihn aufpassen sollten. Ich war ja schon 15 Jahre alt, als er geboren wurde, aber sonntags, wenn ich frei hatte, ging ich gern mit ihm und meiner Schwester in den Park. Die Leute blieben stehen und schauten ihn an, weil er so ein schöner und lieber Junge war. Ich kann nicht verstehen, dass man so ein Kind umgebracht hat, nur weil er Jude war. Ich kann und will mir seine letzten Minuten nicht vorstellen. Ich kann bis heute nicht verstehen, dass man meine Eltern und meine Geschwister erschossen hat. Mein Vater war immer so ein Optimist. Er glaubte, wenn Hitler kommt wird das Leben für die Juden schwer werden. Wir lasen auch über die Judenverfolgung in Deutschland, aber auch wenn mein Vater kein Optimist gewesen wäre, wo sollten wir denn hin? Niemand wollte uns und wir waren arme Leute.

Ich muss sagen, dass ein Großteil meiner Familie, so auch meine Eltern, überhaupt nicht religiös war. Ich ging nur innerhalb des Religionsunterrichts in den Tempel; wir hatten ja jede Woche einmal zwei Stunden Unterricht. Deswegen war ich im Tempel jede Woche, aber im Gottesdienst war ich niemals. Es hat mich auch nicht interessiert, ich wurde eben nicht religiös erzogen.

Meine Großeltern wurden am Döblinger Friedhof begraben, und ich hörte von Theodor Herzl 6 und ich war an seinem Grab. Ich wunderte mich, warum man Steine auf seinen Grabstein legt. Und ich sah Juden dort, orthodoxe Juden. Damals hörte ich, dass es einen Zionismus gibt und dass irgendwo die Juden richtig zusammen in einem Land leben und einen eigenen Staat gründen sollten. Mir gefiel diese Idee gut. Das war noch vor 1938. Später erführ ich, dass Herzl nach Israel überführt worden war.

Nach der Schule machte ich eine Schlosserlehre bei meinem Vater, aber einmal in der Woche musste ich in eine Berufsschule um Stenografie, Korrespondenzen und Buchhaltung zu lernen. Anfangs beschäftigte mein Vater drei Arbeiter, dann zwei und dann arbeiteten nur mehr wir zwei in der Schlosserei. Es ging den Menschen wirtschaftlich sehr schlecht, und sie hofften, der Hitler würde ihnen Arbeit geben, wie er es versprach; Arbeit und Brot bringen. Besonders die Arbeiter hofften auf den Hitler.

Ich hatte nur einen jüdischen Freund, der hieß Paul Operer. Er wohnte auch in Döbling, und er war der Sohn des Besitzers eines kleinen Kaffeehauses. Seine Mutter kam aus Polen, der Vater war ein Wiener. Die Familie war ganz komisch. Sie waren Nudisten und liefen mit dem Paul immer nackt in der Lobau herum. Paul zeigte mir Fotografien, da waren sie nackt zu sehen. Na gut, jeder spinnt eben ein bisschen, die waren Nudisten und mein Vater und zwei seiner Brüder waren Kommunisten. Pauls Familie bereitete sich rechtzeitig darauf vor, nach Amerika zu fliehen, und sie lernten Englisch. Daran kann ich mich noch erinnern. Ich habe keine Ahnung, was aus Paul wurde.

Während des Krieges

Nach dem Einmarsch wurden die Juden aus ihren Geschäften geworfen, und man nahm ihnen alles weg. Auf einmal gab es Wohnungen und Arbeitsplätze für die Nichtjuden. In Österreich waren damals ungefähr 200 000 Juden. Und fast alles wurde geraubt, die Geschäfte wurden geplündert und Juden wurden zum Freiwild erklärt.

Ein blinder Nazi warf uns aus unserer Wohnung. Er lebte bei uns als Untermieter, gab einen Bericht ab, und binnen drei Monaten mussten wir weg. Mein Vater hatte einen Ausweis, dass er Kriegsteilnehmer [1. Weltkrieg 1914- 1918] war, und er besaß einen Brief von einem Offizier, dem er das Leben während eines Gasangriffs der Italiener gerettet hatte. Deshalb durften wir noch drei Monate in unserer Wohnung bleiben. Dann fanden wir eine Wohnung in der Peter Jordan Straße Nummer 19, eine ehemalige Schneiderei, die sich im Keller befand. In dieser Wohnung wohnten dann meine Eltern, meine Geschwister und ich, meine Großmutter mit ihrer Schwester und mein Onkel Robert Herlinger, der aber nicht durchgängig zu Hause war, weil er zum Arbeitsdienst eingezogen war.

In der Pogromnacht 7, am 10. November, 1938 holten die SS Leute meinen Vater und mich aus unserer Wohnung. Wir wurden in die Wachstube der Polizei gebracht. In der Wachstube waren schon viele Juden versammelt. Von dort wurden wir in die Bauernfeldgasse zum Tempel geführt und dort bekamen wir Hacken und Stangen aus Eisen, und dann mussten wir alles demolieren. Es waren alte Juden, die sehr fromm waren dabei, die sehr weinten.

Nach einigen Tagen ließ man meinen Vater und mich nach Hause gehen. Die Lebensmittel waren knapp, die Wohnsituation sehr beengt und so beschloss ich, wodurch ich davon erfahren habe weiß ich nicht mehr, mich auf die Ausreise nach Palästina vorzubereiten und auf Hachschara 8 zu gehen.

Anfang März 1939 ging ich auf Hachschara nach Fischamend, aber nach ungefähr drei Monaten wurde die Gruppe unter Aufsicht der SS nach Niedersdorf gebracht. Ein SS Mann tat sich besonders hervor und beschimpfte uns während der Fahrt als Saujuden. In Niedersdorf mussten wir Zwangsarbeit leisten. Ich arbeitete auf dem Feld, schleppte Säcke mit 60 Kilo Getreide zu einer Mühle, lud Zuckerrüben am Bahnhof aus, denn im Ort war eine Zuckerfabrik. Die Arbeit war sehr schwer. Man hatte uns alle Papiere und alles Geld weggenommen. Eines Tages erfuhren wir durch die jüdische Gemeinde über eine in Polen entstehende jüdische Kolonie. Ich setzte mich mit meinem Vater in Verbindung und bat ihn um seine Zustimmung, am Entstehen der Jüdischen Kolonie mitzuarbeiten und er willigte ein.

Ich durfte nach Wien fahren, konnte mich von meiner Familie verabschieden, musste mich aber sofort, ich glaube, auf der Polizei melden. Ich war sehr hoffnungsvoll und sagte zu meinen Eltern: 'Wenn es mir gut geht, schreibe ich euch, dass es mir sehr gut geht. Wenn ich schreibe, dass es mir gut geht, heißt das, es geht mir schlecht.' Mein Vater bekam durch meinen Onkel Emanuel, der ja Funktionär bei der israelitischen Kultusgemeinde war die Erlaubnis, mich in Wien zum Bahnhof zu begleiten. Auch die Vorsteher der israelitischen Kultusgemeinde waren am Bahnhof. Von welchem Bahnhof wir losfuhren, weiß ich nicht mehr. Wir verabschiedeten uns voneinander, und das erste Mal in meinem Leben sah ich meinen Vater gefühlvoll, ich sah eine Träne.

Der Zug wurde von SS Männern mit Gewehren bewacht. Wir fuhren mehr als einen Tag. Wir durften nie unseren Waggon verlassen. Es war schon kalt, es war im Oktober 1939. Deutschland hatte Polen schon überfallen und der 2. Weltkrieg hatte begonnen.

Auf dem Gebiet im eroberten Polen ließen die Deutschen ein Lager bauen. Als wir ankamen, wurden wir vom Lagerleiter, der auf einem Pferd saß, angeschrieen: 'Maurer, Schlosser, Tischler, Spengler auf die linke Seite, Juristen, Ärzte, Musiker, Journalisten auf die rechten Seite. Nachdem wir unsere Positionen eingenommen hatten, sagte er zu den Intellektuellen: 'Wer sich in fünf Minuten noch in Schussweite befindet, wird erschossen.' Er begann zu zählen. Die Menschen ließen ihr Gepäck stehen, viele hatten ihre wertvollsten Dinge eingepackt und begannen zu laufen. Sie liefen zu dem nahe gelegenen Wald.

Wir, die Arbeiter, wurden ins Lager geführt. Es war noch nicht fertig, aber überall war Stacheldraht. Das Lager befand sich östlich von Nisko, am Fluss San. Die Stadt Nisko konnten wir nicht sehen. Wir schliefen in einer Scheune mit Heu. Es war kalt, und wir gruben uns tief ins Heu. Ich traf sogar Bekannte aus Wien, es waren die Brüder Kurt und Erich Stein aus dem 2. Bezirk. Ich war früher auch bei ihnen zu Hause, das waren sehr arme Kerle. Der Vater war Jude, der gestorben war, und die Mutter war Katholikin. Sie hatten sich auch freiwillig gemeldet, um nach Nisko zu fahren.

Am Morgen gab es für uns nicht einmal die Möglichkeit, uns zu waschen. Sofort begann die Arbeit. Das Bauen von Baracken fand unter Aufsicht von SS Männer statt. Sie schrieen und behandelten uns sehr schlecht. In der Früh wurden wir geweckt, standen in einer Reihe und bekamen einen schwarzen Feigenkaffee und schwarzes Brot, das war alles. Mittags gab es Suppe mit Brot. Einmal gab es sogar etwas Fleischiges, das waren Gedärme, aber für uns war das ein Feiertag.

Ursprünglich gab es über den Fluss eine Brücke, aber die war zerstört. Unsere Aufgabe bestand auch darin, ein Floss mit Kriegsmaterial für den Angriff auf die Sowjetunion, zum Beispiel kleine Panzerautos, die unter Decken lagerten, von einem Ufer zum anderen zu ziehen. Auf jeder Seite zogen 15 Gefangene das Floss hinüber und herüber. Das war sehr schwer. Die Gegend dort war schrecklich. Es gab fast überhaupt keine Wege. Wenn es regnete, konnte man nicht nur nicht mehr fahren, sondern auch nicht gehen.

Im Lager hatte uns ein Pole gesagt, es seien 75 km bis zur russischen Grenze. Eines Tages hatten wir am äußersten Rand des Lagers zu tun. Wir mussten Baumstämme schleppen, und ich und ein deutscher Kommunist nutzten die Gelegenheit, in den Wald hinein zu laufen. Zuerst war er mir verdächtig, aber dann gewöhnte ich mich an ihn, er war ein ganz guter Kerl. Es gab im Lager zwei Hunde und vor denen hatte ich große Angst. Das waren wahrscheinlich die schrecklichsten Minuten in meinem Leben. Wir liefen und liefen, was sehr schwer war, weil soviel Kot auf den Wegen lag, aber andererseits beruhigte es mich, denn durch den Kot konnten die Hunde uns nicht so leicht finden.

