Hannah Fischer

Hannah Fischer
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Juli 2004 Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Dr. Hannah Fischer ist eine Frau, die ihre Lebensziele mit großer Energie verfolgt. Gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder Rafael Erwin wuchs sie in einer sehr ungewöhnlichen Familie auf.

Der Vater war Rabbiner, die Mutter war Journalistin und stand der Kommunistischen Partei sehr nahe.

Das prägte ihr Leben genauso wie die zweijährige Ausbildung als Kindergärtnerin bei Anna Freud, der Tochter Sigmund Freuds, während ihrer Emigration in London.

Am wichtigsten waren ihr immer die Kinder. Trotz spätem Medizinstudium in Wien, trotz hoher Auszeichnungen - im Jahre 2003 erhielt sie von der Stadt Wien die Otto-Glöckel-Medaille - vergisst sie nie die Kinder.

Von 1986 bis 2002 übernahm sie ehrenamtlich und mit großem Engagement die pädagogische Leitung eines Hilfsprojektes mit dem Ziel, saharauische Frauen zu Kindergärtnerinnen auszubilden.

  • Meine Familiengeschichte

Mein Bruder und ich sind vor einigen Jahren nach Bratislava in das Stadt- und Landesarchiv gefahren, das sich in der Altstadt neben dem Rathaus und dem Jüdischen Museum befindet. Das Archiv war sehr eindrucksvoll, die Geburten-, Heirats- und Sterbebücher sind so groß, dass sie auf Rollwägen zu den Tischen gefahren werden. Wir haben nach unseren Vorfahren gesucht und fanden Namen und Daten.

Meine Großeltern väterlicherseits hießen Wilhelm und Fanny Fischer. Sie heirateten am 27. November 1881 in Bratislava. Die Großmutter wurde 1853 in Bratislava geboren, ihre Eltern waren Philipp und Katharina Kärpel, geborene Lampel. Der Großvater wurde 1847 in Waag-Neustadt [Nove Mesto nad Vahom, heute Slowakei] geboren.

Er war Privatlehrer und der Sohn von Sara und Latzko Fischer, der eine Schlosserei besaß. Ich vermute, die Großeltern waren sehr religiös, da sie ihren Sohn, meinen Vater, dazu drängten, Rabbiner zu werden. Irgendetwas ist passiert. Ich habe sie nie gesehen, und mein Vater hat nie über sie gesprochen. Vielleicht hat es ja damit zu tun, dass mein Vater viel lieber Gärtner als Rabbiner geworden wäre.

Meine Großeltern hatten drei Kinder: Paula, Bela Max - meinen Vater - und Siegmund.

Tante Paula war mit Heinrich Mandl verheiratet. Sie übersiedelten irgendwann während unserer Kinderzeit von Bratislava nach Wien. Ich glaube, mein Bruder und ich waren schon neun oder zehn Jahre alt, denn ich erinnere mich, dass uns der Weg zu ihrer Wohnung von unserer Mutter gezeigt wurde und wir oft allein zu ihnen fuhren.

Sie wohnten im 1. Bezirk am Fleischmarkt, wo Onkel Heinrich Hausbesorger war. Es war ein schönes altes Bürgerhaus, und ich glaube mich zu erinnern, er war die Nummer 14 oder 16. Einmal hat Onkel Heinrich gesagt, er will uns etwas zeigen und ist mit uns durch eine Eisentür in den Keller gegangen. Wir sind viele Stufen immer weiter hinunter gestiegen, es gab dort unzählige Gänge, die irgendwie gestützt, aber noch gut intakt waren.

Ich würde sagen, es waren mindestens sechs Stockwerke, die, wie uns der Onkel erklärte, zur Stephanskirche führten. Tante Paula war sehr kinderlieb und kochte immer für uns. An Sonntagen gingen Onkel Heinrich und Tante Paula oft mit uns in den Prater. Da sie keine eigenen Kinder hatten, waren wir sicher eine Bereicherung ihres Lebens.

1939 sind sie nach Amerika geflüchtet und haben zuerst in New York, in Brooklyn, gelebt. Wie es ihnen dann in Amerika ergangen ist, weiß ich nicht. Nach dem Krieg gab es noch Briefkontakt zwischen meiner Mutter und Tante Paula. Wann sie gestorben sind, weiß ich nicht; ich hatte keinen Kontakt mehr zu ihnen. Aber sie sind noch nach Miami übersiedelt.

Onkel Sigmund wurde 1889 geboren. Er hat in Bratislava gelebt, seine Frau hieß Lea und sie hatten drei Töchter: Fanny, Aranka und Lida. Die ganze Familie, die ich nicht ein einziges Mal gesehen habe, wurde 1941 in das Ghetto nach Opole [Polen] deportiert und ermordet.

Mein Vater Max Bela wurde am 26. Juni 1883 in Bratislava geboren und sieben Tage später beschnitten; das geht aus einem Dokument hervor. Er absolvierte in Bratislava ein Rabbinerstudium. Von 1914 bis 1918 diente er in der k. u. k. Armee.

In einem Dokument vom 25. Dezember 1923 an den Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde schreibt er: 'Im Jahre 1914 meldete ich mich freiwillig zur seelsorgerischen Dienstleistung beim Militärkommando Wien und mir wurde die Seelsorge der Heilanstalten des Roten Kreuzes, darunter befand sich auch das Vereinsreservespital 8 [Rothschildspital], übertragen.

Für diese Leistung, wie auch dafür, daß ich der Kultusgemeinde als Vertreter des Spitalseelsorgers Leon Smolensky jederzeit zur Verfügung stehe, hat Vizepräsident Dr. Gustav Kohn S.A. verfügt, dass mir hierfür Expräsidialfond Kr. 100.- monatlich ausbezahlt werden.

Für meine aufopferungsvolle Kriegstätigkeit wurde ich seitens des Militärkommandos mehrfach belobt und seitens des Roten Kreuzes wurde mir in Anerkennung besonderer Verdienste um die militärische Sanitätspflege im Kriege, taxfrei das Ehrenzeichen II. Klasse mit der Kriegsdekoration verliehen...'

Meine Großeltern mütterlicherseits - Daniel und Mina Treu - lebten in Hagen, eine Stadt in Deutschland, in der Nähe von Köln. Den Großvater habe ich nicht gekannt. Ich weiß, dass die Familie eine Lehrer- und Rabbinerfamilie war. Der Großvater war aber Kaufmann und hat ein Geschäft besessen. Ich nehme an, er starb relativ früh.

Die Großmutter Mina Treu wurde 1861 geboren und hat die letzten Monate ihres Lebens bei uns in Wien verbracht. Sie war sehr krank, aber davon habe ich nicht viel mitbekommen. Sie ist am 23. Juli 1932 im Rothschild-Spital im 18. Bezirk gestorben, da war ich sieben Jahre alt.

