Renate Jeschaunig

Renate Jeschaunig 
Wien 
Österreich 
Datum des Interviews:. Februar 2003 
Interviewerin Tanja: Eckstein 

Renate Jeschaunig ist am Telefon auf meine Bitte, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen, sofort bereit dazu. Einige Tage später sitze ich in ihrer Wohnung im 1. Bezirk.

Sie bereitet Kaffee, dann beginnt sie zu erzählen: über ihre Familie, ihre sorgenfreie, behütete Kindheit bis um Einmarsch der Deutschen im März 1938, als das alles zerstört wurde.

Mehr als ein Jahr nach dem Einmarsch der Deutschen lebt sie mit ihrer Familie in Wien und erlebt täglich die lebensbedrohliche Situation und die Demütigungen, denen die jüdische Bevölkerung ausgeliefert ist.

Sie ist 13 Jahre alt, ihr Bruder acht Jahre, als die Familie auseinandergerissen wird, um den Holocaust zu überleben. Sie überleben, aber die Wunden verheilen nie.

  • Meine Familiengeschichte

Die Eltern meines Großvaters väterlicherseits hießen Jakob Juda Rosner und Rosa Rosner, geborene Weißenberg. Die Eltern meiner Großmutter hießen Ferdinand und Henriette Korn. Sie besaßen in Bielitz [Bielsko, heute: Polen] ein Lebensmittelgeschäft.

Meine Großmutter Cecilie und mein Großvater Salomon Rosner heirateten am 14. März 1886 in Bielitz. Cecilies Muttersprache war Deutsch, sie kam aus einem liberal religiösen Haushalt. Ich habe sie nicht gekannt, denn sie ist 1920 in Bielitz gestorben, noch bevor meine Eltern geheiratet haben. Sie soll eine sehr vornehme Dame gewesen sein.

Mein Großvater Salomon wurde 1851 in einem Schtetl geboren. Er war Lehrling in einer jüdischen Zucker - und Schokoladefabrik und wurde kaufmännischer Angestellter und Reisender.

Er sparte die Diäten, damit seine zwei Kinder das Gymnasium besuchen konnten. Er schlief in einem ungeheizten Zimmer mit einer Tuchent [Anm.: Bettdecke] unter ihm und einer Tuchent über ihm.

Er rauchte Virginia Zigarren und fuhr immer in die einzige Apotheke in ganz Wien, die Pullmann Tee hatte gegen seinen Husten. Hätte er nicht die Virginia Zigarren geraucht, hätte er keinen Pullmann Tee gebraucht.

Die Suppe musste kochend auf den Tisch kommen, und kein Mensch außer ihm hat die essen können. Er aber war schon beim Nachtisch, wenn wir mit dieser heißen Suppe begannen.

Der Großvater war hoch intelligent und wie er selber sagte, hatte er sich an den Leitartikeln der 'Neuen Freien Wiener Presse' gebildet. Heute könnte sich kein Mensch an irgendeinem Leitartikel bilden.

Ich habe von meinem Großvater Rosner nie ein Zuckerl oder Geld bekommen, aber er hat der Mama immer gesagt: 'Lilli, die Renate liest so gern. Da hast du Geld, jedes Buch, das das Renaterl will, kann sie haben.'

Ich besitze folgenden Artikel aus einer Bielitzer Zeitung zu seinem 70. Geburtstag: 'Der in unseren Schwesterstädten und weit über die Grenzen derselben bekannte und geschätzte Herr Rosner feiert in diesen Tagen im Kreise seiner Kinder und Enkel seinen 70. Geburtstag.

Herr Rosner, unter seinen Geschäftsfreunden und sonstigen Bekannten unter dem Namen 'der süße Rosner' hoch geachtet und geliebt, war ohne seine zweite Heimat Bielitz zu verlassen, nahezu 40 Jahre Reisender und Disponent der Kanditenfabrik Gellner & Austerlitz in Brünn.

Er zeichnete sich stets durch strenge Rechtlichkeit und Fleiß aus. Seit einem Jahre genießt er hier seinen wohlverdienten Ruhestand.

Herr Rosner, dem es vergönnt ist, den zurückgelegten Siebziger in besonders körperlicher und geistiger Frische zu erleben, ist Schwiegervater des hiesigen Rechtsanwalt und Gemeinderates Dr. Glücksmann, sowie Vater des auch bei uns bekannten in Wien wohnenden angesehenen Arztes Dr. Rudolf Rosner.

Möge es dem Geburtstagskind gegönnt sein noch lange in Gesundheit und Rüstigkeit zu leben.'

Meine Tante Hilda, die 1889 geboren wurde, durfte als Frau nicht in der österreichisch-ungarischen Monarchie eine Universität besuchen. Da haben meine Großeltern sie nach London geschickt, wo sie erfolgreich graduiert hat.

Tante Hilda wurde die erste weibliche Universitätsprofessorin der Universität in Warschau für Anglistik. Sie war mit Sigmund Glücksmann verheiratet, der Rechtsanwalt und Sozialdemokrat war, und der im Holocaust ermordet wurde.

Sie hatten zwei Kinder: meine Cousine Ruth, genannt Uta und meinen Cousin Konrad. Tante Hilda wurde mit ihren beiden Kindern zuerst vom Hitler verfolgt, dann wurde sie von den Russen in den Ural geschickt, und nach dem Krieg ist sie nach Schweden gegangen. Sie ist in Schweden gestorben. Konrad lebt in Deutschland und arbeitet für eine deutsche Fernsehgesellschaft.