Es ging schon auf den Abend zu, und es wurde dunkel, das hat uns geholfen. Wir liefen in Richtung Sowjetunion, in den Teil, der vor 1918 Galizien war. Wir liefen und liefen und es wurde Nacht, und wir kamen in eine kleine finstere Stadt. Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten, da sahen wir einen Tempel. Ich dachte, wenn hier ein Tempel steht, wohnen daneben bestimmt Juden, die müsste man fragen. Wir klopften ganz leise. Und dann sahen wir durchs Fenster ein Petroleumlicht. Plötzlich hörten wir eine ängstliche Stimme, die fragte: Kto tam [Wer ist dort]? 'Machen Sie bitte auf, lassen Sie uns bitte herein.' Er sagte auf Jiddisch:

'Nein, nein, wer seint ihr?' Ich antwortete: 'Wir sind Juden aus dem Lager.' Er hatte Angst, er glaubte mir nicht, weil ich nicht jiddisch sprechen konnte, aber nach einiger Zeit öffnete er die Tür. Er war ein orthodoxer Jude mit einem Bart, und er stand zitternd mit der Petroleumlampe vor uns. Ich sagte zu ihm: 'Haben Sie keine Angst, wir sind Juden! Wir sind aus dem Lager geflohen.' Da es keine Lagerkleidung gegeben hatte, trugen wir unsere Zivilbekleidung. Er ließ uns herein, und ich erzählte ihm alles. Er hörte mir genau zu und verstand. Dann brachte er ein sehr großes Stück Brot und etwas Honig. Wir aßen mit großem Appetit. Er wollte wissen, was wir vorhätten, und ich sagte, wir wollten nach Russland. 'Hier ist Russland', sagte er. Es war das Gebiet Polens, das die Sowjetunion durch den Hitler-Stalin-Pakt 9 im Sommer 1939 erobert hatte.

In derselben Nacht brachte er uns zu einem Polen, der in der nächsten Nacht einen Juden mit seiner Mutter zur Grenze führen sollte. Die Mutter war schwerkrank, sie lag auf dem Pferdewagen, und er war ein großer Jude mit einer Kippa auf dem Kopf. Wir sprachen miteinander und er erzählte, dass ein ganzer Zug mit Deutschen in die Luft geflogen sei. Er sagte: 'Das ist Emes.' Ich verstand ihn nicht. Jetzt verstehe ich jiddisch und etwas hebräisch. Emes heißt: Es ist wahr, es ist wirklich wahr!

Am nächsten Tag, in der Früh, sagte der Pole, der Jude übersetzte für uns, dass nicht weit entfernt ein kleiner Bach sei und auf der anderen Seite des Baches schon das Territorium der Sowjetunion. Es war ein Wald, ein sehr dichter Wald mit Gebüsch. Wir gingen neben dem Pferdewagen. Der Pole bekam von dem Juden Geld, aber wir hatten kein Geld. Der Jude schleppte seine kranke Mutter, und wir verabschiedeten und trennten uns. Wir gingen und wollten einen Bach überqueren, auf einmal sahen wir auf einer Erhöhung russische Soldaten. Sie saßen auf Pferden, und einer hielt das Gewehr auf uns und sagte: 'Dawai iditje nasad!' Das waren die ersten russischen Wörter, die ich hörte. Das heißt: Schnell geht zurück! Wir verstanden: wenn wir weiter gehen, werden wir erschossen. Wir gingen zurück, was sollten wir machen? Als es dunkel wurde, wir hatten nichts zu essen und waren sehr hungrig, gingen wir wieder los. Schön langsam, schön langsam!

Wir trafen einen alten und einen jungen Mann, die trugen eine Hacke und eine Säge und wollten von uns Geld, damit sie uns über den Bach bringen. Wir hatten kein Geld, und sie ließen uns stehen. Nach ungefähr 20 Minuten begegneten wir zwei deutschen Soldaten. Die schrieen: 'Halt, wer da?' Wir blieben stehen. 'Wer seid ihr?' Ich sagte: 'Juden!' 'Woher kommt ihr?' Ich sagte nicht, dass wir aus dem Lager geflohen waren, sondern: 'Aus Wien!' Einer war Österreicher und fragte: 'Sag mal, ist Wien noch ganz?' 'Ja, Wien ist noch ganz' sagte ich, aber ich wusste ja gar nichts über Wien seit ich nicht mehr dort war. 'Meine Mutter wohnt nämlich in Wien. Wohin geht ihr?' 'Zum Nachbarn' antwortete ich. 'Also geht,' sagte er 'aber wenn ihr zurück kommt, werden wir auf euch schießen.' Wir gingen durch den Bach. Am Rand war hohes Schilf. Wir krochen durch das Schilf, kamen hinaus, kletterten die Böschung hinauf. Auf einmal sahen wir sechs Rotarmisten, die Patrouille mit dem Bajonett liefen. Wir warfen uns hin und warteten eine halbe Stunde. Wir waren ganz nass, und wir froren furchtbar. Als sie weg waren, liefen wir in den Wald.

Der Deutsche war mir sehr dankbar, gab mir die Hand und sagte: 'Ich gratuliere dir! Wir sind in Russland!' Wir kamen zu einem kleinen Dorf mit drei, vier Holzhütten. In den Hütten wohnten Menschen, die waren so furchtbar arm, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich sagte nur: 'Schlafen!' Einer brachte uns in eine Scheune mit Stroh und Heu. Unsere Sachen wurden nicht trocken, und wir zitterten die ganze Nacht. Am nächsten Tag bekamen wir Brot und Molke. Uns schmeckte das sehr gut, so hungrig waren wir. Dann gingen wir weiter. Die Sonne schien und wärmte uns ein bisschen.

Wir waren frei! Da kamen zwei Juden mit Gewehren. Sie trugen Hüte mit roten Bändern. Einer sagte uns in gebrochenem Deutsch: 'Seid herzlich Willkommen! Ihr seid in Sowjetrussland!' Aber er warnte uns auch vor den russischen Soldaten, weil wir illegal die Grenze passiert hatten. Wir kamen zu einem Markt, dort waren Ukrainer, Polen und Juden. Man kaufte und verkaufte. Wir halfen einer alten Jüdin Kartoffeln nach Hause bringen, die sie gekauft hatte, und sie lud uns zu Tee und Gebäck ein. Wir durften bei ihr übernachten. Sie hatte keine Angst vor uns, und wir waren ihr sehr dankbar. Am nächsten Tag gab sie uns Brot auf den Weg, und wir gingen mit anderen Leuten zusammen in eine Stadt, und fuhren mit dem völlig überfüllten Zug nach Lemberg.

Lemberg war die Zentralstelle für alle Flüchtlinge. Lemberg hatte ursprünglich 360 000 Einwohner, und als ich dort lebte, waren es 1 ½ Millionen. Wir kamen am Abend des 11. November 1939 in Lemberg an und setzten uns auf eine Bank. Leise und bedächtig fiel Schnee, es war sehr schön. Ein Milizionär führte uns in eine Schule, Menschen lagen auf der Erde und schliefen. Wir übernachteten dort und bekamen Läuse. Ungefähr zwei Monate schlief ich dort. Jede Woche wurden wir zur Entlausung geführt, aber das war sinnlos, solange wir dort schliefen. Außerdem zogen wir nach der Entlausung wieder unsere schmutzigen Sachen an.

Mein Onkel Friedrich Augusta, der Bruder meiner Mutter, wurde nach dem Einmarsch der Deutschen in Wien zum Arbeitsdienst eingezogen. Am 20. Oktober 1939, also noch vor mir, fuhr er nach Nisko, wovon ich aber nichts wusste. Er gehörte zu den Intellektuellen, die in den Wald getrieben wurden. Nachdem er sich nach Lemberg durchgeschlagen hatte, lebte er in einem Keller mit einem jüdischen Zahnarzt aus Wien, einem jüdischen Ingenieur aus Wien und einem jüdischen Jugendlichen aus dem Burgenland. Sie schliefen auf Strohsäcken. Es war ein sehr großer Zufall, dass wir uns in Lemberg begegneten.

Mein Onkel verkaufte chirurgische Geräte an Ärzte. Ich weiß nicht, wo er die her hatte, ich weiß auch nicht, ob er wusste, dass er das nicht durfte, denn die Sowjetregierung behauptete, für jeden Arbeit zu haben, und wer keine Arbeit hatte, bekam Schwierigkeiten. Aber eigenständiges Kaufen und Verkaufen war verboten. Als ich meinem Onkel begegnete, nahm er mich sofort mit zu sich in den Keller, und so war ich der Fünfte der dort Schlafenden. Er sagte mir, dass, falls ihm einmal etwas passieren würde, er ein klein wenig Geld gespart hätte, das liege in einem Etui zusammen mit seinem Stammbaum, der ihm nichts genutzt hatte. Nach einigen Monaten, die wir zusammen verbrachten, wurde er von der russischen Polizei verhaftet und mit ihm alle, die in dem Keller wohnten. Ich war nicht da, als mein Onkel und die anderen Bewohner des Kellers verhaftet wurden. Ich konnte noch das Etui mit dem Geld und dem Stammbaum retten, aber meinen Onkel sah ich nie wieder und niemand weiß, wie und wo sein Leben endete.

Ich hatte unbedingt arbeiten wollen und intensiv gesucht, aber eine Frau, die deutsch konnte, sagte zu mir, dass sie mir keine Arbeit geben dürfe, weil ich kein Sowjetbürger sei. Aber dann wollte sie wissen, was ich kann. Ich sagte, ich sei Schlosser. Sie hätten mich brauchen können, aber sie durften mich nicht nehmen. Ein Pole, ein Herr Finster, Pani Finster, wie er genannt wurde, nahm mich trotzdem. Er fuhr mit mir zu einem Pferdestall, in dem 24 Pferde standen. Auf Hachschara hatte ich mit Pferden gearbeitet, und nun war es meine Arbeit, die Pferde zu betreuen. Ich putzte jeden Tag 24 Pferde. Die Fuhrmänner waren sehr dankbar, sie konnten eine Stunde länger schlafen, und jeder brachte mir Essen, Kleidung oder Zigaretten. Sie waren mit mir zufrieden, ich putzte die Pferde und schmierte ihre Hufe. Nach der Verhaftung meines Onkels und der anderen Bewohner des Kellers, blieb ich im Stall und schlief im Futtertrog. Mit einem Pferd befreundete ich mich. Es war ein Wallach, der Nuri hieß und sehr zärtlich war. Ich sprach mit ihm deutsch, kratzte ihn, und er küsste mich auf die Ohren.