Vermutlich starb sie an Krebs; in dieser Familie starben sehr viele an Krebs. Sie wurde am Zentralfriedhof begraben und ich durfte bei der Beerdigung dabei sein. Das war meine erste Begegnung mit dem Tod: es gab die Großmutter plötzlich nicht mehr.

Meine Mutter Luise hatte drei Geschwister: Frieda, Else und Max.

Frieda wurde 1897 geboren und war mit Bolek Goldreich verheiratet. Sie hatten zwei Kinder, Daniel und Martin Rafael. Die Familie ist nach 1933, dem Machtantritt Hitlers, nach Palästina emigriert. Frieda starb 1937 in Palästina.

Else war mit Siegmund Samuel Goldreich verheiratet. Sie ist bereits 1929 in Deutschland gestorben. Samuel und die drei Kinder, die in Israel Abraham Na´aman, Schlomo Hans Na´aman und Dr. Dor Na´aman heißen, haben Deutschland kurze Zeit nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler verlassen und sind nach Palästina emigriert.

Max Treu war mit Ida Rosenfeld verheiratet. Sie hatten zwei Kinder, Lutz und Marianne. Auch sie emigrierten nach Hitlers Machübernahme nach Palästina.

Mein Bruder und ich lernten 1994 in Israel viele Verwandte kennen, darunter Joschi Zur, einen Cousin meiner Mutter - ich glaube zweiten Grades - der Forschungen über die Familie meiner Mutter angestellt und ein ganzes Buch zusammen gestellt hat.

Dieses Buch handelt von den Familien Treu und Steinweg. Zwischen den Treus und den Steinwegs gab es sehr viele Hochzeiten. Die meisten dieser Familie sind vor dem 2. Weltkrieg nach Palästina emigriert oder sie schickten ihre Kinder nach Palästina.

Meine Mutter Luise wurde am 21. März 1889 in Hagen geboren.

Meine Eltern haben sich 1923 auf dem 13. zionistischen Kongress in Karlsbad 1 kennen gelernt. Meine Mutter nahm als Journalistin an diesem Kongress teil und mein Vater als Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, der für die Spitalsseelsorge in vielen Wiener Spitälern verantwortlich war.

Meine Mutter war bereits 34 Jahre alt, eine berufstätige Frau, die schon längere Zeit als Journalistin gearbeitet hatte. Sie war eine sehr emanzipierte Frau, lebte in der Region um Essen, also in Hagen, Drove, oder auch in Essen, wo genau, weiß ich nicht.

Sie besaß eine höhere Schulausbildung, hatte danach eine Lehre absolviert, Stenografie und Maschine schreiben gelernt und war danach Journalistin geworden. Ich glaube, damals brauchte man als Journalist kein Studium. Sie hat im Rheinland gearbeitet, und hauptsächlich politische Artikel für Zeitungen geschrieben. Irgendwann habe ich mal ein Zeugnis meiner Mutter gesehen. Ich weiß aber leider nicht mehr, wo das war.

Nachdem meine Eltern sich auf dem Kongress kennen gelernt hatten, kam meine Mutter nach Wien, und sie heirateten am 12. November 1924.

  • Meine Kindheit

Mein Bruder Rafael Erwin und ich wurden am 27. September 1925 geboren. Meine Mutter war eine kleine, an sich zierlich gebaute, aber doch starke Frau. Sie hatte neun Monate zwei Kinder in ihrem Bauch, die beide bei der Geburt normal gewichtig waren. Das war eine Sensation!

Wir kamen durch einen Kaiserschnitt im 19. Bezirk, in der Kinderklinik in Glanzing, auf die Welt. Mein Bruder wog dreieinhalb und ich dreieinviertel Kilo. Normalgewichtige Zwillinge zur Welt zu bringen ist noch heute sehr selten. Die Narbe am Bauch meiner Mutter ist nie ganz verheilt; wir waren für sie also immer gegenwärtig. Aber auch sonst waren wir ein Geschwisterpaar, das man nicht übersehen konnte.

Zuerst haben wir in einer Dienstwohnung der Gemeinde Wien in der Jagdschlossgasse gewohnt, an die ich mich nicht mehr erinnere. Diese Wohnung hatte mein Vater auf Grund seiner Seelsorgertätigkeit im Versorgungsheim der Stadt Wien bekommen. Er kümmerte sich dort um die jüdischen Pflegefälle und richtete einen Feiertags- und Schabbat- Gottesdienst 2 ein.

Wir mussten aber dann aus der Wohnung ausziehen, weil mein Vater und der berühmte Stadtrat Tandler 3 einen großen Streit hatten. Worum es dabei ging, weiß ich nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass mein Vater ziemlich beharrlich sein konnte, wenn er glaubte, im Recht zu sein - ich habe diese Eigenschaft von ihm geerbt. Wir wurden delogiert und sind in eine andere Wohnung gezogen, die sich auch im 13. Bezirk, in der Biraghigasse, befand.

Die Wohnung hatte zwei Zimmer, eine Küche und ein größeres Vorzimmer. Ein Badezimmer gab es nicht, die Toilette - das war ein Plumpsklo - war am Gang. Am Gang befand auch die berühmte Bassena 4, aber später wurde das Wasser in die Wohnung eingeleitet. Für damalige Verhältnisse war das eine gutbürgerliche Wohnung, und wir lebten in einer für Kinder herrlichen Umgebung, denn es gab einen Garten, den wir nutzen konnten, was ein absolutes Privileg war.

Meine frühesten Erinnerungen sind aber nicht an Wien, sondern an Deutschland. Ich weiß den Grund nicht, aber meine Mutter hat meinen Vater verlassen, als wir noch sehr klein waren. Wir lebten in einem kleinen Kinderheim, und meine Mutter hat uns nur an Wochenenden besucht. Sie musste arbeiten, um Geld zu verdienen.

Das Kinderheim lag am Waldesrand, und ich erinnere mich an die Sandkiste, in der wir gespielt haben. Außerdem erinnere ich mich an ein Wohnzimmer und einen gut aussehender Mann in einem lila Anzug, der uns besucht hat.

Diesen lila Anzug habe ich nicht vergessen und meine Mutter hat auch später gewusst, wer der Besitzer des Anzugs war, nämlich ein entfernter Verwandter. Ansonsten kann ich mich an Deutschland und an die Reise hin und - nach zwei oder drei Jahren - zurück, nicht erinnern.

In Wien sind mein Bruder und ich eine Zeit lang in einen Kindergarten der Kinderfreunde 5 in der Nähe unserer Wohnung gegangen. Entweder war es eine Kindergruppe oder ein richtiger Kindergarten, aber es war kein städtischer.

Unserer Wohnung gegenüber war ein ganz großes Grundstück der Israelitischen Kultusgemeinde, das mein Vater verwaltete. Auf diesem Grundstück lebte in einem kleinen Häuschen die einzige andere jüdische Familie in unserer Wohngegend.