Ich war bei seiner Bar Mitzwa 1, aber da war ich erst drei Jahre alt. Meine Cousine Ruth ist Zahnärztin, hat zwei Töchter und lebt in Schweden. Ihr Mann ist gestorben.

Mein Vater Primar Dr. Rudolf [Rubin] Rosner wurde am 4. Januar 1887 in Sucha [Sucha Beskidzka] bei Bielitz geboren. Er besuchte in Bielitz die Volksschule und das Gymnasium. 1906 begann er mit dem Medizinstudium an der Wiener Universität und wurde zum Doktor der Medizin promoviert.

Er arbeitete sehr viel wissenschaftlich und war Mitglied des Jüdischen - Akademischen Vereins 'Emunah'. Während des 1. Weltkrieges [1914 - 1918] in der k. u. k. Armee wurde er mit dem Verdienstkreuz in Gold und in Silber und der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet.

Mein Großvater lebte ein halbes Jahr bei uns in Wien und ein halbes Jahr bei Tante Hilda in Bielitz. Zu Pessach 2 kam er aber immer nach Wien, weil er sagte: So einen Seder wie Lilli, also meine Mutter, macht sonst niemand. Der Seder 3 war das schönste Fest, das es bei uns gab.

Mein Bruder wurde immer sehr verwöhnt, aber in unserer Familie ging es sehr fair zu. Robert war der jüngste in der Familie, und so musste er am Sederabend das: 'Ma nischtana haleila haze mikol haleilot' [hebr.: 'Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten'] sagen, denn das ist die Aufgabe der Jüngsten.

Aber es war so, dass er eine Strophe sagte und eine Strophe sagte ich. Jeder bekam die Mazzot [(Mhz.) Mazze: ungesäuertes Brot] versteckt, und jeder bekam ein Geschenk.

Die Deutschen haben dann meinen Großvater eingesperrt, aber nicht in ein KZ. Er ist in Bielitz gestorben und beerdigt. Vergangenes Jahr bin ich mit einer Reisegruppe bis an die polnische Grenze gefahren, hab mir ein Taxi nach Bielitz genommen und das Grab meiner Großeltern Cecilie und Salomon Rosner aufgesucht. Ich war auch bei dem Haus, das mein Großvater gebaut hatte. In dem Haus sind jetzt Geschäfte.

Ich besitze einen wunderbaren Kidduschbecher 4, den ich zu meiner Geburt vom allerbesten Freund meines Vaters, dem Onkel Mannheim, bekommen habe. Onkel Mannheim war ein Gold - und Silberschmied, der seine Werkstatt im 6. Bezirk, in der Webgasse, hatte.

Der silberne Kiddusch Becher mit kleinen Hasen darauf hat eine Widmung eingraviert: Für Renate von Onkel Mannheim. Als Onkel Mannheim geheiratet hat, war ich in der zweiten Volksschulklasse und durfte auf der Hochzeit die Blumen streuen. Es gab einen großen Empfang im Hotel Metropol.

Das Metropol wurde später das Gestapohauptquartier. Ich hatte Korkenzieherlocken und trug ein schönes rosa Kleid mit Rüschen. Ich durfte bis in die Nacht aufbleiben und tanzte Hora [Volkstanz].

Onkel Mannheim sagte, dass ich ein Geschenk bekommen muss und wollte wissen, was ich mir wünsche. Ich wünschte mir einen Mogen Dovid [Davidstern], und er schenkte mir einen goldenen Mogen Dovid. Ich besitze silberne Lampen, die ich aus den Schabbat - Leuchtern 5 meiner Eltern hab anfertigen lassen.

Der Onkel Mannheim nahm die Schabbat - Leuchter meiner Eltern zuerst in die Emigration nach Jugoslawien mit, dann nach Amerika. 1949 kam er mit den Schabbat - Leuchtern wieder zurück.

Inzwischen hatten meine Eltern andere, und ich hatte meine eigenen Schabbat - Leuchter. Und so ließ ich mir aus den Schabbat - Leuchtern meiner Eltern Lampen machen. Diese Lampen werden einmal meine Tochter und später ihre Tochter erben.

Meine Mutter Sieglinde, genannt Lilly, wurde nicht als Jüdin geboren. Sie trat aber zehn oder zwölf Jahre, bevor meine Eltern heirateten, zum Judentum über. Ich kannte meinen Großvater mütterlicherseits nicht.

Er hieß Friedrich Stiassny und starb bereits 1901. Meine Großmutter Johanna, genannt Jeanette, geborene Janitzky, zog fünf Kinder allein auf. Meine Mutter war zwölf Jahre alt, als der Großvater starb, und sie war die älteste der Geschwister. Sie wurde am 14. Juni 1889 geboren und hatte drei Schwestern und einen Bruder:

Frieda Stiassny, geboren 1890, war mit dem jüdischen Bankier Erwin Mautner verheiratet. Sie starb vor dem 2. Weltkrieg. Der Onkel Erwin Mautner wurde verhaftet und ermordet. Sie hatten keine Kinder.