Natürlich musste ich mich vor der Geheimen Staatspolizei, dem NKWD, verstecken. Es gab Razzien auf den Strassen, sie fingen die Leute, und wer illegal in Lemberg lebte, kam ins Lager, und in den Lagern war es furchtbar. Die Menschen, die zum Beispiel aus Nisko verjagt wurden, wurden zum Teil von Räubern beraubt, die bereits im Wald auf sie warteten, und dann wurden sie in Lemberg von der russischen Polizei gefangen. Ich hatte gesehen, wie man die Juden fing, wie sie flohen in die Häuser, um sich zu verstecken und wie die Polizei die Häuser untersuchte und sie herausholte. Bei den Russen ging das schnell, die hatten auch keine Gefühle, so wie die Gestapo. Auf dem Bahnhof in Lemberg standen schon die Viehwaggons bereit, und so wie die Deutschen die Juden in die Vernichtungslager transportierten, transportierten die Russen die Juden in die Arbeitslager, in die Gulags 10. Überall litten die Juden!

Ich arbeitete drei Monate und schlief mit den Pferden im Stall, aber dann wurde ich Schmiedgehilfe. Der Schmied war ein Ukrainer. Er sprach perfekt jiddisch, weil seine Frau Jüdin war. Ich sprach mit ihm deutsch, er mit mir jiddisch. Er war mit meiner Arbeit sehr zufrieden. Ich bekam vom Schmied sogar ein kleines Gehalt, und ich war glücklich. Aber nach wie vor schlief ich im Pferdestall, weil auch in der Schmiede die Polizei auftauchte, um illegale Ausländer zu verhaften. Und dann kam ein Kunde, der sehr einflussreich war. Er war der Chef einer großen Firma, und damals bereits Besitzer einiger Autos. Er besaß auch Pferde, die er bei dem Schmied beschlagen ließ. Er sah mir beim arbeiten zu, sprach mit dem Schmied auf Russisch, und der Schmied forderte mich auf, mit dem Kunden zu fahren. Die Kutsche hielt vor dem Gebäude der Geheimen Staatspolizei. Der Chef der Firma hatte sehr gute Beziehungen zum höchsten Leiter des ganzen Gebietes, und ich bekam einen Zettel, der an Stelle eines Passes für mich ausgestellt wurde. Ich war frei und brauchte keine Angst mehr zu haben.

Ich blieb in Lemberg und bekam bald einen Pass mit meiner Fotografie. In dem Pass stand, dass ich in Wien geboren wurde und der Pass in Lemberg ausgestellt worden war. Nachdem ich das Papier hatte, bot ein Arbeiter mir einen Schlafplatz an. Der war ein Nachtwächter. Ich wohnte bei ihm und seiner Frau, gab ihnen Geld und wurde bekocht. Alles war wunderbar. Ich bekam ein besseres Gehalt, und ich konnte mir sogar einen Anzug und einen Hut kaufen. Ein normales Leben begann für mich, ich hatte eine Freundin und ging tanzen. Meine Freundin war ein polnisches Mädchen, die Fridja hieß. Sie war keine Jüdin. Ich fand das Leben dort sehr interessant, es war international und mir fehlte die jüdische Tradition nicht, weil ich nicht mit ihr aufgewachsen war, obwohl ich immer sagte, dass ich Jude bin, immer im Vorhinein. Damals sah ich gar nicht jüdisch aus, erst als ich schon über fünfzig Jahre alt war, veränderte sich mein Gesicht, und ich sah plötzlich sehr jüdisch aus. Insgesamt lebte ich 1 ½ Jahre in Lemberg.

An einem Sonntag hörten wir in der Nacht Panzer rollen. Die ganze Straße bebte. Ich hatte Samstagnacht das Mädchen nach Hause geführt und stand bis um zwei Uhr mit ihr am Tor. Dann ging ich nach Hause. Um vier Uhr weckte mich die Hausfrau und sagte: 'Entweder es ist ein Manöver oder es ist Krieg!'

Ich sah die Panzer und die Soldaten, ging aber trotzdem zur Arbeit. Der Schmied forderte mich auf, auf einem Lastwagen in die Stadtmitte zu fahren um zu erfahren, was los sei. Während der Fahrt sah ich auf einmal, wie der Himmel vor Flugzeugen dunkel wurde. Dann fielen die Bomben. Ich befand mich genau unter den Flugzeugen. Ich sah eine zerbombte Kirche und ein zerbombtes Postamt, nur noch die Hälften standen da. Plötzlich zitterte der Boden, und einige hundert Meter von mir entfernt war ein großes Loch. Ich hielt mir die Ohren zu bis ein Mann mir auf die Schulter klopfte und sagte, dass alles vorbei sei. Was ich sah, war furchtbar! Die Drahtseile der Straßenbahn hingen herunter, sehr viel war zerstört. Tote sah ich nicht. Als ich zurück auf meine Arbeitsstelle kam, wussten alle schon: Es ist Krieg! Diese Nacht ging ich nicht in mein Quartier. In der Früh hörte ich, dass die Deutschen schon in Lemberg sind.

Ein Ukrainer bot mir an, mit ihm und seiner Tochter zu fliehen. Ich hatte keine Zeit, irgendetwas mitzunehmen, ich floh so, wie ich war. Wir flohen mit einem Pferdefuhrwerk, auf einmal pfiffen Kugeln an uns vorbei. Ein Westukrainer, das waren furchtbare Leute, sie trugen Hüte mit Federn, schoss auf uns. Als unser Wagen kaputt ging, spannten wir die Pferde aus und spannten sie vor einen Wagen, der neben einem Haus stand.

Wir kamen zur früheren Grenze des ehemaligen Galizien nach Russland. Eine Wache sah in meinem Pass, dass ich Österreicher bin. Somit war ich ein feindlicher Ausländer, und sie ließen mich nicht durch die Grenze. Der Ukrainer und seine Tochter durften weiter fahren, ich blieb allein.

Zwei Nächte schlief ich bei einem Chassiden 11. Der hatte aber Angst mich wegen der russischen Behörden zu sich nach Hause zu nehmen, weil ich ein Flüchtling war. Ich schlief im Heustall, es war warm, denn es war Sommer. Als ich mich am nächsten Tag nach Brot anstellte, standen ungefähr hundert Leute vor mir. Drei russische Flugzeuge kamen geflogen, und ich sah deutlich das SSSR auf ihrem Rumpf geschrieben. Plötzlich begannen sie, das kleine Städtchen zu bombardieren. Das waren Deutsche, die die Flugzeuge erobert hatten. Als die erste Bombe herunter fiel, gab es einen Krach, und mehr als die Hälfte der Leute lief weg. Als die zweite Bombe fiel, liefen fast alle weg, aber ich ging ins Geschäft. Die Verkäufer waren auch weg, und ich nahm mir Brot. Als ich hinaus lief, fiel die dritte Bombe. Ich setzte mich auf eine Wiese und begann das Brot zu essen. Diese Nacht schlief ich in einem Tempel. Der Rabbiner sperrte mich und andere Flüchtlinge im Tempel ein, wir waren ungefähr zehn Leute. Ich verteilte mein Brot und aß selbst auch noch einmal.

Am nächsten Tag hörte ich, dass die Deutschen Lemberg eingenommen hatten und näher kamen. Natürlich hatte ich große Angst, was wird sein? Plötzlich öffneten die Russen die Grenze für alle Flüchtenden. An der Grenze verlor ich den Stammbaum von Onkel Fritz. Ich muss ihn aus Versehen heraus gezogen haben, und er fiel zu Boden. Als ich die Grenze bereits überquert hatte, kam plötzlich ein russischer Soldat auf einem Motorrad gefahren. Er zeigte mir den Stammbaum und fragte, ob ich ihn verloren hätte, aber auf dem Stammbaum waren Stempel mit Hakenkreuz und ich verneinte. Also war der Stammbaum für immer verloren.

Ich schloss mich einer Gruppe von flüchtenden Polen und Juden an. Auf jedem Bahnhof gab es kostenloses Essen. Das hatten die Russen sehr gut organisiert. Mit Emaillekübeln trug man gute russische Suppen und Brot zu den Zügen, und jeder durfte essen, soviel er wollte. Ich wusste nicht, wohin der Zug fuhr, aber es war egal, ich wollte weg, nur weg, weit weg von den Deutschen. Dann hieß es, es wäre gut nach Kuibyschew [heute Samara: Russland] an der Wolga zu fahren, dort gäbe es Arbeit. Einer sagte, man solle nicht nach Kuibyschew fahren, dort wäre es sehr kalt. Wir fuhren in Viehwagen, auf Plattformen der Züge, und mit Zügen, auf denen ganze Betriebe aus den Grenzgebieten vor den Deutschen gerettet wurden, zum Beispiel Stahlgießereien. Bevor die Deutschen das Land eroberten, wurden auch die Felder angezündet. Das Korn war schon reif, es wäre eine gute Ernte geworden. Die Deutschen wollten bis zum Ural. Darum mussten die wichtigen Werke evakuiert werden. Hinter dem Ural wurden die Werke wieder aufgebaut. Ich schlief zum Beispiel auf einer Drehbank oder in einer Kiste. Es war auch sehr kalt in den Nächten, ich besaß nur meine Sommerkleidung, die ich am Körper trug. Als wir in Kiew ankamen, es war noch warm, schlief ich im Park. Kiew wurde bombardiert und im Park fühlte ich mich am sichersten. Man sagte, im Park ist es sicherer, weil die Bombe in der Erde verschwindet. Die Bomber in der Luft zu sehen, war unheimlich.

Am nächsten Tag fuhren wir nach Donbass [Ukraine]. Ein deutscher Flieger beschoss den Zug mit einem Maschinengewehr. Der Zug blieb stecken und es gab Verwundete und Tote, darunter auch Kinder. Wir beerdigten die Toten und die Verwundeten verließen den Zug an der nächsten Station. Nach einigen Stationen hielten wir an einem Bahnhof und ich ging auf Wassersuche. Plötzlich gab es eine solche Explosion, dass mittags um 12 Uhr das Licht verschwand; man sah die Sonne nicht mehr. Von meinem Zug blieben nur Skelette übrig.

Zwei Kilometer weiter stand ein anderer Zug, und mit dem fuhren wir nach Astrachan [heute: Russland] an der Wolga. In Astrachan an der Wolga fand ich Arbeit als Gehilfe eines Schmiedes. Er war Georgier, ich war Österreicher. Wir arbeiteten gut zusammen. Das Schmieden ist eine internationale Sprache mit dem Hammer. Ich arbeitete dort knapp zwei Monate, dann kam ein Polizist, verhaftete mich und setzte mich in ein kleines Motorboot, in dem schon ein Wolgadeutscher 12 saß. Er hieß Friedrich, war aus Leningrad und sprach deutsch, richtiges Deutsch. Aber wir durften nicht deutsch miteinander reden. Das Motorboot brachte uns zu einem Hafen am Kaspischen Meer. Ich erfuhr, dass alle Deutschen aufgefordert worden waren, innerhalb weniger Tage die Wolgadeutsche Republik zu verlassen, die auch sofort aufgelöst wurde. Die Wolgadeutschen wurden nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Sie galten als nicht vertrauenswürdig.