Sie hatte zwei Kinder, Sara war schon ein Teenager und interessierte sich nicht für uns, und Numek. Er war in unserem Alter und mit ihm waren wir sehr befreundet. Die Familie ist nach dem Einmarsch der Deutschen im März 1938 nach Amerika geflüchtet und wenn Numek Wien besucht, besucht er mich auch immer.

Auf dem Grundstück stand ein ziemlich altes Haus und dazu gehörte ein Garten. Da haben wir von klein auf Unkraut zupfen müssen. Das hat uns weniger gefallen, aber wir hatten dort eine riesige Wiese mit einem kleinen Abhang und Bäume zum Klettern, und das war ein Paradies. Das ganze Terrain gehörte uns und Numek. Im Sommer kamen jüdische Kinder aus dem 2. und 20. Bezirk, um sich zu erholen.

Samstags sind mein Bruder und ich in der Volksschulzeit immer zu Fuß - das war ein längerer Marsch - in den Tempel in der Eitelbergergasse gegangen. Der Tempel ist in der Pogromnacht im November 1938 zerstört worden, heute steht zum Gedenken eine Tafel dort.

Unser Haushalt war koscher, meine Mutter trennte milchiges und fleischiges, das wäre wegen meines Vaters gar nicht anders möglich gewesen. Mein Bruder hielt sich aber von klein auf eigentlich nicht daran. Er aß ohne weiteres Schinken, wenn er irgendwo zu Besuch war. Ich tat das nicht, und auch heute esse ich Schinken nicht furchtbar gerne.

Den Schabbat feierten wir auch, meine Mutter zündete Kerzen an, aber das ging nicht sehr strenggläubig vor sich. Freitagabend und Samstag waren dann die einzigen Tage der Woche, an denen es Fleisch bei uns gab. Das Fleisch brachte der Vater 'aus der Stadt', also aus den inneren Bezirken Wiens, mit.

Gäste hatten wir keine. Mein Vater kümmerte sich um die jüdischen Patienten in den Krankenhäusern, auch am Schabbat und zu den Hohen Feiertagen. Insbesondere zu Pessach 6 richtete meine Mutter in dem alten Haus eine Großküche ein, von der aus meine Eltern die Patienten mit koscherem Essen versorgten.

Da mussten mein Bruder und ich immer helfen, auch beim Austragen des Essens. Es gab ein jüdisches Altersheim in der Lainzer Strasse, das sich unter der Bahn befunden hat. Ich erinnere mich, dass mein Vater dort für die alten Leute den Pessachabend gestaltete, und ich erinnere mich an die Mazzot 7 und an diverse andere Sachen.

Meine Mutter hatte eine Haushaltshilfe, die putzte und kochte. Ein Kindermädchen hatten wir nicht, wir waren aber auch schon sehr früh selbständig.

Unsere Kindheit war sehr, sehr schön und wir hatten viele Freiheiten. Zu Hause waren wir nur selten. Wir hingen an den Pferdewägen, die große Eisblöcke für die damaligen Kühlschränke transportierten, bis uns der Kutscher mit der Peitsche verjagte; wir kraxelten auf der Mauer des Lainzer Tiergartens herum, die damals defekt war, und sprangen auch in den Tiergarten hinein.

In der Waldvogelgasse - die Straße ist ungefähr zehn Minuten von unserem Hause entfernt - gab es ein Kino. Wir haben uns in die Nähe des Kinos gestellt und die Passanten gefragt: 'Entschuldigen Sie bitte, können Sie uns sagen, wo hier das Kino ist?' Die Passanten haben gesagt: 'Na da, geradeaus!' 'Immer wenn wir ins Kino gehen wollen, dann ist es gerade aus!'

Das waren so unsere Amüsements. Des Zwillingspaar Fischer und ihre Freunde! Oder wir sind auf 'Glöckerlpartie' [bei fremden Leuten anklingeln] gegangen. Entweder haben wir dann blöde Fragen gestellt oder wir sind einfach davon gerannt.

Mein Bruder und ich haben aber auch sehr viele Bücher gelesen, oft waren es Bücher für Erwachsene, zum Beispiel das Buch 'Der Tunnel' von Bernhard Kellermann. Das ist ein Roman, der sich unter anderem mit sozialen Problemen befasst. Wir hatten Bücher von Lion Feuchtwanger und Egon Erwin Kisch, aber auch von Erich Kästner, zum Beispiel 'Emil und die Detektive', Mark Twain und Karl May.

  • Meine Schulzeit

Unsere Volkschule war in der Speisingerstrasse, das war die zu unserer Wohnung naheste Volksschule. Mein Bruder hat schlecht geschrieben, er hatte eine 'schwere Hand'. Die Lehrerin hat ihn furchtbar sekkiert in der ersten Klasse. Ich habe lange darüber nachgedacht, und ich glaube, dass seine Situation in der ersten Klasse ausschlaggebend für den Widerwillen war, den er die ganze Schulzeit über gegen Schule und alles Schulische hatte, obwohl er hochintelligent war.

In der zweiten Klasse beschloss diese Lehrerin, dass sie keine 'Judenkinder' in ihrer Klasse haben will und wir wurden in die Volksschule in der Lainzer Strasse umgeschult, was ein Glück war, weil der Lehrer, der uns hier unterrichtete, ganz hervorragend war. Zusammen mit dem Numek waren wir die einzigen jüdischen Kinder in der neuen Volksschule.

Wir waren ein ganz normales Geschwisterpaar. Mein Bruder war natürlich stärker als ich und er hat mich oft geschlagen, wofür ich mich dann auf andere Art und Weise gerächt habe. Solange wir in eine Klasse gingen, das heißt in der Volksschule, hat er von mir die Aufgaben abgeschrieben, wenn er sie überhaupt gemacht hat. Und wenn wir uns gestritten hatten, habe ich ihm das natürlich verweigert.

An einem Sonntag sollten wir wieder einmal zur Tante Paula und zum Onkel Heinrich fahren und mit ihnen in den Prater gehen. Unsere Mutter, die sichergehen wollte, dass der Rafael seine Schulaufgabe vorher erledigt, sagte, dass wir nur fahren dürften, wenn jeder von uns seine Aufgabe gemacht hat.

Das Ergebnis war, dass Rafael mit Tante und Onkel in den Prater fuhr und ich zu Hause blieb: Ich hatte die Worte meiner Mutter ernst genommen und irgendetwas noch nicht gemacht. Ich war Vorzugsschülerin und mein Bruder tat gerade genug, um nicht sitzen zu bleiben.

Mein Vater war sehr lieb zu uns, aber für ihn war es schrecklich, dass nicht der Sohn der Erfolgreichere war, sondern die Tochter, denn seine Anforderungen an einen Sohn waren höher, als an eine Tochter.