Hedwig Stiassny heiratete Franz Jakobi, der evangelisch war. Sie hatten eine Tochter Helga, die durch die finanzielle Hilfe meines Vaters maturieren und bis 1938 Pharmazie studieren konnte.

Maria Stiassny heiratete Ferdinand Esslauer. Sie hatten keine Kinder. Maria war meinen Eltern innigst verbunden, und als sie während des Holocaust schwer krank wurde, erklärte sie, sie würde sich von niemand anderem behandeln lassen als von meinem Vater.

Otto Stiassny wurde von meiner Großmutter, weil sie ja kein Geld hatte, in ein Militärgymnasium geschickt. Danach ging er in Wiener Neustadt auf die Militärakademie und wurde einer der ersten österreichischen Fliegeroffiziere. Er heiratete in Ungarn eine Adelige, hat einen Sohn Marius, der heute in Cleevland [USA] lebt.

Meine Großmutter Jeanette Stiassny war ein Goldschatz. Sie war eine kleine Frau, hatte einen Riesenkropf und war eine echte Großmutter. Sie hat Strümpfe gestickt, scheußliche braune Strümpfe, in die ich ein Loch gemacht hab, damit ich sie nicht anziehen musste.

Sie ging mit meinem Bruder, der die Feuerwehr liebte, jeden Tag zur Feuerwehr Am Hof. Mein Bruder wollte damals Feuerwehrhauptmann werden. Mich hat sie sehr, sehr gern gehabt, weil ich immer nur mit meinen Puppen Lehrerin gespielt habe und immer gewusst habe, dass ich Lehrerin werden will, was ich auch wurde.

Sie schrieb mir in mein Stammbuch, als ich in der zweiten Volksschulklasse war: Es gibt viele Leute, aber wenig Menschen. Renaterle, versuch immer ein Mensch zu sein.

Sie und meine Mutter sagten auch oft, dass arbeiten keine Schande ist, aber sich aushalten lassen. Ob du heiratest ist deine Angelegenheit. Du musst einen Beruf erlernen, damit du nie von einem Mann abhängig bist.

Meine Eltern haben jahrelang in 'Sünde' gelebt, weil jemand der habilitieren wollte, nicht heiraten durfte. Mein Vater hat erklärt, er liebt meine Mutter und wenn diese Trotteln an der Universität das nicht akzeptieren, werden sie trotzdem zusammen leben.

Für ihn ist sie seine Frau. Sie haben unverheiratet zusammen gelebt, bis mein Vater mit seiner Facharzt - Ausbildung zum Dermatologen fertig war und der Oberrabbiner Mannheimer sie 1924 getraut hat.

  • Meine Kindheit

Ich wurde in Wien am 2. Juni 1926 als Renate Cecilie, jüdisch Chana, Rosner geboren. Mein Bruder Robert Hans Rosner wurde am 22. September 1930 geboren.

Meine Mutter hatte die Matura und war eine ausgebildete Steuerfachfrau. Sie hatte lange für eine große jüdische Firma in der Buchhaltung gearbeitet und war für die Steuerangelegenheiten zuständig.

Mein Vater arbeitete mit dem berühmten Universitätsprofessor Doktor Wagner-Jauregg an der Behandlung der Syphilis mit Malaria. Wir besitzen noch die wissenschaftlichen Arbeiten, und mein Vater sollte habilitieren und Dozent werden.

Aber sein Professor starb, und der Professor Finger, der nach ihm das Amt übernahm, erklärte, er lasse einen Juden nicht habilitieren. Und das war lang, bevor der Hitler kam. Das war Anfang der 1920er-Jahre.

Die ersten Jahre nach meiner Geburt wohnten meine Eltern im 6. Bezirk in der Gumpendorfer Straße in dem Eckhaus vis-a-vis der Amerlingstraße. Dort war auch die Ordination meines Vaters.

Meine Mutter arbeitete nach der Hochzeit für meinen Vater als Ordinationshilfe und kümmerte sich um die Verrechnungen mit der Krankenkasse. Die Wohnung war aber sehr klein und nach ein paar Jahren übersiedelten wir in eine andere Wohnung im 5. Bezirk, und der Papa behielt die Wohnung in der Gumpendorfer Straße als Praxis.

1929 gelang es meinen Eltern ein Stockwerk des Bankhauses Liebig in der Wipplingerstraße 4 zu kaufen. In dem Stock ließ mein Vater eine Ordination und ein Wohnung für uns bauen.

Die Ordination bestand aus einem Damen Wartezimmer japanisch eingerichtet, einem Herren Wartezimmer eingerichtet a la Tonet, aber bestimmt waren die Tonetmöbel nicht echt, einem normalen Ordinationszimmer und einem Elektroordinationszimmer mit Höhensonne und Diatermie Apparat [Anm.: Unterwassermassage Apparat] und vielem anderen mehr, darunter auch einem sehr wertvollen Mikroskop.

Das Mikroskop ist das einzige, was die Mama retten konnte, als wir aus der Wohnung hinaus geschmissen wurden. Sie nahm einen weißen Polsterüberzug und steckte das Mikroskop hinein.

Dann wickelte sie es in ein Leintuch, zerriss einen Tuchent Überzug und wickelte es noch einmal ein.

Als einer dieser Nazischergen zu ihr sagte: 'Was ham sen da?' Hat sie gesagt: 'Zerrissenes Bettzeug, das ich flicken muss.' So wurde das wertvolle Mikroskop gerettet.