Wir fuhren bis Kasachstan. Kasachen erwarteten uns mit Pferdewagen. Dann fuhren wir einige Tage, ich weiß nicht mehr wie viele, durch die Wüste. Ohne Ende ist das Russland! Irgendwann tauchten Jurten [zeltartige Behausung] auf. Wir wollten mit den Kasachen sprechen, aber die sprachen weder deutsch noch russisch. Dann fuhren wir in ein Hochland. Kasachstan war in etliche große Gebiete eingeteilt, und die großen Gebiete sind in kleine Gebiete eingeteilt, die sich autonom verwalteten. Die Leute dort waren fast alle Kasachen. Es gab nur einige Russen, aber viele Wolgadeutsche. Der Sekretär der Kommunistischen Partei war natürlich ein Russe. Der Chef der Polizei war ein Kasache, ein hoher, großer Kasache. Der lud mich gleich ein und wollte wissen, woher ich käme. Dann nahm er mir meinen Pass weg.

Es war Winter, und es war kalt. Ich war umgeben von ärmlichen Hütten, ich war sehr mager, hatte nicht genug zu essen und habe gefroren. Im Winter fiel das Thermometer dort auf Minus 50 Grad, ich befand mich neben der chinesischen Grenze. Ich bekam gleich Arbeit als Schlosser und wohnte bei einer Frau mit ihrem Sohn in einem Holzhaus. Der Mann der Frau war zur Armee eingezogen. Im Vorzimmer schliefen ein Ungar, ein deutsches Mädchen, die nur ein Auge hatte und ich, jeder in einer Ecke auf einem Strohsack. Vom Brunnen holte man das Wasser, es war gutes Wasser.

Dann zog ich zu einem Wolgadeutschen und seiner Familie. Essen gab es nicht, das musste ich mir selbst besorgen. Ich bekam jeden Tag ein halbes Kilo Brot, mehr nicht. Für die Arbeit bekamen wir ein wenig Geld, aber es gab kein Geschäft, wo man hätte etwas kaufen können. Vielleicht gab es doch ein Geschäft, aber ich konnte mir sowieso nichts leisten. Ich besaß nur zerfetzte Schuhe, aber man hatte mir Filzstiefel geschenkt. Alles was ich am Körper trug, war mir geschenkt worden.

Noch während des Winters rief man mich in die Armee. Da ich keine Papiere hatte, bekam ich Militärpapiere. Dort waren Russen und Koreaner, warum die dort waren, weiß ich nicht. Es wurde geschrieen: 'Stillgestanden!' Alle standen und ich hatte die Hände in den Taschen, es war kalt und ich besaß keine Handschuhe. Der Offizier schrie mich an: 'Kannst du nicht russisch?' Sagte ich: 'Nein!' Er schickte mich weg. Darüber war ich sehr glücklich. Zweimal insgesamt wurde ich einberufen und jedes Mal wieder weggeschickt. Acht Monate war ich in diesem Nest.

Es kam der lang ersehnte Frühling. Mir wurde warm, sogar ums Herz. Ich hatte mich mit einem Mädchen bekannt gemacht, einer Russin, und sie brachte mir manchmal etwas Hirse und manchmal etwas Fleisch. Im Sommer wurde ich das dritte Mal, zusammen mit etlichen Russen und vielen Deutsche einberufen. Sogar von der Arbeit wurden sie beurlaubt, um an die Front zu gehen. Und man wusste wieder nicht, was man mit mir machen sollte. Ich war kein Deutscher, also hätte ich mit den Russen an die Front gehen müssen. Aber ich war ein Ausländer. Man schickte mich hin und her, weil die Russen zu mir Ausländer kein Vertrauen hatten. Endlich blieb ich bei den Deutschen. Die Russen wurden mit Lastwagen zu dem Fluss Irtysch gefahren und wir 'Deutschen' gingen 30 Kilometer zu Fuß.

Spät abends kamen wir in Krasnojarsk [heute: Russland] an, wo wir etwas zu essen bekamen; Brot und Rübenmarmelade. Ich aß soviel ich konnte und trank heißes Wasser dazu. Danach mussten wir ein Schiff mit Hirse und Maissäcken beladen. Bekommen haben wir dafür nichts, obwohl man es uns versprochen hatte. Dann fuhren wir auf einem Schiff in eine Stadt, die Ust-Kamenogorsk [heute: Kasachstan] heißt. Wir mussten einen ganzen Monat Steine hacken und Steine tragen. Es wurde das Fundament einer Glasfabrik gebaut. Wir bekamen gutes Essen, sogar Fleisch, und wenn man etwas schwindelte, konnte man zweimal essen. Meine letzten, schon zerrissenen Schuhe gingen vollständig im Steinbruch kaputt. Wir verdienten ein bisschen Geld. Da ich vorher, in dem kasachischen Dorf, viele Zündholzschachteln gekauft hatte und Zündhölzer sehr begehrt waren, tauschte ich dort Zündhölzer gegen Wurst. Die Wurst bestand aus verschiedenen Innereien, aber das war völlig egal. Für eine Schachtel Zündhölzer bekam ich ein großes Stück Wurst. Das war sehr wichtig und half mir sehr.

Dann ging es mit dem Schiff weiter und wir kamen in die Stadt Semipalatinsk [Kaschstan]. Dort waren wir etliche Tage. Und dann kamen wir in die Hauptstadt vom Altai, und man sagte: Liebe Genossen! Einerseits braucht die Armee Soldaten, andererseits brauchen wir Kohlen, um Stahl für Kanonen zu gießen. Ihr werdet alle nach Karaganda gebracht. Da sind Kohlenbergwerke, und dort werdet ihr in den Kohlenbergwerken arbeiten. Es war eine Zwangsarbeit, wir sind nicht gefragt worden.

Es waren noch zwei Juden mit mir zusammen. Einer war aus Litauen, und woher der andere kam, weiß ich nicht. So kam ich in die Stadt Karaganda. Die ganze Stadt bestand aus Baracken und Hütten. Man schlug vier Pfosten ein, vernagelte sie mit dünnem Holz und verschmierte alles mit Lehm. Die erste Nacht schlief ich in einer Baracke, die ein Büro war, auf dem Bretterboden.

Den nächsten Tag führte man mich mit der Eisenbahn eine Station, und dort wurden wir bei Leuten zum Schlafen eingeteilt, was denen nicht sehr gefiel. Aber sie konnten nichts gegen die Macht der Partei machen. Aber dort blieb ich nur eine Nacht, weil mich die Wanzen zerbissen haben. Am nächsten Tag bin ich zur Kohlengrube gegangen, ich war froh darüber, weil ich endlich eine Arbeitsstelle haben wollte. Es gefiel mir in der Kohlengrube, ich war mager, aber stark.

Mein Problem war, dass ich keine Schlafstelle hatte. Nach der Arbeit bin ich in den Raum geklettert, in dem sich die Arbeiter in der Früh versammelten haben, um den Tag zu besprechen. Dort habe ich geschlafen. Ich nahm meine Brotration für den Tag und für den nächsten Tag mit, und am Morgen war mein Brot weg. Zwei Tage hatte ich nichts zu essen. Die russische Sprache konnte ich nicht, aber etwas kasachisch hatte ich bereits gelernt. Einen Monat quälte ich mich, schlief irgendwo. Dann bekam ich ein Bett in einer Baracke, wo bereits zehn Leute schliefen. Ich habe jeden Tag etwas von meiner Ration Brot verkauft, und das Geld für Schuhe gespart, denn mein eines Paar war zerfetzt. Pantoffeln mit Holzsohlen bekamen wir umsonst. Aber man konnte ja nicht gehen mit diesen Pantoffeln, das war furchtbar. In einem Monat hatte ich das Geld für die Schuhe zusammen.

Eines Tages kam ich in der Nacht nach Hause, ich hatte die zweite Schicht. Wir bekamen zweimal am Tag im Speiseraum das Essen, eine Suppe, manchmal auch Lebertran. Danach bin ich schlafen gegangen, und als ich aufgewacht bin, waren meine Schuhe weg. Ich wollte aber keinen Fehler machen, denn wenn ich nicht zur Arbeit gegangen wäre oder mich verspätet hätte, hätte ich 200 Gramm Brot weniger bekommen. So bin ich barfuss in zur Kohlengrube gegangen. Unser Leiter hat gesehen, dass ich barfuss war und hat mich mit einem Zettel zu seiner Frau geschickt, die mir ein paar Schuhe gab. Er war ein großartiger Mensch und ich hatte ihn sehr gern. Er war Russe, seine Frau war Jüdin. So arbeitete ich täglich im Bergbau, und dann kam das Ende des Krieges.

Ich lernte meine Frau Bella Tischler kennen. Sie war ein jüdisches Mädchen aus der Ukraine, aus dem Ort Kamenez Podolski. 1924 war sie in der Ukraine geboren. Ihre Familie war sehr arm und sie war nur fünf Jahr in eine jüdische Schule gegangen.

Ihre Mutter hieß Hannah, ihr Vater hieß Chaim Tischler. Der Vater besaß einen kleinen Laden. Dann aber wurde er krank und verlor den Laden. Die Mutter war hilflos, denn meine Frau hatte sechs Geschwister, drei Schwestern und vier Brüder. Die Schwestern meiner Frau hießen Sarah und Genia und die Brüder hießen Grischa, Josef, Menasche, und wie der vierte Bruder hieß, habe ich vergessen, der war der Jüngste. Ein kleines Stückchen Brot haben sie teilen müssen. Der Vater hat leere Flaschen gesammelt, damit er Brot kaufen konnte. Als während des Krieges die jungen Leute aufgerufen wurden Schützengräben zu graben und die Deutschen den Ort angegriffen hatten, lief sie davon. Sie kam bis nach Taschkent. Ihre Eltern und ihre Geschwister wurden von den Deutschen erschossen - neben der Stadt gibt es ein Massengrab. Die älteste Schwester Genia, verheiratete Pawlotskaja, überlebte den Krieg. Sie hatte vier Kinder, aber ihr jüngstes Kind starb vor Hunger in ihren Armen. Drei Kinder konnte sie retten: Nina, verheiratete Biermann, Dora, verheiratete Luzenko und Shenja, verheiratete Hopka leben in Israel. Genia starb in der Ukraine. 1959 war ich in der Ukraine, aber da, wo sich das Massengrab befindet, war ein Militärlager, und ich durfte nicht dorthin.

Nach dem Krieg

Als ich Anfang März 1946 in der Kohlengrube meinen Fuß verlor, kam Bella nach der Operation ins Krankenhaus, auch sie hat im Kohlenbergbau gearbeitet, denn auch Frauen mussten im Kohlenbergbau arbeiten. Sie sagte zu mir: 'Du brauchst dich nicht fürchten, wenn du aus dem Krankenhaus entlassen wirst, kommst du gleich zu mir.' Bella schlief in einem Durchgangszimmer, hatte dort ihr eigenes Bett, der Besitzer der Hütte war nett zu mir.