Er war abgrundtief konservativ - im Unterschied zu meiner Mutter. Hauptsächlich befasste sich meine Mutter mit uns und hat sogar Geschichten für uns geschrieben, zum Beispiel über die Brüder Gracchus 8; das waren sehr fortschrittliche römische Senatoren zur Zeit des Sklavenaufstandes.

Ich bin in einem nichtjüdischen Bezirk aufgewachsen. Wahrscheinlich war der Antisemitismus deshalb besonders stark spürbar. Wir hatten es sehr lustig damals, aber wir waren natürlich von klein auf mit Antisemitismus konfrontiert. Aber wir haben uns gewehrt. Mein Bruder war gut mit den Fäusten - sehr geachtet ob seiner Schlagkraft - und wenn nötig, habe auch ich mich ins Getümmel geworfen.

'Sich wehren' führt meiner Ansicht nach dazu, dass man - nach dem Sprichwort: 'Was mich nicht umbringt, macht mich stark' - an Durchsetzungskraft fürs Leben gewinnt. Wir haben die Hetze gegen die Juden nicht so arg empfunden, weil das von Anfang an einfach zu unserem Leben gehört hat. Sprüche wie 'Jud, Jud, spuck in Hut, sag der Mutter, das war gut!' sind uns oft nachgerufen worden.

Wir hatten auch gute Freunde, die zu uns hielten, aber es gab eben in der Umgebung auch eine Menge Nazi-Familien. Zum Beispiel waren die Hausbesitzer, die Familie Schindler, illegale Nazis.

Der Mann, ein Architekt, war gestorben und Frau Schindler hatte drei Söhne und eine Tochter. Die Tochter war schon verheiratet, Hermann, der jüngste Sohn war in unserem Alter. Wenn er gerade niemand Besseren hatte, spielte er mit uns. Aber immer, wenn er andere zum Spielen hatte, die auf uns schimpften, schimpfte er mit ihnen gemeinsam.

Er ist mit einem Kopfschuss aus Russland zurückgekommen und ging dann an Alkohol zu Grunde. Der älteste Sohn war ein illegaler Nazi. Er hatte Medizin studiert, war Arzt, und ist aus dem Krieg nicht zurückgekommen. Max, der Mittlere, war damals 16 Jahre alt, war auch schon ein illegaler Nazi und kam 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen, sofort mit der SA- Uniform daher, am ersten Tag schon.

Im Jahre 1988 sollte ich für das Pädagogische Institut einen Artikel über meine Jugend in Wien schreiben. Da ging ich zu dem Haus in die Biraghigasse. Ich wollte mich in die Stimmung von damals versetzen. Max wohnte noch in der Wohnung seiner Eltern.

Er war sehr freundlich zu mir und anscheinend sehr erfreut mich zusehen. 'Wie geht es Ihnen? Ich erinnere mich noch genau an Ihre Mutter; die hat immer fleißig mit der Schreibmaschine geklappert und der Vater, der ist in der Früh gleich mit Sonnenaufgang in den Garten hinübergegangen.

So fleißige, ordentliche Leute waren das!' Mir wurde ganz übel. Dann hat er sich bei mir beklagt, wie schlecht es ihm geht. Und dann hat er gefragt, was ich mache? Ich habe ihm erzählt, dass ich Direktorin der Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik in Floridsdorf bin. 'Ich habe ja immer gewusst, dass in dieser jüdischen Familie lauter tüchtige Leute sind.

Was macht denn der Bruder?' Ich habe erzählt, dass mein Bruder Direktor einer technischen Firma in Nordamerika ist. 'Na ja' hat er gesagt, 'die Juden bringen's´s halt doch zu etwas.' Ich habe nichts gesagt, hab ihn reden lassen. Als ich mich verabschiedete, dachte ich: Geschieht ihm recht, obwohl er wirklich ein armer Mensch war.

1934 hatte ich eine Serie von Halsentzündungen und wurde vom Arzt der Kinderklinik in Glanzing auf Erholung geschickt. Meine Mutter war seit unserer Zwillingsgeburt mit der Klinik in medizinischem Kontakt; sie haben uns betreut. Glanzing hatte ein Erholungsheim in Rimini in Italien. Das Heim hatte eine absolut autoritäre Struktur.

Es waren viele Nazikinder aus der unteren sozialen Schicht dort auf Erholung und drei Mädchen gefiel es, mich, das Judenmädel, zu sekkieren. Zum Beispiel durften wir nur mit dem Hut hinaus ins Freie, und sie versteckten immer meinen Hut, so daß ich ständig Probleme mit dem Personal hatte, das überhaupt nicht mitbekam, was da vor sich ging.

Einmal am Abend, nach der Bettruhe, habe ich mich zum Bett eines Mädchens geschlichen, mit dem ich befreundet war. Dabei hat mich eine Schwester erwischt und vor allen anderen gesagt: 'Jetzt kommst du auf den Dachboden zu den Fledermäusen.'

Da ich Fledermäuse von meiner Umgebung in Lainz gekannt habe, habe ich mich nicht gefürchtet, ich wusste, dass die nichts tun. Ich habe diese Nacht aber im Krankenzimmer verbracht, und am Morgen haben sich die anderen gewundert, wieso ich so gut aufgelegt war.

Ich habe gesagt, dass ich mich erstens nicht vor Fledermäusen fürchte und zweitens, dass ich eine gute Nacht im Krankenzimmer verbracht hatte. Von dem Moment an war ich die Heldin der Gruppe. Das bekehrte auch die drei Antisemiten, denn sie haben gesehen, dass das, was sie über die Juden gelernt hatten, nicht stimmte.

Meine Freundin Elfi wohnte in der Biraghigasse in einer Villa. Als Hitler kam, haben ihre Eltern ihr verboten, mit mir zu kommunizieren, aber wir haben uns trotzdem heimlich gesehen. Elfi hatte dann auch eine andere Freundin, aber die gefiel ihren Eltern gar nicht, und die Elfi erzählte mir nach dem Krieg, dass ihre Mutter zu ihr gesagt hatte: 'Da wäre mir ja das Judenmädel noch lieber wie die!' Aber das 'Judenmädel' stand dann nicht mehr zur Verfügung!

Mein Vater war ein schöner Mann mit dichten schwarzen Haaren. Solange ich ihn kannte - das war bis zu seinem 58. Lebensjahr - hatte er volles, schwarzes Haar. Es wird erzählt, daßdass sein Haar weiß war, als er nach einjähriger Haft aus Dachau entlassen wurde. Nur während seiner Arbeit trug er 'fromme Kleidung', ansonsten sah man ihm den Rabbiner nicht an.

Er war sicher kein orthodoxer Rabbiner, sonst hätte er die Eigenständigkeit meiner Mutter nicht ertragen. Das würde doch ein Orthodoxer niemals gestatten. Natürlich betete mein Vater jeden Tag, aber ich habe ihn selten dabei gesehen. Wir hatten einen ganz anderen Lebensrhythmus als mein Vater.