Kultur wurde groß geschrieben. Als ich fünf Jahre alt war, ging ich in mein erstes Mozartkonzert im kleinen Saal im Konzerthaus. An einem Weihnachtsfeiertag ging ich einmal ins Burgtheater mit meinen Eltern.

Wir saßen in einer Loge und sahen Vicky Baums Theaterstück 'Das dumme Engelein'. Die Alma Seidler spielte das dumme Engelein. Ich kann mich erinnern, dass das dumme Engelein eine Wurst hatte, die immer länger und länger und länger wurde.

Ich war ein Kind, das keine Schokolade wollte, und ich hab zur Mama gesagt: 'Bitte, warum können wir nicht so eine Wurst haben, die immer länger wird?' Ich habe mir immer zu meinem Geburtstag gewünscht, einmal auf der Straße eine Wurst essen zu dürfen.

Die Mama hat dann gesagt, das gehe nicht, weil alle meinen Papa kennen. Wenn wir in Piesting oder Weißenbach oder Perchtoldsdorf sind, darf ich auf der Straße eine Wurst essen.

Meine Eltern führten ein sehr gastliches Haus. Mein Bruder und ich durften jeweils an unserem Geburtstag die ganze Klasse einladen. In meiner Klasse waren 30 Kinder, davon 28 jüdische.

Ich habe alle jüdischen Kinder eingeladen. Und dann ein oder zwei Stunden nach Beginn der Kinderjause, hat meine Mama alle Mütter zu Tee oder Kaffee empfangen.

Mein Vater hat auch mit jungen Ärzten aus Afrika und Asien gearbeitet, die zu uns nach Hause gekommen sind, und so wurden wir in dem Sinne erzogen, Menschen anderer Hautfarben als selbstverständlich zu tolerieren.

Mein Bruder war im Kindergarten und in der Volksschule bei den Schotten. Da war er das einzige jüdische Kind in der Klasse.

Einmal wurde zu Weihnachten ein Krippenspiel aufgeführt, und mein Bruder kam nach Haus und sagte: 'Ich soll die heilige Maria sein.' Wir haben alle Tränen gelacht!

Er hat dann ein blaues Nachthemd meiner Mutter getragen und mein Vater hat gesagt: 'Ausgerechnet mein Sohn muss die heilige Maria spielen.' Da hat meine Mutter gesagt: 'Na die heilige Maria war auch a Jidin!'

Mein Vater liebte die Musik und ging manchmal am Sonntag mit uns in den Stephansdom. Er sagte, dort hätte er die schönste Musik umsonst und das Schema Jisrael 6 können wir auch im Stephansdom beten.

  • Meine Schulzeit

Ich wurde in das Institut Stern, eine private Volksschule, in der Werdertorgasse, in die zum Großteil Kinder aus wohlhabenden jüdischen Häusern gingen, eingeschult. Ich war das schlechtest angezogene Kind, aber ich hatte die meisten Bücher, und ich war die Beste im Deutschunterricht.

Im Institut Stern war die Frau Friedmann Direktorin und ihre Schwester Gymnasialprofessorin für Deutsch. Sie lehrte zweimal die Woche in der dritten und vierten Klasse der Volksschule deutsche Grammatik, Ich liebe die Grammatik! Sie konnte das so gut erklären, dass ich die Grammatik liebte.

Frau Direktor Friedmann und ihrer Schwester Professor Friedmann sind beide nach Theresienstadt deportiert worden. Die Frau Professor Friedmann ist dort umgekommen, die Frau Direktor Friedmann hat überlebt.

Aufs Gymnasium ist der Bob, mein Bruder, ja nicht mehr gekommen, weil er viel jünger war als ich. Es waren zwei berühmte Gymnasien, in die jüdische Mäderln gegangen sind. Das war das Oberlyzeum Luithlen auf der Tuchlauben 14 und die Schwarzwaldschule.

Ich bin in das Oberlyzeum Luithlen gegangen, weil es in der Tuchlauben war und weil die Direktorin, die Doktor Fabian, aus Bielitz stammte. Ich bin sehr gern in die Schule gegangen. Mein Bruder und ich hatten zusätzlich zur Schule noch jüdischen Religionsunterricht. Interessanterweise von einer Frau, nicht von einem Mann.

Meine beste Freundin war die Hedy Schlesinger. Hedys Vater war der Rechtsanwalt Doktor Schlesinger, sie wohnten im 5. Bezirk und seine Kanzlei hatte er in der Wipplingerstraße, wo meine Eltern ihre Wohnung und Ordination besaßen.

Wir verbrachten alle Urlaube miteinander. Hedy Schlesinger war die jüngste von drei Kindern, sie war so alt wie ich. Ihre Schwester Eva war zwei Jahre älter, ihr Bruder Wolfgang, genannt Wolfi, sechs Jahre älter.

Bei Wolfis Bar Mitzwa habe ich zum ersten Mal in meinem Leben ein kleines Stamperl Eierlikör getrunken, selbstgemacht von der Frau Schlesinger.

Wir verbrachten auch unsere Sommer zusammen. Damals war es noch nicht üblich, dass Anwälte oder Ärzte Autos hatten. Und so waren unsere Familien immer irgendwo, wo unsere Väter mit der Bahn oder sonst einem öffentlichen Verkehrsmittel abends nach Hause konnten.