Meinen Pass, der mir in Lemberg ausgestellt worden war, hatte mir der Kasache, der Polizeikommissar in dem ersten Ort in Kasachstan, wo ich als Schlosser gearbeitet hatte, abgenommen. Als ich in der Kohlengrube arbeitete, las ich auf einmal einen Befehl: Wer keinen Pass hat, bringt zwei Fotos und drei Rubel und bekommt einen Pass. Da bin ich hingegangen, bezahlte drei Rubel, gab zwei Fotos und dann sagte man - das war dort so eine Ordnung - solange man arbeitet, bekomme man den Pass nicht in die Hand. Als ich den Fuß verlor, bekam ich meine Dokumente, auch den Pass. Aber der Pass war befristet, jedes halbe Jahr musste er verlängert werden. Solange ich gearbeitet hatte, hatte ich damit nichts zu tun. Aber nun musste ich mich selber darum kümmern, die Frist war schon abgelaufen. Ich bekam einen anderen Pass. Meine Freundin war schwanger, und ich wollte sie heiraten, aber ohne Pass ging das nicht. Am 18. September 1946 habe ich einen sowjetischen Pass bekommen, und sofort meine Freundin geheiratet.

An einen Rabbiner und eine jüdische Hochzeit war gar nicht zu denken. Ich hatte als Ausländer sowieso keine Rechte. Niemand gratulierte uns, nicht einmal die Frau, die uns traute, also uns als Ehepaar registrierte, denn mehr war das nicht. Das war eine Zeit, in der es viele Tränen in der Sowjetunion gab. 27 Millionen Sowjetbürger waren im 2. Weltkrieg ums Leben gekommen. Das ist so furchtbar, und es geht weit über unsere Vorstellungskraft hinaus. Wir hatten kein Geld, aber auch wenn wir Geld gehabt hätten, man hat kaum etwas kaufen können, weil es nichts gab. Wir bauten uns eine Hütte aus Lehm. Balken wurden in die Erde geschlagen, und die Balken wurden miteinander durch dünnes Holz verbunden. Sogar Nägel waren zu teuer. Dann wurde das alles mit Lehm verschmiert. In ein Loch, das wir in die Erde gegraben hatten, mussten wir mit den Füssen so lange trampeln, bis der Lehmboden weich wurde und man ihn verschmieren konnte. Wenn der Lehm dann getrocknet war, wurde die Hütte mit Kalk geweißt. Innen war ein Zimmer, das durch eine kleine Mauer abgeteilt wurde, damit wir auch eine Küche hatten.

Fenster und Türen bestellten wir bei einem Tischler. In der Küche wurde ein Kohleherd geheizt und so wurde die Hütte warm. Die Kohlen haben wir uns einfach genommen. Wir waren sehr arm, das Leben war sehr schwer. Alle hatten so wenig zu essen und ich glaube, die deutschen Kriegsgefangenen waren besser ernährt als wir.

Unsere Tochter Nina wurde 1947 geboren und unsere Tochter Rita wurde 1952 geboren. Nach der Geburt unserer zweiten Tochter schrieb ich nach Österreich: Ich bin österreichischer Staatsbürger, ich möchte nach Österreich zurückkehren! Bitte schicken Sie mir einen österreichischen Reisepass. Es dauerte nicht lange, und ich bekam aus Österreich meinen Pass. Mit meinem Pass ging ich zu den Behörden und sagte: 'Ich will nach Haus fahren!' 'Wohin?' 'Nach Österreich!' 'Du willst aber viel! Du hast doch einen Sowjetpass, also bist du ein sowjetischer Staatsbürger!' Sag ich: 'Nein, ich hab die sowjetische Staatsbürgerschaft nicht angenommen!' 'Aber du hast doch den Pass bekommen!' Ich bejahte. Daraufhin nahmen sie mir meinen russischen Pass weg, nach Österreich ließen sie mich nicht fahren, und ich war wieder Ausländer. Jetzt musste ich jeden Monat stempeln gehen und durfte die Stadt nicht verlassen.

Nach Karaganda sind nur Leute auf Befehl Stalins gekommen: Deutsche, Tschetschenen, Inguschen, die fast so wie die Tschetschenen sind, viele Tscherkessen usw. Stalin hatte Angst vor denen, sie waren Feinde der Russen und wollten Souveränität, eigene Republiken. Hitler ließ Flugblätter abwerfen, darauf wurde ihnen ihre Souveränität versprochen. Die meisten dieser Leute kamen durch Stalin in die Lager, in die Gulags, wo sehr viele umgekommen sind. Aber auch Verbrecher, die gesessen hatten, kamen nach Karaganda in die Verbannung. Mein Nachbar konnte ohne weiteres ein Ukrainer sein, der während des Krieges Juden erschlagen hatte. Aber auch viele Intellektuelle, Professoren und Wissenschaftler, die Stalin als Gegner seiner Macht verurteilt hatte, lebten dort; auch sie waren in die Verbannung nach Karaganda geschickt worden.

1952 kam es zum Ärzteprozess in Russland. Es wurden elf Ärzte verhaftet, alles Juden, denen vorgeworfen wurde, sie hätten Stalin ermorden wollen. Das war schlecht für die Juden. Man schrieb überall: 'Schlagt die Juden, rettet Russland!' Jidow, das ist auf ukrainisch Jude. Aber der Russe, wenn er 'Jid' sagt, ist das eine Kränkung, ein sehr ordinärer Ausdruck für den Juden. Meine Frau ging in ein Geschäft hinein und die Verkäuferin sagte: 'Was machst du denn hier, du willst Lebensmittel kaufen? Für dich Jüdin gibt es nichts.' Das passierte ihr mehrere Male. Die Juden erlebten viel Schlimmes in dieser Zeit. Aber der Sekretär der Partei trat auf und sagte: 'Wenn man ein Brot mit Schimmel hat, schneidet man den Schimmel heraus, aber wirft nicht das ganze Brot weg.' Er war ein Freund der Juden.

Stalin starb am 5. März 1953. Die Zeit unter Chruschtschow 13 hieß die 'Zeit der Erwärmung' in Russland. Er entließ alle politischen Gefangenen, weil er sagte, es gäbe in der Sowjetunion keine Feinde des Kommunismus mehr, jeder hätte eingesehen, dass der Kommunismus die beste Lebensform für die Menschen sei. Er rehabilitierte auch die jüdischen Ärzte, alle waren unschuldig. Der Direktor von unserem Kohlenbergwerk war Jude. Er lud daraufhin alle Schichtleiter ein und trank mit ihnen Wein, sonst nahm er nie einen Schluck Wein. Ich erinnere mich, manche Leute schämten sich, uns in die Augen zu schauen. Antisemitismus habe ich nur in der Zeit des Ärzteprozesses 14 erlebt.

Ich habe in der Kohlengrube gearbeitet, aber nicht mehr unter Tage. Ein anderer Offizier, der meinen Pass abstempelte, nach wie vor jeden Monat. Er war Russe und sagte eines Tages: 'Ich will Ihnen ehrlich sagen: Nach Österreich kommen Sie sowieso nicht. Man wird Sie nicht hinaus lassen. Ich rate Ihnen, nehmen Sie die sowjetische Staatsbürgerschaft an. Sie werden ein besseres Leben haben, sie werden eine bessere Arbeit bekommen. Jetzt bekommen Sie Groschen, aber wenn man Vertrauen zu Ihnen hat, werden Sie ein besseres Leben haben.' Das habe ich mit meiner Frau besprochen und sie hat gesagt: 'Weißt du, du bist hier vogelfrei, aber wenn du eine Staatsbürgerschaft bekommst, wirst du eine bessere Arbeit bekommen, und wir werden mehr Geld haben, und wir können etwas besser leben. Nach Österreich lassen sie dich sowieso nicht.' Einen Monat später habe ich meinen Antrag auf Staatsbürgerschaft eingereicht. Ich brauchte Bürgen, aber das war für mich kein Problem, ich kannte viele Menschen, und ich war sehr beliebt.

Jeden Monat gab es einen Zirkel, ein kleiner Kurs mit dem Sekretär der Parteiorganisation unserer Kohlengrube. Die Genossen der Partei wurden geschult. Viele waren nicht sehr gebildet, sie hatten nur vier oder fünf Jahre eine Schule besucht und wenn einer das Technikum beendet hatte, dann konnte er schon Direktor werden. Ich war kein Parteimitglied, aber ich besuchte diese Schulungen, denn ich wollte die russische Sprache hören und lernen. Russisch war ja die Hauptsprache, nur zu Hause sprachen die Kasachen kasachisch.

Ich ging zu den Kursen und dann wurde ich sogar ein Vortragender. Ich sprach über viele Dinge, über die internationale Lage, darüber warum Österreich neutral ist, und ich erzählte über Wien. Man wollte mich sogar in die Partei aufnehmen. Ich hatte russische Zeitungen, die 'Volksstimme', das war oder ist die kommunistische Tageszeitung aus Wien und die 'Berliner Zeitung' aus der DDR. Ohne Zeitungen kann ich nicht leben. Vom Parteisekretär bekam ich ein Empfehlungsschreiben und nach einem halben Jahr war ich russischer Staatsbürger. Ich habe daraufhin meinen österreichischen Pass nach Österreich zurückgeschickt und geschrieben: 'Leider kann ich den Pass nicht benützen, weil man mich nicht heraus lässt.' Das war im Jahre 1953. Jahrzehnte später half mir der Pass dann aber sehr.

Nachdem ich die sowjetische Staatsbürgerschaft erhalten hatte, sagte der Parteisekretär zu mir, er hätte eine andere Arbeit für mich, und ich wurde Leiter eines Kulturklubs. Im Kulturklub wurde getanzt, gesungen und politische Propaganda für den Kommunismus gemacht. Also habe ich auch viel lügen müssen. Aber unsere Kumpel aus dem Kohlengebiet kamen mit ihren Frauen zum Tanz, und das Leben dort war sehr hart, und im Kulturklub hatten sie ein wenig Abwechslung. Der Klub hieß 'Klub der Arbeiter' und ich habe diese Arbeit sehr gern gemacht. Ich hatte sehr guten Kontakt zu den Leuten, und sie fragten mich viele Dinge, weil ich klüger war. Ich organisierte eine gute Unterhaltung. Die Zeitungen schrieben über meine Arbeit im Klub, und ich wurde sehr gelobt. Nach Stalins Tod im Jahre 1953 durften wir sogar Tango und andere westlichen Tänze tanzen, was vorher verboten war. Niemand hat mich angegriffen, weil ich Jude bin. Alle haben es gewusst, weil ich es nie verschwiegen habe. Ein jüdisches Leben lebten wir aber nicht, das wäre gar nicht möglich gewesen.