Er ist um 4 Uhr in der Früh aufgestanden, hinüber in den Garten gegangen und hat dort gearbeitet, bis er zum Dienst gegangen ist. Als er vom Dienst nach Hause gekommen ist, hat er sich umgezogen, gegessen und ist wieder in den Garten gegangen. Wie er das im Winter gemacht hat, weiß ich nicht.

Mein Vater verwaltete immer unser Taschengeld; wir sparten das Taschengeld, aber ich weiß nicht mehr wofür. Eines Tages kam er strahlend nach Hause, da hatte er für mein Taschengeld einen Rosenstock und für Rafaels Taschengeld Ribislstauden [Ribisel: österr. fFür Johannisbeere] gekauft.

Wir waren acht Jahre alt und man kann sich vorstellen, wie begeistert wir waren, dass wir kein Taschengeld mehr hatten, aber Besitzer von Rosen und Ribislstauden. Das war mein Vater! Er war nicht politisch, aber wenn er politisch gewesen wäre, dann wäre er ein Monarchist gewesen. Er war ein konservativer Mensch und hatte Ansichten, die ins 19.Jahrhundert passten.

In den Urlaub fuhren meine Eltern nie; meine Mutter war aber 1937 in Palästina, weil ihre Schwester Frieda sehr krank war und noch im selben Jahr gestorben ist. Sie hat damals sehr viel über den Konflikt zwischen den Palästinensern und den Juden erzählt.

Sie hat mir den Eindruck vermittelt, dass der israelisch-palästinensischen Konflikt eigentlich von den Engländern angezettelt worden war, denn die Juden hatten lange Zeit mit den Arabern und Christen relativ friedlich zusammen gelebt. Unter der türkischen Herrschaft gab es diese furchtbare Feindschaft nicht. Die Briten verbündeten sich mal mit den Arabern und dann wieder mit den Juden und dadurch kam es zu dieser Aufschaukelung.

Das war die Meinung meiner Mutter und darüber hat sie bereits nach ihrer ersten Palästina-Reise berichtet. Meine Mutter war keine Zionistin, das hätte nicht zu ihrer politischen Weltanschauung gepasst, aber sie hat mit einem Staat der Juden in Palästina sympathisiert.

Nach der Eheschließung mit meinem Vater hat meine Mutter weiterhin als selbständige Journalistin gearbeitet. Sie war politisch sehr aktiv, sie war eine Kommunistin. So hat sie zum Beispiel für die Zeitung 'Die Wahrheit' - das war eine kommunistische Zeitung aus dieser Zeit - einen fast prophetischen Artikel über den Nationalsozialismus und dessen Bekämpfung geschrieben.

Nach 1933 gab sie eine hektographierte Zeitschrift mit dem Namen 'Die Rote Dreizehn' heraus. Im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes 9 gibt es zwei oder drei Nummern der Zeitung. Darin schrieb meine Mutter über politische Themen. Die Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten und Republikanischen Schutzbund auf der einen Seite und den Christlich-Sozialen und der Heimwehr, beziehungsweise der Regierung, auf der anderen Seite, führten in den Februartagen 1934 zum Bürgerkrieg.

Der Aufstand scheiterte unter anderem deshalb, weil der von der Sozialdemokratischen Partei ausgerufene Generalstreik nicht lückenlos durchgeführt wurde. Viele Tote und Verwundete auf beiden Seiten war das Ergebnis. Einige Führer des Aufstands wurden hingerichtet.

Die Angehörigen der Verhafteten standen oft ohne Einkommen da und die Kassierer der Zeitschrift 'Die Rote Dreizehn' sammelten für die Familien der inhaftierten Roten. Es gibt zum Beispiel einen sehr interessanten Artikel über die Frau Münichreiter.

Münichreiter war einer der Führer des Aufstandes, der angeschossen worden war und schwer verletzt auf der Tragbahre zur Hinrichtung gebracht wurde. Es gibt eine Straße im 13. Bezirk, die nach ihm benannt ist. Und da gibt es einen Artikel meiner Mutter, in dem sie berichtet, wie eine der führenden Damen der Christlichen Wohlfahrt zur Frau Münichreiter kam und ihr nahe legte, zur Kirche gehen und um Hilfe bitten. Und Frau Münichreiter sagte dieser Dame ordentlich ihre Meinung. Diese Geschichte schrieb meine Mutter sehr anschaulich.

Am 12. Februar 1934 wurden wir von der Schule früher nach Hause geschickt, weil die Kämpfe begonnen hatten. Zu Hause kletterten wir auf den Nussbaum im Garten des gegenüber liegenden Grundstückes und beobachteten, wie in der Stadt gekämpft wurde.

Im Jahre 1935 fand bei uns eine Haussuchung statt. Sie kehrten die Wohnung von oben nach unten und von unten nach oben, und verhafteten meine Mutter, weil sie für die 'Rote Hilfe' 10 gearbeitet hatte - das waren Kommunisten und Sozialdemokraten, die 1934 in Österreich verboten worden waren.

Es gab keine Verhandlung und ursprünglich betrug die Strafe drei Monate Haft. Aber dann brach in der "Liesl" - so nannten die Wiener das Polizeigefängnis in der Rossauer Kaserne, in dem meine Mutter ihre Haftstrafe absaß - ein Hungerstreik aus.

Man hielt meine Mutter fälschlicherweise für eine der Rädelsführerinnen und sie musste drei Monate länger im Gefängnis sitzen. Mein Vater besuchte sie und machte ihr keine Vorwürfe. Das war wieder sehr anständig von ihm. Um uns kümmerte sich in diesem halben Jahr unser Hausmädchen.

Nach der Volksschule, im Jahre 1935, machten wir am Schuhmeier-Platz, im 16. Bezirk, die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium. Damals musste man eine Aufnahmeprüfung machen. Ich bestand die Prüfung mit 'sehr gut' und mein Bruder bestand die Prüfung nicht.

Aber auch ich wurde wegen angeblichen Platzmangels abgewiesen. Das waren Dollfuß-Zeiten 11 und die waren ganz deutlich antisemitisch. Daraufhin sagte mein Vater zu mir: 'Na dann gehst du halt ins Chajes-Gymnasium'. Das war das jüdische Realgymnasium im 20. Bezirk, in der Staudingergasse.

Ich heulte Rotz und Wasser, denn ich wollte nicht zu den Orthodoxen. Ich hatte mir vorgestellt, dass dort lauter Religiöse mit Pejes 12 herumlaufen. Daraufhin sagte mein Vater: 'Gut, dann gehst du in die Hauptschule.' Das wollte ich aber auch nicht, denn ich wollte ja studieren.