Familie Schlesinger mietete immer ein ganzes Haus, weil sie drei Kinder hatten, wir mieteten immer eine Wohnung.

1935, bevor wir in den Urlaub fuhren, hatte ich eine Kinderkrankheit. Unser Kinderarzt war der berühmte Professor Kuntratitz, und als er mich untersuchte, machte er meine Mutter aufmerksam, sie müsse mich aufklären.

Nachdem er gegangen war, hat sie das versucht, aber ich habe ihr erklärt, dass das nicht notwendig sei, da der Wolfi Schlesinger mich schon aufgeklärt habe, worauf meine Mutter einen Schock bekam.

Dann habe ich ihr das erklärt: Die Schlesingers hatten ihr Haus neben dem Bauernhof, der den Gemeindestier besaß. Und der Wolfi hatte seine Schwestern und mich zum Gemeindestier und der Kuh geführt und gesagt: 'Das machen Erwachsene, wenn sie ein Kind kriegen.' Daraufhin war meine Mutter beruhigt.

Wir haben wunderbare Urlaube in Piesting verbracht. Unter meiner Organisation haben wir 'Das weiße Rössl' von Benatzky aufgeführt. Wir verlangten von unseren Eltern und Freunden 50 Groschen Eintritt.

Das muss sehr viel gewesen sein, denn wenn meine Eltern, mein Bruder und ich sonntags in Piesting essen gegangen sind, haben wir um 5 Schilling alle vier sehr gut gegessen.

Wir haben die 50 Groschen aber nicht für uns verwendet, wir haben es den armen Kindern gegeben. Wir waren gut erzogen, weder die Schlesingers noch meine Eltern haben vor dem Hitler am Hungertuch genagt.

Die Eltern Schlesinger wurden in Riga vergast. Hedy, Eva und Wolfi gingen zuerst nach England, von dort ins damalige Palästina. Wolfi rückte in die britische Armee ein, wurde verschifft, das Schiff wurde torpediert und alle starben.

Hedy heiratete in Palästina, dem heutigen Israel, einen deutschen Flüchtling. Sie hatten einen Sohn und eine Tochter und der Sohn starb in einem der Kriege. Gott sei Dank hat sie noch eine Tochter und hat von ihrer Tochter zwei Enkelkinder.

Sie war, noch bevor mein Mann starb, mit ihrem Mann in Wien, und wir haben uns sehr gut verstanden. Nach dem Tod meines Mannes litt ich an einer Depression. Ich bin nach Israel gefahren und habe die Hedy, ihren Mann und Eva Bursing, mit der ich aufs Gymnasium gegangen bin, besucht. Das hat mich geheilt.

Unser Hausmädchen Anna hatte ein eigenes Zimmer in unserer Wohnung und wurde nicht als Hausgehilfin behandelt, sondern wie das dritte Kind im Haus. Sie war eine Ungarin und ich vermute, dass sie eine ungarische Jüdin war.

Sie saß beim Essen mit uns am Tisch, und die Mama hat ihr immer Geld gegeben und gesagt: 'Geh mit der Renaterle und mit dem Robert in den Prater, ins Museum oder nach Schönbrunn.'

Wir waren bewusst jüdisch, aber wir haben nicht koscher gegessen, wir haben aber auch kein Schweinernes gegessen. Die jüdischen Feiertage haben wir gefeiert. Tradition war bei uns vorhanden, aber keine Orthodoxie, denn mein Vater hatte sich entscheiden müssen, ein guter Jude oder ein erstklassiger Arzt zu sein. Und er hatte sich für den erstklassigen Arzt entschieden.

  • Während des Krieges

Nach dem Einmarsch der Deutschen 1938 gab es große Veränderungen in der Schule. Mein Klassenvorstand, Frau Prof. Dr. Teller kam nicht mehr in die Schule, andere jüdische Professoren kamen auch nicht mehr, und Professoren, die keine Juden waren, trugen ein Hakenkreuz am Revers.

Ein Erlebnis hat mich sehr tief erschüttert. Die Familie eines berühmten Professors für Chirurgie wohnte uns gegenüber. Sie hatten mehrere Kinder und eine Tochter war in meinem Alter.

Wir standen uns manchmal an den Fenstern unserer Wohnungen gegenüber und hatten eine Zeichensprache erfunden, durch die wir uns verständigten. Manchmal trafen wir uns auch im Park und spielten miteinander.

Nach Hitlers Einmarsch begegneten meine Mutter und ich diesem Mädchen mit ihrer Mutter. Ich ging höflich hin, machte meinen Knicks und sagte: 'Küss die Hand, Frau Professor!' Die Frau Professor nahm ihre Tochter fest an der Hand und sagte zu ihr: 'Komm weiter, dieses Judenkind grüßt du mir nicht wieder.'

Mein Vater hatte einen guten Bekannten, das war ein Monsignore im Erzbischöflichen Palais. Und als Hitler kam, machte er sich erbötig, meinen Bruder und mich zu taufen und den Taufschein zu fälschen. Mein Vater lehnte das ab mit den Worten: 'Sie sind als Juden geboren, und sie werden als Juden sterben.'

Wir mussten in eine sogenannte 'jüdische Kommune', wo wir zu viert in einem Zimmer waren und Papa in einem Kabinett für Nichtarier ordinierte.