Lange Zeit lebten wir unter Tschetschenen. Das sind wilde Leute. Man muss ihnen zeigen, dass man sie akzeptiert, und man darf nicht zeigen, dass man sie fürchtet. Feige Männer werden von ihnen verachtet. Ich habe gesehen, wie sie Hochzeiten feiern. Ich hab auch gesehen, wie einer auf den anderen mit einem Messer losgegangen ist. Die können den andern erstechen, wie man Schweine schlachtet. Wenn die in Wut sind, ist alles egal. Es sind Leute, die ihre Schwester erstechen, ihre frühere Frau erstechen, wenn sie glauben, einen Grund dafür zu haben. Ich habe viele solche Sachen gesehen.

Nachdem endlich unter Chruschtschow die Hütten, in denen wir sehr armselig hausen mussten abgerissen wurden und Häuser gebaut wurden, bekamen wir eine Zweizimmerwohnung.

Meine Frau war die ersten Jahre bei unseren zwei Töchtern. Nach fünf Jahren wurde ich zum Parteisekretär der Stadt geladen. Man lobte meine Arbeit, und ich wurde zum Leiter von 27 Lichtspieltheatern in 27 Orten ernannt. Ich wollte das nicht, aber ich musste die neue Arbeit annehmen. Bis zu meiner Pension blieb ich auf diesem Posten. Ich bekam einen Dienstwagen, einen Jeep mit Chauffeur, obwohl ich als Invalide 1959 ein Auto bekommen hatte. Der Chauffeur fuhr mich den ganzen Tag von einem Ort zum anderen, ich war ein 'großer Herr'. Also war ich nicht umsonst Bürger des Sowjetstaates geworden. Durch meine Position bekam auch meine Frau eine gute Arbeit in einem Lebensmittelgeschäft als Verkäuferin. Das war eine große Sache, weil wir nun alle Lebensmittel zu Hause hatten. Ich bekam jeden Tag Fleisch und was ich wollte: Tee, Kaffee - das hatten wir dann alles in unserem Keller. Das war ein gutes Leben. Als unsere ältere Tochter Nina ihren Mann Valeri Budzew heiratete, konnten wir ihnen schon helfen, weil ihr Mann noch studiert hat. Nina war schon Buchhalterin. Valeri beendete sein Mathematik - und Physikstudium und arbeitet heute in Israel als Physiker und Mathematiker. Unsere Tochter Rita beendete eine Hochschule, sie ist Diplomingenieur für Maschinenbau und ihr Mann Viktor ist Technologe. Meine Töchter haben je fünf Kinder.

Durch die österreichische kommunistische Tageszeitung 'Volksstimme' hatte ich zwei Briefmarkenfreunde in Österreich, einen in Wien und einen in Linz. Einmal fragte mich der Wiener Briefmarkenfreund, ob ich ihn besuchen will. Natürlich wollte ich ihn besuchen, und er schickte mir eine Einladung. Damit ging ich zu den Behörden und die sagten: 'Das gibt es gar nicht. Sie können nicht nach Österreich fahren.' Als Sowjetbürger konnte ich natürlich in der Sowjetunion herumreisen. Ich war sogar zweimal kostenlos in einen Kurort. Meine Frau und ich machten am Schwarzen Meer Urlaub, wir waren auf der Krim, aber wir durften nicht ins Ausland, nicht ins sozialistische und erst recht nicht ins kapitalistische Ausland. Ich schrieb meinem Briefmarkenfreund über die Absage. Daraufhin schrieb er dem damaligen österreichischen Bundespräsidenten Doktor Rudolf Kirchschläger. Zufällig kam Doktor Kirchschläger nach fünf Monaten nach Moskau zu Besuch. Auf einmal bekam ich Bescheid, ich soll mich noch einmal auf der Dienststelle melden. 'Was wollen Sie denn in Österreich machen', wurde ich gefragt. 'Ich will mich am Grab meiner Verwandten verbeugen. Ich will schauen, wie es in meiner alten Heimat aussieht, Österreich ist ein schönes Land', habe ich gesagt.

Ich musste dann ins Ministerium für Innere Angelegenheiten. Sie wollten wissen, wie meine Verwandten heißen, und ich schrieb alles auf. Nach einer Woche musste ich mit meiner Frau noch einmal ins Ministerium, und wir bekamen die Erlaubnis, nach Wien zu fahren. 'Hören Sie', sagte der Beamte, 'wenn Sie dort bleiben wollen, sagen Sie es gleich, dann muss ich andere Papiere ausfüllen.' Wenn ich das gesagt hätte, hätte er meine Papiere gleich zerrissen, aber ich wollte ja gar nicht in Österreich bleiben. Dann wollte er mir erklären, wie ich mich in Österreich zu benehmen habe. Ich sagte: 'Haben Sie keine Angst, ich weiß, wie man sich in Österreich benimmt.' 'Und noch etwas', sagte er, 'sagen Sie nichts Schlechtes über die Sowjetunion!' Das hatte ich sowieso nicht vor, denn ich hatte mich an das Leben bereits angepasst.

Meine Frau und ich mussten zuerst nach Moskau in die österreichische Botschaft. Aber niemand wollte uns sagen, wo sich in Moskau die österreichische Botschaft befand. Daraufhin übernachteten wir in einem Hotel, was nicht so einfach war, denn es war schwer in Moskau als Inländer ein Zimmer zu bekommen. Aber als ich sagte, ich fahr nach Österreich, und bin auch fast ein Österreicher, außerdem ein Invalide, bekamen wir ein Zimmer. Am nächsten Morgen rief ich im Ministerium für ausländische Angelegenheiten an und die sagten, sie könnten mir die Adresse der Botschaft nicht mitteilen. Meine Frau war sehr aufgeregt, aber dann hielten wir ein Taxi auf der Strasse an. Der Fahrer kannte die Adresse und fuhr mit uns zur Botschaft. Vor der Botschaft in einer Hütte stand ein Uniformierter.

Der österreichische Botschaftssekretär hat sich dann rührend um uns gekümmert. Er übergab uns die Papiere mit der Bitte, ihn nach unserem Fahrkartenkauf noch einmal zu kontaktieren, ob alles geklappt hätte. Das haben wir auch getan. Im Zug haben wir einen hohen Offizier kennen gelernt, der sich meine Lebensgeschichte anhörte, fast einen Liter Wodka getrunken hat, sehr fröhlich wurde und sagte: 'Hoffentlich werden euch diese Schweine in Österreich nicht beleidigen! Das sind Kapitalisten, da muss man vorsichtig sein.' Dann haben wir einige Botschaftsangehörige aus der russischen Botschaft in Wien kennen gelernt, die uns ihren Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen haben, weil sie glaubten, wir seien jüdische Dissidenten. Nachdem der hohe Offizier alles klärte, fuhren wir unbehelligt nach Wien.

Wien! Mein Herz schlug schneller. Im Jahre 1939 musste ich Wien verlassen, und nun war das Jahr 1984. Es war Weihnachten, überall waren Lichter. Am Bahnhof erwarteten uns mein Briefmarkenfreund mit seiner Frau, die Enkeltochter von Frau Pscheid, mit der ich in Hirschbach gespielt hatte, und ihr Mann. Noch auf dem Bahnhof gingen wir in ein Lokal und tranken ein bisschen Wein. Dann fuhren wir mit einem Taxi zu meinem noch unbekannten Wiener Briefmarkenfreund, wo wir die ersten Tage wohnten. Er war ursprünglich Kroate, hatte aber nach dem Krieg in Argentinien, Spanien, Italien und Uruguay gelebt. Ich weiß nicht genau, in welchem Jahr er nach Österreich kam.

Kaum waren wir angekommen, sagte er, er hätte für uns ein Treffen in einem Restaurant mit seinem Freund, dessen Frau gerade gestorben sei, arrangiert. Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Taxi zu diesem Restaurant. Der Freund hatte eine große Narbe im Gesicht und stechende Augen, aber er war sehr nett. Er zeigte mir ein Familien Fotoalbum und dann sagte er: 'Ich möchte eine Erinnerung an unser Treffen hier, ich möchte Ihre Unterschrift.' Das gefiel mir nicht und ich habe gefragt: 'Was heißt, meine Unterschrift?' Er wollte meine Unterschrift auf ein leeres Blatt Papier. Ich dachte, was ist denn das? Vielleicht ist es genau das, wovor mich die Mitarbeiter des Ministeriums zu Hause gewarnt hatten? 'Was soll ich schreiben? Ein kleines Gedichtchen', habe ich ihn gefragt. 'Nein, nein, nur die Unterschrift als Andenken', sagte er. Ich wusste nicht, wie ich aus dieser Sache herauskommen sollte. Ich konnte ja nicht einfach aufstehen und gehen. Also blieb ich sitzen, der Freund hat immer mehr getrunken und gab auch mir immer mehr zu trinken. Dann habe ich plötzlich gesagt: 'Mir ist schlecht. Ich hab ein schlechtes Herz und brauche meine Spritze, die liegt zu Hause in meinem Zimmer.' Meine Frau hat einen Schreck bekommen, aber ich habe ihr zugeflüstert, dass alles in Ordnung ist. Durch die Begegnung mit dem Herrn im Restaurant habe ich mich in Wien nicht mehr gut gefühlt. Ich war ängstlich und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.

Mein Briefmarkenfreund hat ständig mit mir über den Kommunismus diskutieren wollen. Das wollte ich nicht, denn manche Sachen waren doch im Sozialismus nicht so schlecht. Es stimmt, Stalin hat sein eigenes Volk umgebracht, der Hitler andere Völker. Aber darüber wollte ich nicht diskutieren, ich begann mich fremd zu fühlen und war verkrampft. Dann habe ich mit meinem anderen Briefmarkenfreund in Linz telefoniert. Er verstand sofort, dass es mir in Wien nicht sehr gut geht, und kam am nächsten Tag aus Linz nach Wien, um meine Frau und mich zu sich zu holen. Er war schon in Pension, hatte eine kleine, aber sehr schöne Wohnung und dort fühlten wir uns sehr wohl.

Dann besuchten wir Hirschbach im Waldviertel. Das ist der Ort, wo ich jedes Jahr im Sommer, in meiner Kindheit, drei Monate mit meiner Großmutter verbracht habe. Da habe ich meine alte Freundin wieder getroffen. Das war schön. Ich habe auch ihren Mann kennen gelernt, der war bei der Waffen SS. Ich habe auch ein bisschen über mein Leben erzählt. An einem Nachmittag kam viel Besuch, und der Freund der Tochter schimpfte ständig über die Kommunisten. Für mich war das nicht schön, ich hatte versprochen nichts Schlechtes zu sagen, und ich habe nichts Schlechtes über den Kommunismus gesagt. Ich wusste, dass viel nicht in Ordnung ist, aber ich habe nicht einmal über den Kommunismus geschimpft.