Für meinen Vater als Angestellten der Kultusgemeinde war es kein Problem, mich in das Chajes-Gymnasium einschreiben zu lassen. Ich glaube, ich war die 39. Schülerin in meiner Klasse. In dieser Schule war ich dann drei Jahre lang sehr glücklich.

Im Chajes-Gymnasium lernten Buben und Mädchen in gemeinsamen Klassen. Wir waren eine sehr gute Klassengemeinschaft, hatten zwei Klassensprecher, einen Burschen und ein Mädchen als Assistent. Zwei Jahre wurde ich zur Klassensprecherassistentin gewählt.

Der Direktor, Viktor Kellner, war autoritär und infolgedessen auch nicht sehr beliebt. Aber die Lehrer waren wunderbar, zum Teil wirklich fortschrittlich aufgeschlossen und sozial denkend. Jüdische Lehrer, die den Antisemitismus in den Mittelschulen erleben mussten, haben sich gefreut, wenn sie im Chajes-Gymnasium unterrichten durften, das heißt, die Schule konnte sich ihre Lehrer wirklich aussuchen. Unsere Lehrer waren hervorragende Fachleute und überhaupt nicht alle orthodox, wie ich mir das vorgestellt hatte.

Es gab orthodoxe Schüler, es gab die Religionslehrer - die orthodox waren. Im Großen und Ganzen war das aber eine normale Schule, außer, dass wir am Samstag frei hatten und am Sonntag in die Schule gehen mussten. Das war mir natürlich unangenehm.

Ich bin jeden Tag den weiten Weg vom 13. in den 20. Bezirk gefahren: mit den Straßenbahnen 62 und 60, mit der Stadtbahn Wiental- Linie und der Straßenbahn Nummer 5. Jeden Tag hatten wir eine Stunde Hebräisch. Auf Grund der zusätzlichen Hebräischstunde hatten wir immer bis 14 Uhr Unterricht und zweimal wöchentlich auch nachmittags.

An diesen Tagen habe ich Kostgeld von meinen Eltern bekommen. Dafür habe ich mir aber nur eine trockene Semmel gekauft und den Rest für Eis und Bücher verwendet. Wenn ich nachmittags Unterricht hatte, hatte ich eine Pause und in der Zeit bin ich herum gestrolcht, denn der Weg nach Hause wäre zu weit gewesen. Ich war die einzige in der Klasse, die so weit entfernt wohnte.

In der Nähe der Schule, in der Klosterneuburger Straße, hat die Familie Scheer gewohnt. Esther Scheer war eine politische Gefährtin meiner Mutter und ist mit ihr im Gefängnis gesessen. Ihr Mann war Fotograf, ein Künstler und er retuschierte seine Fotografien künstlerisch. Sie hatten eine Tochter, die etwas jünger war als ich.

Ich ging oft zu den Scheers, wenn ich auch am Nachmittag Unterricht hatte. Sie waren sehr nett zu mir und gaben mir auch zu essen. Die Familie Scheer ist rechtzeitig nach Amerika emigriert, nach dem Krieg wieder nach Wien gekommen und hat ein Geschäft eröffnet auf der Hollandstrasse 6. Die Eltern sind in den 50er Jahren gestorben und die Tochter hat das Geschäft übernommen. Sie hat dann aber einen Ausländer geheiratet und ich verlor sie aus den Augen.

Ich hatte den Ruf, eine gute Schülerin zu sein, und so bemerkte der Hebräischlehrer erst zum Halbjahr, dass ich überhaupt nichts konnte. Da habe ich den einzigen Fünfer in meinem Leben bekommen. Das motivierte mich dann wenigstens zu sporadischem Lernen. Wir haben den 'Chumasch' [Pentateuch] übersetzt und das interessierte mich auch. Aber zu mehr als zu einem Zweier hab ich es nie gebracht.

Frau Dr. Stella Klein-Löw [später SPÖ-Abgeordnete zum Nationalrat] war meine Lateinlehrerin. Ihre Nichte Lydia ging in meine Klasse und war ein ähnlicher Fall wie mein Bruder. Sie hat nicht gut gelernt und war immer vom Durchfallen bedroht. Lydia wurde meine Freundin und Frau Dr. Klein-Löw hat mich gebeten, mit Lydia zu lernen.

Lydia verbesserte sich dann auch wirklich und ist durchgekommen. Frau Dr. Klein-Löw war eine wunderbare Pädagogin. Zum Beispiel gab es den Schülerscherz, Kreide auf den Kathedersessel zu schmieren. Sie kam in die Klasse und bemerkte das, nahm ihr Taschentuch, wischte den Sessel ab, zeigte das Taschentuch herum und sagte:

'Seht ihr, das hätte ich jetzt alles in meinem Rock gehabt und dann hätte ich den Rock zum Putzen geben müssen. Habt ihr das gewollt?' Das war eine wunderbare Methode uns klarzumachen, dass das so lustig nun auch wieder nicht ist.

Unser Mathematikprofessor war ein eher autoritärer Typ. Wir nannten ihn die gelbe Brillenschlange und ich hatte sogar begonnen, einen Roman über die gelbe Brillenschlange zu schreiben. Die ersten zwei Kapitel las ich dann der Klasse vor, die sich sehr amüsierte.

Eine Deutschlehrerin aus unserer Schule, Sonja Wachtel, wurde später in Israel eine ziemlich berühmte Schriftstellerin. Sie war sehr fortschrittlich und wir haben bei ihr viel über Literatur gelernt.

Unsere Turnprofessorin Frau Löwenthal war sehr lieb und sehr sozial. Wir fuhren mit ihr auf Schikurse. Ich war eine gute Turnerin, hatte aber keine Schiausrüstung. Da es ihr ein Anliegen war, dass alle Kinder mitfahren, organisierte sie für mich die nötige Ausrüstung.

  • Während des Krieges

Unvergesslich ist die Zeit von März 1938 bis zum Schuljahresende 1938 für mich. Das waren meine letzten Monate in Wien vor der Emigration. Da kamen viele Schüler in die Schule, die aus den anderen Schulen ausgeschult worden waren, weil sie jüdisch waren. Ich glaube, wir waren zu dieser Zeit über 50 Kinder in der Klasse.

Die dazu gekommenen Kinder haben mich tief beeindruckt. Die waren alle sehr deprimiert, weil sie zum Teil nicht einmal gewusst hatten, dass sie Juden sind. Sie waren oft aus getauften Familien, christlich erzogen, und auf einmal waren sie Juden. Das werde ich nie vergessen können.

Die ganze Klassengemeinschaft hat sich um diese Kinder gekümmert, wir nahmen sie absolut auf. Aber es gab schon eine Stimmung der Auflösung; mehrere wussten, dass sie emigrieren werden. Es war nur noch eine 'Schule auf Zeit' für viele der Schüler.