Während mein Bruder und ich schon längst in England waren, wurde meine Tante Maria, die jüngste Schwester meiner Mutter, krank und erklärte, sie würde sich von niemand anderem als von Papa behandeln lassen, worauf der Papa und die Mama sie zu sich nahmen.

Sie wurde so krank, dass mein Papa erklärte, es müssten alle Verwandten kommen, denn sie könnte sterben. Wenn die Verwandten kommen, werde er außer Haus gehen, damit sie keinen Kontakt zu einem Juden haben müssen.

Meine Cousine Helga kam mit ihrem jung angetrauten Mann, einem gewissen Dr. med. Herbert Arnfelser, der seinerzeit der Chef der nationalsozialistischen Studenten war. Als alle anderen schon weg waren, kam mein Vater zurück.

Aber Helga und Herbert Arnfelser waren noch dort. Herbert setzte ostentativ den Hut auf und erklärte, einen Juden grüße er nicht.

Unserem Hausmädchen Anna verdanken mein Bruder und ich, dass wir nach England gekommen sind. Anna ist 1937 zu einer englischen Familie übersiedelt. Anfang 1939 bekamen meine Eltern Briefe von verschiedenen Schulen und Familien aus England, und wir wussten nicht wieso? Und dann hat sich herausgestellt, die Anna war bei einer sehr wohlhabenden jüdischen Familie in einem Nobelteil von London, und ein Vertreter des 'Jewish Cronicle' der vorbeikam, erkannte sie, und sie erkannte in ihm einen Patienten meines Vaters.

Er hat sofort gefragt, was mit dem Doktor Rosner ist, ob sie irgendetwas gehört habe. Sie sagte, mein Vater könne nicht aus Österreich emigrieren, weil er sein ganzes Geld in die Ordination gesteckt hätte und kein Geld für die Reichsfluchtsteuer 7 hat, aber er will seine Kinder retten. Da hat der ehemalige Patient meines Vaters gesagt, er sei selber nur Flüchtling, aber er werde mit seinem Chef sprechen. Dieser Chef hat dann eine Gratis Annonce im 'Jewish Chronicle' aufgegeben, und so sind mein Bruder und ich nach England gekommen.

Mein Bruder war acht Jahre alt und ich dreizehn. Wir fuhren mit einem Kindertransport der israelitischen Kultusgemeinde nach England. Der Abschied von meinen Eltern am Westbahnhof war schrecklich. Sogar mein Vater weinte.

Meine Mama hat mich beauftragt, auf meinen kleinen Bruder aufzupassen. Sie hatte mir einen goldenen Ring mit einem Rubin für Notzeiten in ein Taschentuch gewickelt. Da ich nicht lügen konnte und große Angst hatte, dass man den Ring bei mir finden könne, warf ich ihn vor der Abfahrt auf die Gleise.

Ich durfte mir meine Pflegeeltern aussuchen, und sie haben dann Pflegeeltern für meinen Bruder gefunden. Wir waren in Hull, in der Nähe der Nordküste am River Humber, damals hieß es East - Yorkshire, untergekommen. Meine Pflegeeltern waren streng koscher, die Pflegemutter war eine einfache, anständige Frau.

Ihr Mann hat von zwölf Geschäften elf verspielt und hat mit jedem weiblichen Wesen, das dazu bereit war ein Verhältnis gehabt. Nicht einmal beim Pferderennen, sondern beim Hunderennen. Für mich war das fürchterlich, weil ich aus einer so gut funktionierenden Familie kam. Mein Bruder dagegen hatte phantastische Pflegeeltern.

Knapp vor meinem 18. Geburtstag ging ich freiwillig zur Womens Land Army. Ich habe bis August 1945 nichts über meine Eltern gewusst. Dann bekam ich einen Brief mit der Schrift meiner Pflegemutter.

Ich machte ihn auf, da lag kein Schreiben von ihr drin, sondern ein Feldpostbrief. Damals gab es keine offizielle Post zwischen Deutschland, Österreich und England. Der Brief war von einem Offizier, dessen Name ich nicht kannte.

Ich machte den Brief auf, da war die Schrift meines Vaters. Ich weinte eine halbe Stunde, bevor ich den Brief lesen konnte. Und dann erfuhr ich folgendes: Der Papa ging über den Graben und sah einen britischen Offizier, von dem er annehmen konnte, dass er Jude wäre.

Er sprach ihn auf jiddisch an und bat ihn darum, seinen Kindern in England mitzuteilen, dass er lebe. Der Papa nahm ihn auch mit nach Hause, und die Mama bewirtete ihn. Im August 1945 habe ich dadurch erfahren, dass meine Eltern leben.

Meine Eltern waren von einem ehemaligen Patienten meines Vaters, der ein Kommunist war, in Klosterneuburg in einem Weinkeller versteckt worden. Im Februar 1947 kam ich nach Wien.

Mein Bruder Bob blieb in England, machte seine englische Matura und studierte Architektur. Er lebt in Hassel bei Hull, arbeitet als Architekt, Stadtplaner und Landschaftsdesigner und besitzt eine eigene Firma.

  • Nach dem Krieg

Mein Vater wurde nach dem Krieg Vorstand der Dermatologischen Abteilung im Sophienspital und 1951 Primarius der Dermatologischen Abteilung des Spitals der israelitischen Kultusgemeinde.