Ich traf meinen alten Freund, der während des Krieges Aufklärungsflieger im Norden der Sowjetunion war. Er hat mir erzählt, er hätte nie geschossen. Ich hab ihm gesagt: 'Weißt du, jeder der im Krieg war, hat nicht geschossen. Alle liefen nur mit ihren Fäusten hin und her, aber keiner hat geschossen! Er sagte: 'Ich sag dir ehrlich, ich hab nicht geschossen, und wir wussten an der Front auch nichts über die Gräueltaten der Nazis.' Ich kann das glauben oder ich kann es nicht glauben, aber sollte ich denen böse sein?

Sie kümmerten sich sehr lieb um uns und als ich später, wieder in Karaganda, im Krankenhaus lag, bekam ich ein Telegramm aus der Steiermark: 'Es tut uns leid, dass du im Krankenhaus bist, wir wünschen dir gute Besserung.' Als meine Frau starb, bekam ich 70 Euro für Blumen für ihr Grab.

Im Maimonides Heim, dem jüdischen Altersheim in Wien, im 19. Bezirk, lebte 1984 noch meine Tante Sofie, die Frau von meinem Onkel Emanuel, der schon 1951 in Wien gestorben war. Tante Sofie wurde 1985, es war Anfang 1985, als ich sie besuchte, 99 Jahre alt. Als wir uns nach 45 Jahren begegneten, umarmten wir uns und weinten. Sie konnte nicht verstehen, dass ich neben ihr stand. Ich habe dann einen Freund aus meiner Kinderzeit getroffen, der war immer gegen die Nazis. Er wurde Professor und ist Verfasser vieler wissenschaftlicher Werke. Dann hatte ich noch viele nette Begegnungen, und es ging mir dann so gut, dass ich bei der russischen Botschaft in Wien um eine Verlängerung unserer Visa bat, und sie auch bekam. Tante Sofie hoffte auf ein Wiedersehen zu ihrem 100. Geburtstag, aber man ließ mich nicht fahren und so sahen wir uns nicht wieder. Sie starb einige Monate nach ihrem 100. Geburtstag.

Ich wollte meine alte Wohnung noch einmal sehen und sie auch meiner Frau zu zeigen. Die Familie, die in meiner Wohnung wohnte, war sehr nett und sie erzählten, dass sie die Wohnung von einem blinden Mann gekauft hätten, also von unserem Ariseur. Ich wandte mich mit Briefen an den Bürgermeister mit der Bitte, mir die Wohnung zurück zu geben. Ich schrieb, ich will zurück nach Wien und die Wohnung hat man schließlich meiner Familie gestohlen, aber ich habe eine Absage bekommen. Wenigstens konnte ich meiner Frau zeigen, wo ich gewohnt hatte. Auf dem Döblinger Friedhof hatte ich Angst, ich würde das Grab meiner Familie nicht finden, weil ich schon viel vergessen hatte, aber ich fand es. In dem Grab liegen meine Großeltern Kohn, mein Onkel Hieronymus und meine Tante Adele Herzog und mein Onkel Emanuel Kolm. Alle liegen zusammen in einem Grab. 1986 kam auch Tante Sofie dazu, aber das wusste ich noch nicht.

Ich bekam viel Gastfreundschaft zu spüren, und ich war sehr dankbar, aber ich fühlte mich nicht wie zu Hause, ich war ein Fremder in Österreich geworden. Mein 'zu Hause' war in Karaganda. Da hatte ich meine Freunde, da lebten meine Töchter. Trotzdem dachte ich über eine Übersiedlung nach Österreich nach, obwohl ich das Gefühl hatte, nie aus der Sowjetunion herauszukommen.

In Karaganda musste ich vielen Leuten erzählen, was ich erlebt hatte. Direktoren von verschiedenen Werken, sogar ein Direktor von einer Bank wollten von mir wissen, wie es in Österreich war. Sie interessierten sich alle dafür, wie man im Ausland lebt. Ich habe ohne große Ausdrücke der Bewunderung erzählt, aber eines sagte ich: 'Das Telefon ist bei ihnen besser als bei uns.' Kurze Zeit nach meiner Rückkehr aus Österreich wurde ich vom Ministerium des Inneren eingeladen. Zwei vom KGB 15 wollten in meine 'Seele' sehen, so ungefähr drückten sie sich aus. Sie wollten über verschiedene Leute etwas erfahren, aber sie wussten sowieso alles. Mich hatte nämlich ein Nachbar ziemlich ausgefragt und denen alles erzählt. Dann haben sie mich um meine Hilfe gebeten. Ich sollte andere Menschen bespitzeln, über Unzufriedenheiten berichten. Und ich sollte von allen Briefen, die mir aus Österreich geschickt wurden, Übersetzungen ins Russische machen und ihnen geben. Also übersetzte ich alle Briefe.

Nach dem zehnten Brief sagten sie, ich soll sämtliche Originale bringen. Dann verglichen sie, ob ich die Briefe richtig übersetzt hatte. Unsere Nachbarn bekamen einen Abhörapparat. Wenn ich den Hörer meines Telefons abnahm, begann bei denen ein Tonband alles aufzunehmen. Es gibt ein russisches Sprichwort: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.

Die politische Situation in der Sowjetunion veränderte sich. Gorbatschow wurde im Oktober 1988 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet und wir durften wieder nach Österreich.

Wir bekamen wieder eine Einladung von meinem Briefmarkenfreund aus Wien. Wir haben wieder bei ihm gewohnt, und dieses Mal fuhren wir 14 Tage in die Steiermark und drei Tage nach Hirschbach. Meine Ansichten über den Sozialismus veränderten sich, ich war nicht mehr so ein Patriot wie vorher. Und als ich in Österreich auf Besuch war, konnte ich schon zugeben: Ja, die haben Recht, die haben auch Recht. Als wir zurückkamen, interessierte sich schon kaum noch jemand für unsere Erlebnisse in Österreich, und der KGB ließ mich auch in Ruhe. Dann fuhr ich noch einmal zusammen mit meinem Schwiegersohn nach Österreich. Meine Frau war krank, sie litt an Parkinson. Wien gefiel auch meinem Schwiegersohn sehr gut. Ich schrieb an den österreichischen Präsidenten, mit der Bitte, um Anerkennung meiner österreichischen Staatsbürgerschaft, aber das klappte nicht.

Das Leben wurde immer schwerer in Russland, ich wollte weg. Es gab nur eine offene Tür: Israel! Und so gingen wir nach Israel, aber ich wollte auch nach Israel. Zuerst allerdings fuhr meine ältere Tochter mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern. Einige Zeit danach, im Jahre 1993, fuhren meine Frau und ich nach Israel. Meine Tochter wohnte in der Hauptstadt des Golan, in Kazrin, und so zogen wir auch nach Kazrin. Kazrin ist eine schöne Stadt, und die reinste Stadt in Israel.

Israel hat uns sehr geholfen. Meine Frau und ich haben sofort eine Dreizimmerwohnung bekommen. Wir haben zu viert in Karaganda in einer kleinen Zweizimmerwohnung gelebt, Israel gab mir und meiner Frau eine große Dreizimmerwohnung mit einem sehr großen Vorzimmer. Als Pensionist brauchten wir nur ein zehntel des Mietpreises zu bezahlen. Wir bekamen eine kleine Pension, aber ich bekam auch eine Pension aus Österreich. Außerdem gab uns der Staat Israel zu Anfang Geld und viele Vergünstigungen.

Ich habe sehr schnell Bekanntschaften geschlossen, Juden unter Juden, das ist kein Problem. Man geht irgendwo hin, oder man sitzt auf einer Bank zusammen, und schon beginnen die Gespräche: 'Von wo sind Sie?' 'Aus Karaganda!' 'Oh, dort hab ich einen Verwandten, der wohnt da und da.' Ich hab jetzt noch Freunde in Israel, die ich anrufe. Es ging mir gut. Leider habe ich nie richtig hebräisch gelernt. Drei Monate lernte ich im Ulpan 16 hebräisch. Dann musste ich ins Krankenhaus und wurde operiert. Endlich konnte ich wieder aufstehen, und ich dachte daran weiter zu lernen, wurde ich auf einem Auge fast blind. Ich hatte einen grauen Star, den musste man heraus schneiden. Nach einem Monat konnte ich wieder gut sehen, da fing das andere Auge an. Ich musste noch einmal operiert werden. Dann war ich durch die Krankheit meiner Frau sehr belastet. Sie konnte nur noch mit dem Gehstuhl gehen, und ich musste ihr bei allem helfen. Aber wir bekamen vom Staat umsonst zwei Pflegerinnen. Das ist eine sehr große Sache, was die machen in Israel, das gefällt mir. Dann hatte ich eine Herzoperation, ich bekam zwei Bypässe und eine künstliche Herzklappe.

Einige sephardische Juden mochten uns russische Juden nicht. Die russischen Juden hatten gute Schulen absolviert und konnten in gute Berufe einsteigen. Dadurch hatten viele Angst, ihre Arbeit zu verlieren. In Russland nannte man uns Juden, in Israel waren wir die Russen. Aber in unserer kleinen Stadt war es sehr angenehm, die Hälfte der Einwohner waren russische Juden, dadurch hatte ich keine Sprachprobleme. Und wenn ich jiddisch hörte, verstand ich es auch und konnte mitreden. Wir waren auch einmal in einem Kibbuz, dort wurde nur deutsch gesprochen.

Nach einiger Zeit kamen auch meine jüngere Tochter mit ihrem Mann und ihren fünf Kinder nach Israel. Und weil mein Enkelsohn krank [Down Syndrom] ist, bekamen sie auch sofort eine sehr gute Wohnung. Er ging in eine Schule, lernte sogar reiten und durfte Tiere füttern.

Im Jahre 1995 kam der österreichische Bundeskanzler Franz Vranitzky nach Israel, gestand die Schuld Österreichs am Holocaust ein und wandte sich als erster Bundeskanzler Österreichs nach dem Holocaust an die österreichischen Juden. Jeder vertriebene frühere Staatsbürger Österreichs sollte den Anspruch auf die Staatsbürgerschaft Österreichs haben. Ich bekam einen großen Schein und reichte den Antrag in der österreichischen Botschaft in Tel Aviv ein. Mein Antrag wurde mit der Begründung abgelehnt, ich hätte eine russische Frau und russische Töchter.

Mein Enkel Sergej hatte in Israel zum zweiten Mal eine Universität absolviert und keine Hoffnung auf eine Arbeit. Er wollte mit seiner Schwester Olga und seiner Freundin zusammen nach Wien fahren und in Wien noch einmal eine Universität besuchen, das war im Jahre 2001. Das klappte und sie gingen nach Wien. Sie wohnten bei Frau Barbara Trimmel, einer Priesterin der evangelischen Kirche. Frau Trimmel half auch mir, als ich nach Wien kam. Meiner Frau ging es schlecht in Israel, sie vertrug die Hitze nicht, und mich zog Wien magisch an - es ist eben doch meine Heimat. Ich fuhr nach Wien und im Rathaus bestätigte ein Beamter mein Recht auf die österreichische Staatsbürgerschaft, weil ich ja nicht wirklich freiwillig eine andere Staatsbürgerschaft angenommen hatte.