Meiner Lateinlehrerin Frau Dr. Klein-Löw ist dann die Flucht nach England gelungen, wo sie als Hausgehilfin gearbeitet hat. Lydia ist die Flucht nach Amerika gelungen. Nelly Szabo, auch eine Freundin aus der Schule, flüchtete ebenfalls nach Amerika.

Ich hatte noch längere Zeit Kontakt zu ihr, aber wenn man sich nie sieht, dann verliert sich das irgendwann. Etlichen aus meiner Klasse gelang die Flucht, aber natürlich nicht allen. Meistens schafften es die wohlhabenderen Familien. Den ärmeren Familien gelang die Flucht oft nicht mehr. Manchmal gelang es ihnen aber wenigstens, ihre Kinder wegzuschicken.

Wie alle jüdischen Kinder ist natürlich auch mein Bruder aus seiner Schule geworfen worden und musste dann im 14. Bezirk in eine Sammelschule für Juden gehen.

Mein Vater hatte in der Nähe des Aspanger Flughafens - dieser Flughafen existierte seit 1912 - ein Grundstück gekauft und bearbeitet. Er hatte es dort gekauft, weil es billig war. Jedes Wochenende fuhren wir also von der einen auf die andere Seite Wiens, nach Eßling, - das war eine lange Fahrt.

Allerdings mussten wir am Schwedenplatz umsteigen, da gab es schon damals das herrliche Eisgeschäft, das es auch heute noch gibt. Wir bekamen jedes Mal ein Eis um zehn Groschen. Ende März 1938 wurde mein Vater verhaftet. Der Nachbar des Grundstückes in Eßling war ein Nazi, das wussten wir. Und dieser Nachbar wollte unser Grundstück haben.

Mein Vater wurde also vorgeladen und aufgefordert, zu unterschreiben, dass er das Grundstück dem Nachbarn übergibt. Mein Vater verweigerte seine Unterschrift mit dem Argument, er hätte das Grundstück gekauft, sei im Grundbuch eingetragen und sähe keine Ursache, es dem Nachbarn zu übergeben.

Er glaubte, als alter Frontkämpfer würde er von den Nazis selbstverständlich respektiert werden. Einen Dreck respektierten das die Nazis. Sie verhafteten und inhaftierten ihn im 20. Bezirk in einer Schule in der Karajangasse. Da wurden die Juden gesammelt und nach Dachau deportiert.

Mein Vater war auf dem so genannten 'Prominententransport' in das KZ Dachau am 1. April 1938. Unter den 150 Häftlingen befanden sich bekannte Politiker und Gegner des nationalsozialistischen Regimes: Christlichsoziale, Monarchisten, Sozialdemokraten, Kommunisten und etwa 50-60 Menschen jüdischer Religion oder Herkunft.

Ab 1936 hatte meine Mutter begonnen, für eine Organisation, die in Zusammenarbeit mit der Kultusgemeinde entstand, jüdische Mädchen als Hausgehilfinnen nach England zu vermitteln. 1938, wenige Tage nach dem Einmarsch der Deutschen, hatten wir wieder eine Hausdurchsuchung.

Diese Hausdurchsuchung unterschied sich durch noch größere Brutalität von der ersten Hausdurchsuchung im Jahre 1936. Die scheuten nicht davor zurück, unsere Federbetten auszuschlitzen und viele Gegenstände zu zerstören. Alle Bücher wurden herausgerissen und teilweise zerrissen. Mein Bruder und ich waren dabei.

Das war eine wichtige politische Schulung für uns. Meine Mutter hatte mir einen Packen Papier in die Hand gegeben und mich damit aufs Klo geschickt. Diese Papiere wären gefährlich für sie geworden. Ich zerriss das alles und schmiss es ins Klo; weg war es.

Sie fanden also nichts, was wirklich für meine Mutter gefährlich geworden wäre, aber sie fanden den Koffer mit den ganzen Unterlagen für die England-Aktion. Sie konfiszierten den Koffer, weil sie glaubten, dass sie daraus vielleicht einen Spionagefall oder so etwas konstruieren könnten. Das waren Nazijünglinge, die nicht Englisch konnten und auch sonst nicht sehr gebildet waren.

Ungefähr 14 Tage nach der Hausdurchsuchung wurde meine Mutter zum Bezirksamt auf der Hietzinger Brücke vorgeladen. Sie nahm mich mit, weil sie dachte, in Gegenwart eines Kindes würden die Nazis ein bisschen moderater mit ihr verfahren.

Sie hatte Angst, denn mein Vater war zu dieser Zeit schon inhaftiert. Wir kamen zu dem Obernazi und der fuhr meine Mutter brutal an: 'Je mehr von denen Sie vermitteln desto besser.' Er verhielt sich so, wie man es von einem richtigen Nazi erwartete.

Zum Schluss sagte er: 'Und am besten, Sie nehmen sich gleich eins von diesen Permits 13 selber.' Diese Bemerkung nahm meine Mutter sehr ernst. Sie beantragte sofort ein Permit, nahm einen dieser Hausmädchenposten selbst an und beantragte unsere Ausreise.

Heute bin ich der Überzeugung, dass dieser Nazi nicht so bösartig war und uns mit seiner letzten Bemerkung einen Hinweis geben wollte. Da aber im Raum noch zwei oder drei SA-Männer anwesend waren, konnte er es nur auf diese brutale Art und Weise tun. Meine Mutter bat mich danach aufzuschreiben, was ich da eben erlebt hatte und irgendwo besitze ich das auch noch.

Mein Bruder und ich sahen unseren Vater nie wieder. Als er aus dem KZ entlassen wurde, waren wir nicht mehr in Österreich. Die Briefe meines Vaters aus dem KZ waren ein erschütterndes Erlebnis für uns, denn die lauteten so: Liebe Liesl, liebe Kinder! Dann war ein großes Stück ausgeschnitten und unten stand:

Es grüßt und küsst euch euer Vater Bela. Ich kann mir nicht vorstellen, was mein Vater geschrieben haben könnte in dem Bewusstsein, dass er in KZ-Haft ist, was er nicht hätte schreiben dürfen. Wir hatten meinem Vater Pakete ins KZ nach Dachau geschickt. Vielleicht hatte er geschrieben, dass er keine Pakete bekommen hat. Ich weiß es nicht, ich weiß es überhaupt nicht. Aber jedenfalls war das etwas, was mir auch sehr eindringlich die Natur des neuen Regimes demonstrierte.

Als ich in die Schule gefahren bin, habe ich in der Innenstadt Juden gesehen, die die Straßen aufwaschen mussten, ich habe die Reaktionen der Bevölkerung erlebt und die offenen Drohungen durchaus ernst genommen. Das war ein eindeutiges Signal für alle, die es wissen wollten.