In dieser Zeit war er außerdem Vertrauensarzt und Facharzt der Wiener Gebietskrankenkasse und leitete ein Ambulatorium dieses Instituts am Börseplatz.

Mein Vater gehörte zu den besten Dermatologen Wiens, war ein sehr bescheidener Mensch und ein stets hilfsbereiter Arzt, den seine Patienten sehr verehrten. Er war ein sehr aufrechter, ein eher zurückgezogener Mensch. Er starb am 6. April 1955 in Wien.

Ich ging in die Lehrerbildungsanstalt in die Hegelgasse, machte meine Matura nach, weil ich nur die englische Matura hatte, und legte erfolgreich nach zwei Jahren meine Prüfungen ab. Zusätzlich zur Matura schaffte ich eine Kindergärtnerinnen Ausbildung.

Mein erster Mann Dr. Walter Koling ist der Vater meiner Kinder Michael und Petra. Mein Sohn wurde am 4. Februar 1952 geboren, meine Tochter am 17. August 1957. Meine Tochter ist bereits verwitwet.

Meine Großmutter Jeanette Stiassny ist einen Tag vor der Geburt meines Sohnes gestorben. Sie war 92 Jahre alt, und ich habe immer gesagt, ihre Seele ging hinauf und die meines Michaels kam herunter. Mit meinem ersten Ehemann hatte ich keine gute Ehe.

Meinen zweiten Ehemann Ernst Jeschaunig habe ich am 18. Dezember 1957 geheiratet. Er hat auf dem akademischen Gymnasium maturiert, Jura und Staatswissenschaften studiert und arbeitete als Beamter des Landesarbeitsamtes. Sein Vater war jüdisch.

Er fragte mich nicht, ob ich ihn heiraten wolle, er fragte mich, ob er der Vater meiner Kinder sein dürfe. Bis zu seinem Tod am 13. Dezember 1998 führten wir eine wunderbare Ehe. Meine Mutter sagte einmal, sie würde sich für meinen Vater überfahren lassen, und ich fühlte dasselbe für meinen Mann.

Im Mai 1960, meine Tochter war noch nicht einmal drei Jahre alt war, lud uns meine Cousine Helga Arnfelser, mit der ich immer sehr befreundet war, aber deren Mann meinen Vater als Juden während des Holocaust nicht gegrüßt hatte, an einem Sonntag zum Mittagessen in ihr Reihenhaus in Hirschstetten zum Mittag ein.

Dort befand sich noch eine Sandkiste ihrer Tochter, die um zehn Jahre älter ist als meine Tochter. Ich weiß nicht, was ein Kind in einer Sandkiste ohne Wasser tun kann, aber auf einmal kam ein Herr, der auch dort eingeladen war, der brüllte mein 2 ¾ jähriges Kind an.

Woraufhin mein Mann und ich, wir hatten kein Auto und sehr wenig Geld, aufstanden, das Kind nahmen, ein Taxi bestellten und sagten: Und wenn wir die ganze Woche Wasser trinken und trockenes Brot essen, wir bleiben keine Minute länger.

Der Mann, der mein Kind angebrüllt hatte, erfuhr ich später, war der Dr. Gross 8! Das war das letzte Mal, dass ich mit der Familie verkehrt habe, bis der Herbert Arnfelser gestorben ist.

Von September 1950 bis Juni 1965 arbeitete ich in der Jugend - und Kinderbibliothek im U.S. Information Service Vienna. Von Juli 1965 bis 1984 hatte ich die Leitung der Bibliothek der American International School in Wien.

Ich arbeitete in dieser Zeit auch als Lehrerin und Kostümbildnerin für alle Theater - und Musicalaufführungen der Oberstufe dieser Schule. Seit 1. Juli 1984 bin ich Pensionistin.

Im Jahre 1973 starb meine Mutter in Wien.

Ich wurde 2002 an der Niere operiert. Als ich wieder etwas am Gang auf und abgehen konnte, ging ich an einem Zimmer vorbei, in dem ein Mann saß, der zu einem anderen Mann sagte: 'Ich war sieben Jahre alt, als der Hitler kam und der fehlt uns heute.

Es muss wieder ein Hitler kommen! Damals gab es kein Verbrechen, kein Mord, keinen Totschlag, keinen Diebstahl.' Die Oberschwester erschien und sagte: 'Frau Jeschaunig, ist ihnen schlecht, sie sind weißer als ein Leintuch. Kommen Sie in mein Zimmer.'

Ich erzählte ihr, was ich gehört hatte und sie sagte: 'Nehmen Sie das nicht ernst.' Worauf ich ihr mitteilte: 'Als Jüdin, die am 20. Juni 1939 dreizehn Jahre und achtzehn Tage alt war und mit einem 8 3/4 Jahre alten Bruder ohne Eltern flüchten musste, deren Familie Anfang Oktober 1939 aus der wunderbaren Ordination und Wohnung von SA Leuten, Studenten der Wiener Universität, herausgeworfen wurde, die zu viert in ein Zimmer und ein Kabinett für die Ordination des Vaters in eine 'jüdische Gemeinschaftswohnung' gezwungen wurde, nimmt man so etwas ernst.

Ich konnte den restlichen Tag nicht einmal ein Wasser trinken, musste Beruhigungsspritzen bekommen und habe mich seit Hitlers Erscheinen nicht so aufgeregt, wie an dem Tag.