Mein Enkelsohn Sergej bereitete alles vor, fand eine Wohnung für uns, denn auch meine jüngere Tochter, seine Mutter, mit ihrem Mann und den noch in Israel lebenden Kindern, Shenja und Andrej zogen nach Wien. Mein Enkel Alexander lebt in Chicago. Im Jahre 2002 übersiedelten wir nach Wien. Wir wohnen in einer Wohnung zu sechst am Rande Wiens, im 21. Bezirk, in Stammersdorf. So hatte ich mir das gewünscht, ich wollte in die Natur. Aber ich will doch in das jüdische Altersheim übersiedeln. Es ist schwer für die anderen, einen alten Mann im Rollstuhl zu betreuen. Jetzt bin ich ein oder zweimal in der Woche dort im Tagesheim.

Meine österreichische Staatsbürgerschaft bekam ich nicht sofort, aber ESRA 17 half mir dabei. Ich hatte Glück, man fand meinen Pass, den ich 1953 zurück geschickt hatte. Meine Frau wurde automatisch auch Staatsbürgerin, leider nur für drei Monate. Nach drei Monaten in Wien ist sie gestorben, und ich musste sie begraben.

Mein kranker Enkelsohn Shenja wird jeden Morgen mit dem Auto in Stammersdorf abgeholt und in eine betreute Werkstätte geführt. Er ist der Schlechteste dort, aber er führt sich sehr gut dort auf. Mein jüngster Enkel Andrej ist 16 Jahre alt und geht auf das Zwi Perez Chajes Gymnasium, das ist das jüdische Gymnasium.

Meine Enkeltochter Olga lernt schon das dritte Jahr Deutsch. Meine ältere Tochter Nina lebt mit ihrem Mann und den Kindern in Israel. Ihr Mann hat eine gute Arbeit, er ist ein großartiger Physiker und Mathematiker. Meine Enkeltochter Eva ist in Israel mit einem russischen Juden verheiratet. Alle beide arbeiten, sie hat die Universität beendet. Mein Enkelsohn Jakob promoviert in zwei Jahren. Er lebt in Tel Aviv und ist verheiratet. Meine Enkelin Margarita ist mit einem Musiker verheiratet. Seine Mutter Rina war im Ulpan meine Hebräischlehrerin. Sie leben jetzt in Amerika. Meine Enkeltochter Inga ist verheiratet und hat ein Kind. Ihr Mann Eli, ein sephardischer Jude, betreibt mit seinem Bruder zusammen ein Lebensmittelgeschäft in Kazrin. Inga spricht russisch, hebräisch, englisch, holländisch und fast deutsch. Mascha, die jüngste Enkeltochter, kam vor kurzem aus der israelischen Armee zurück. Sieben meiner Enkelkinder haben in Israel den Armeedienst absolviert. Mascha will zu ihrer Schwester Margarita nach Amerika fahren, weil sie keine Arbeit findet. Es ist eine schwere Zeit in Israel, besonders für die jungen Leute.

In Kazrin sah ich selten jemanden mit einer Kippa herumlaufen, weil die Leute entweder ihren Glauben verloren haben oder in Russland nie die Gelegenheit hatten, ihre Religion zu erlernen und auszuüben. Natürlich achte ich die gläubigen Juden, aber ich kann nicht gläubig sein. Ich lese die jüdischen Zeitungen 'Die Gemeinde' und 'David' von Anfang bis zum Ende. Da bleibt nichts übrig, alles lese ich, alles interessiert mich. Ich habe einen großen Nachholbedarf.

Wenn ich im Tagesheim des Maimonides Zentrum frühstücke oder Mittag esse, gibt es manchmal Diskussionen, weil ich ohne Kopfbedeckung bin. Einige Juden essen mit den Hüten, ich nicht. Sie gaben mir eine Kippa, aber ich lehne es aber ab, beim Essen eine Kippa zu tragen. Daraufhin wurde gesagt: 'Sie sind kein Jude!' Hab ich gesagt: 'Ich bin Jude - von den Sohlen angefangen bis zum Hinterkopf, bin ich ein reiner Jude. Aber ich bin nicht religiös. Mein Volk ist das jüdische Volk, und niemals hab ich mich davon abgewandt, und niemals werde ich mich davon abwenden.

Glossar

1 Kindertransport

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rief die britische Regierung eine Rettungsaktion ins Leben, um Kinder vor dem Nazi- Terror zu bewahren. Zehntausend größtenteils jüdische Kinder aus deutsch besetzten Gebieten wurden nach Großbritannien gebracht und von britischen Pflegeeltern aufgenommen.

2 Mesusa [hebr

Türpfosten]: Bezeichnung für eine kleine Schriftrolle mit Worten aus dem fünften Buch Mosis; wird in einer Kapsel am rechten Türpfosten eines jüdischen Hauses angebracht.

3 Nisko

Ort im Karpatenvorland. Im Rahmen der 'Umsiedlung nach dem Osten' gelangten Ende 1939 zwei Transporte mit 1.500 Wiener Juden nach Nisko. Nur 200 Männer gelangten in das Lager, die Mehrheit wurde über die deutsch-sowjetische Demarkationslinie gejagt. Nach dem Abbruch der Aktion wurden im April 1940 198 Männer nach Wien zurückgeschickt - viele von ihnen wurden mit späteren Transporten neuerlich deportiert.

4 Maly Trostinec

Konzentrationslager in der Nähe von Minsk. In Maly Trostinec wurden Zehntausende Juden aus Weißrußland und anderen europäischen Ländern umgebracht. Von 9.000 Juden aus Österreich, die zwischen Mai und Oktober 1942 nach Maly Trostinec gebracht wurden, überlebten 17.

5 Kowno

Am 23. November 1941 verließ ein Deportationstransport mit 1.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern den Wiener Aspangbahnhof. Dieser Transport kam jedoch nie am ursprünglich geplanten Bestimmungsort Riga an. Sofort nach der Ankunft in Kowno wurden die deportierten Wiener Juden erschossen. Von den Wiener Deportierten sind keine Überlebenden bekannt.

6 Herzl, Theodor [1860-1904]

jüdisch-österreichisch Schriftsteller, Publizist, Journalist und zionistischer Politiker. Als Korrespondent der Wiener Tageszeitung 'Neue Freie Presse' Zeuge des Prozesses gegen Alfred Dreyfuß schrieb er 1896 sein Buch 'Der Judenstaat', das wesentlich zur Gründung des Staates Israel beitrug. Herzl forcierte die Idee einer organisierten Emigration von Juden in einen eigenständigen Staat und initiierte den politischen Zionismus. 1897 auf dem 1. Zionistischen Weltkongress in Basel wurde Herzl zum Präsidenten der zionistischen Weltorganisation gewählt.

7 Pogromnacht

Zynischerweise als Kristallnacht bezeichnete Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Im Laufe dieser Nacht wurden 91 Juden ermordet, fast alle Synagogen sowie über 7000 jüdische Geschäfte im Deutschen Reich, wozu auch Österreich gehörte, zerstört und geplündert, Juden in ihren Wohnungen überfallen, gedemütigt, verhaftet und ermordet.

8 Hachschara (hebr

für Vorbereitung, Tauglichmachung) bezeichnete die gezielte und organisierte Vorbereitung von Juden auf die Einwanderung, die Besiedelung Palästinas. Im Regelfall fanden Hachscharakurse auf landwirtschaftlichen Gütern statt.

9 Hitler-Stalinpakt

Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der am 23. August 1939 in Moskau von dem deutschen Außenminister von Ribbentrop und dem sowjetischen Außenminister Molotow unterzeichnet wurde. In einem geheimen Zusatzprotokoll legten die Länder die Aufteilung Nordost- und Südeuropas fest, sofern es zu einer 'territorialen Umgestaltung' kommen sollte. Im Zentrum stand die Teilung Polens.

10 Gulag [russ

Hauptverwaltung der Lager] Behörde unter Stalin. In diesen Gefängnissen mit Arbeitspflicht waren politische Gegner, zumindest von denen er sich einbildete, sie seien politische Gegner, bestimmte soziale Gruppen und Angehörige von Minderheiten. Diese Gulags wurden für Millionen von Menschen errichtet.

11 Chassid [hebr

'der Fromme'; Pl. Chassidim]: Anhänger des Chassidismus, einer mystisch-religiösen jüdischen Bewegung, die im 18. Jahrhundert in Polen entstand. Neben dem Torastudium rücken im Chassidismus das persönliche oder gemeinschaftliche religiöse Erleben - in Gebet, Liedern und Tänzen - und die ekstatische Begeisterung ins Zentrum.

12 Wolgadeutsche

Durch Zarin Katharina II. im 18. Jh. an der unteren Wolga angesiedelte dt. Bauern, im Zweiten Weltkrieg nach Sibirien und Kasachstan verschleppt. Viele Wolgadeutsche sind nach dem Zerfall der UdSSR nach Deutschland ausgesiedelt, Pläne einer Rücksiedlung der verbliebenen Wolgadeutschen an die Wolga blieben bisher ergebnislos.

13 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch [1894 - 1971]

Ab September 1953 Erster Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU nimmt Chruschtschow den selbst vorangetriebenen Personenkult um Stalin und die von Stalin begangenen Verbrechen zum Anlass, eine grundlegende Wende in Politik und Wirtschaft zu vollziehen. 1958 wird er Regierungschef und vereint damit wieder das höchste Staats- und Parteiamt in einer Person. 1964 wird er seinen Ämtern enthoben.

14 Ärzteprozess

1953 wurde einer Gruppe von Ärzten vorgeworfen unter dem Einfluss der internationalen und jüdischen Organisation 'Joint' die sowjetischen Führer Schdanow und Schtscherbakow vergiftet zu haben. Die während der folgenden Wochen geführte Kampagne rief in russischen Zeitungen nach der gerechten ,Empörung des Volkes' und warnte vor den ,zionistischen Verbrechern' dieser ,Meute wildgewordener Hunde aus Tel Aviv`.

15 KGB (sowjetischer Geheimdienst)

Übernahm 1954 die Funktionen der GPU. Er sicherte die Herrschaft der KPdSU innerhalb der Sowjetunion, überwachte das wirtschaftliche und kulturelle Leben, besetzte zentrale Stellen des Partei - und Staatsapparates und auch diplomatische Vertretungen und war zuständig für die Spionage im Ausland.

16 Ulpan

Sprachschule in Israel, die Neueinwanderer unentgeltlich besuchen konnten.

17 ESRA

1994 gegründet, bemüht sich das psychosoziale Zentrum ESRA um die medizinische, therapeutische und sozialarbeiterische Versorgung von Opfern der Shoah und deren Angehörigen sowie um die Beratung und Betreuung von in Wien lebenden Juden; weiter bietet ESRA Integrationshilfen für jüdische Zuwanderer.
WebRep
 
currentVote
 
 
noRating
noWeight