Ich gebe heute noch Nachhilfestunden und alle meine Schüler, denen ich in Deutsch oder Englisch Nachhilfe gebe, sagen: 'Frau Professor, wieso können sie Grammatik so gut erklären? Bei ihnen mögen wir Grammatik.'

Das verdanke ich der in Theresienstadt umgekommenen Frau Professor Friedmann, die uns mit Liebe Grammatik beigebracht hat. Derzeit hab ich eine tunesische Maturantin, und das worauf ich am meisten stolz bin, mehr als auf die Matura meiner Tochter, ist, dass ich eine Türkin, die erste in ihrer Familie, die mehr als vier Klassen Volksschule gemacht hat, bis zur Matura durchgebracht habe.

Ihr Vater wollte sie nach der vierten Klasse in der Türkei verheiraten. Ich hab die Mutter angerufen, er dürfe das nicht tun, weil das Mädchen so intelligent sei. Die Mutter antwortete, dass ich das dem Vater sagen muss.

Das habe ich getan. Er beschimpfte mich zwar, aber das Mädchen maturierte mit gutem Erfolg. Bei der Maturafeier waren die Mutter und ich, weder der Vater noch der Bruder waren gekommen. Sie hat die pädagogische Akademie absolviert und unterrichtet heute.

Mein Freundeskreis besteht hauptsächlich aus Sozialdemokraten. Es sind auch Juden darunter.

Ich bin Österreicherin, und ich bin eine überzeugte Jüdin. Ich trage einen großen Mogen Dovid, den darf jeder sehen.

Was mir immer im Gedächtnis ist, ist der Satz, den mein Vater gesagt hat: 'Sie sind als Juden geboren und sie werden als Juden sterben.' Ich kenne das Testament, ich esse nicht koscher, aber ich bete jeden Morgen und Abend das Sch`ma und darum, dass die Seele meines verstorbenen Mannes Ernst Jeschaunig an der Rechten des Allmächtigen ruht.

Mein Sohn Michael ist Mitglied der Kultusgemeinde. Meine Tochter Petra flog 1996 mit ihren Kindern Miriam und Manuel in die USA. Dort mietete sie sich ein Auto und fuhr einen Monat durchs Land. Sie ist eine bewusste Jüdin.

Meine Enkelkinder gehören nicht der jüdischen Gemeinde an. Beide tragen einen Mogen Dovid und sind stolz darauf. Ich wollte Manuel eine längere Kette für seinen Mogen Dovid kaufen, damit ihn nicht jeder sofort sieht, und er gab mir zur Antwort: 'Entweder die Leute mögen mich wie ich bin, oder sie lassen es bleiben.

Da ich nicht so ausschaue, wie der 'Stürmer' 9 sich die Juden vorgestellt hat, höre ich immer wieder antisemitische Bemerkungen. Und ich muss ehrlich sagen, bevor ich die höre, servier ich lieber mein Judentum auf einem silbernen Tablett. Ja, ich bin religiös, nicht orthodox, aber religiös und ich gehe jeden Freitagabend in die Synagoge.

  • Glossar

1 Bar Mitzwa: [od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

2 Pessach : Jüdisches Fest, erinnert an den Auszug des jüdischen Volkes aus Ägypten, welcher die 200 Jahre währende Knechtschaft beendete. Jegliche gesäuerte Speise [Chamez] ist verboten, und so wird ungesäuertes Brot (Mazza) verzehrt.

3 Seder [hebr.: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

4 Kiddusch: von hebr. 'kadosch', heilig. Der Begriff findet in verschiedenen Zusammenhängen Verwendung. Als Kiddusch wird u.a. der Segensspruch über einen Becher Wein bezeichnet, der am Schabbat und anderen Festtagen gesagt wird.

5 Schabbat [hebr.: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche.

Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen. Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

6 Schema Jisrael: Das Schema Jisrael ist eines der wichtigsten Gebete des jüdischen Glaubens. Es ist Teil des Morgen- und Abendgebetes sowie der Liturgie an Schabbat und Festtagen.

7 Reichsfluchtsteuer: eine 1931 von der Weimarer Republik erlassene Steuer mit dem Zweck, die Kapitalflucht einzudämmen. Ab 1933 wurde die Reichsfluchtsteuer zur 'Menschenfluchtsteuer', die sich in erster Linie gegen Juden richtete und ein Teil der Ausplünderungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten war.

8 Gross, Dr. Heinrich [1915 - 2005] war einer der Ärzte, die im Jahr 1944 als Stationsarzt an der berüchtigten Wiener Euthanasieklinik 'Am Spiegelgrund' an der Tötung von behinderten Kindern mitgewirkt hat.

Trotz seiner Beteiligung an der Ermordung der Kinder machte er nach dem Krieg eine beachtliche Karriere als Psychiater, Gerichtsgutachter und Neuropathologe. Er wurde jedoch nie rechtskräftig verurteilt.

9 Der Stürmer: Antisemitische Wochenzeitung; Der Antisemitismus sollte im deutschen Volk vor allem durch Warnungen vor einer 'jüdisch- bolschewistischen Weltverschwörung' und durch Skandalreportagen über jüdische Kriminalität geschürt werden. Diese wurden von großformatigen Überschriften und zumeist antijudaistischen Karikaturen umrahmt.