Es war nicht schwierig, die Notwendigkeit einer Flucht einzusehen, wenngleich wir nicht so ohne weiteres und freudig das Land verlassen haben. Ein Tropfen Wehmut und Angst war auch dabei. Angst, was die Zukunft bringt und natürlich Angst um unseren Vater. Rafael und ich fuhren Mitte September, kurz vor unserem dreizehnten Geburtstag nach London.

Unsere Mutter brachte uns zum Westbahnhof. Ich kann mich erinnern, ich habe dieses Gefühl noch ganz deutlich in mir, ich wusste schon damals ganz genau: Ich komme wieder! Wir wussten, unsere Mutter kommt in zwei, drei Wochen nach, aber wir wussten nicht, dass sie uns früher schickte, weil sie Angst hatte, dass der Krieg ausbricht und wir dann verloren wären.

Viele Kinder mussten ohne ihre Eltern mit Kindertransporten nach England fahren und haben sie nie wieder gesehen. Zum Glück waren wir noch nicht so gescheit, wie wir es jetzt sind. Meine Mutter hat noch die Wohnung aufgelöst, nahm aber keine Möbel, nur Bettwäsche und solche Sachen mit.

Zum Teil verteilte sie unsere Sachen aus der Wohnung an Freunde, denn es war klar, dass mein Vater, wenn er entlassen wird, die Wohnung nicht mehr betraten darf. Unsere Mutter kam zwei oder drei Wochen nach uns, nachdem sie ein Permit für meinen Vater auf der englischen Botschaft deponiert hatte.

Vielleicht aufgrund des Permits wurde mein Vater aus dem Dachau entlassen, aber als er wieder in Wien war - das war im Juli oder August 1939 - existierte die britische Botschaft eigentlich nicht mehr. Offiziell war sie im Urlaub, denn es war ja Urlaubszeit, aber sie kamen nicht zurück, denn der Krieg war absehbar.

Mein Vater hielt sich dann einige Zeit illegal in Budapest auf, wurde aber ausgewiesen und ist nach Wien zurückgekehrt. In Wien lebte er gemeinsam mit anderen Juden in einer so genannten 'Sammelwohnung'. Da man den Juden ihre Wohnungen weggenommen hatte, wohnten viele jüdische Familien zusammen in einer Wohnung.

Ich glaube, mein Vater war im 2. Bezirk. Im September 1940 ist es ihm gelungen, eines von vier Schiffen zu besteigen, die illegal versuchten, Palästina zu erreichen. Im rumänischen Donauhafen Tulcea wurden die Passagiere auf drei Hochseedampfer umgeschifft. Statt wie vorgesehen 150 Passagiere befanden sich - zum Beispiel auf der 'Atlantic' - 1 800 flüchtende Passagiere.

Die Reise verlief sehr dramatisch. Die Mannschaft streikte, forderte mehr Lohn, doch nach über drei Monaten erreichte mein Vater den Hafen von Haifa. Aber nach kurzem Aufenthalt im Internierungslager Atlith bei Haifa transportierten die Briten die knapp dem Tode entronnenen Flüchtlinge mit einem Schiff nach Mauritius.

Mauritius war schrecklich, die Menschen hatten alles verloren, wussten nichts über ihre Verwandten, und viele starben an Tropenkrankheiten. Mein Vater machte sich auf Mauritius ein Stück Land urbar, legte einen Garten an und züchtete Pflanzen, die er dort fand. Er wusste wenigstens, dass wir in England sind und dadurch in relativer Sicherheit.

In London wurden wir vom 'Jewish Committee For Refugee Children' abgeholt und nach Deal gebracht. Deal ist eine kleine Stadt an der Küste in der Nähe von Dover. Dort war ein so genanntes Kinderheim, das von einem Mister Howard geleitet wurde. Mister Howard war Schuldirektor einer einklassigen Landschule.

Er hatte ein großes Haus mit einem großen Garten. In diesem Haus das 'The Glack' hieß, wohnte er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern und nahm Flüchtlingskinder auf, deren Eltern dafür zahlten und solche wie wir, die vom Komitee geschickt wurden. Zwischen den Kindern zahlender Eltern und den Kindern vom Komitee machte er einen großen Unterschied.

Wir vom Komitee mussten im Haushalt und im Garten helfen, die anderen waren dieser Pflicht enthoben. Ich habe Wäsche gewaschen, Betten gemacht und zeitweise in der Küche geholfen; Rafael hat im Garten gearbeitet. Natürlich hat uns das aufgeragt. Mister Howard war eine sehr autoritäre Persönlichkeit.

Er nahm uns mit Vorliebe mit in seine Schule, um uns zu demonstrieren, wie er dort über eine Schar von Kindern herrschte. Er hat vor uns die Kinder über die Finger geschlagen, auch um uns zu zeigen was passiert, wenn wir uns nicht fügen. Mrs. Howard war eine etwas freundlichere Frau, die versuchte, unseren Wünschen, zum Beispiel was das Essen betrifft, nachzukommen.

In dem Kinderheim gab es auch einen Tanzkurs, den Mister Howard mit einem Tanzlehrer für die Jugend im Ort organisierte. Weil mehr Burschen als Mädchen kamen, mussten wir Mädchen aus dem Heim zum Tanzkurs. Das wollten wir nicht, wir waren noch zu jung.

Aber das Schrecklichste war, wenn Mister Howard uns die 'Ehre' gab und uns zum Tanz aufforderte. Er war ein starker Pfeifenraucher und hat nach Rauch gestunken, und ich habe das Tanzen mit ihm in allerschlimmster Erinnerung. Das trieb mir die Tanzlust fürs Leben aus.

Mein Bruder hatte in Wien in der Schule keinen Englischunterricht. Ich hatte drei Jahre Englisch gelernt und konnte mich verständigen. Mein Bruder, der in England seinen zweiten Vornamen Erwin annahm, weil er statt Rafael immer Ralf gerufen wurde und ihn das ärgerte, schwieg zwei Monate lang. Er sprach deutsch, sagte aber kein einziges englisches Wort. Nach zwei Monaten sprach er perfekt Englisch.

Genau zu dieser Zeit kamen wir in die 'Central School', das war die Hauptschule im Ort. Mein Bruder kam in die Bubenschule, und ich ging in die Mädchenschule. Das damalige englische Schulsystem sah vor, dass in den Mädchenschulen viel weniger gelehrt wurde, als in den Bubenschulen.

Mädchen lernten zum Beispiel keine Algebra in Mathematik, während der Erwin mit Algebra geplagt wurde. Aber ich konnte ihm helfen, denn ich hatte in Wien gut gelernt. Meine Deutsch- und Geschichtelehrerin Miss Billings interessierte sich sehr für mich und nahm mich unter ihre Fittiche. Sie gab mir Bücher und ich besitze noch heute eines von ihr. Durch sie wurde der Aufenthalt dort für mich etwas erträglicher, denn wir waren unglücklich in diesem Heim.

Unsere Mutter war in London, aber sie arbeitete in einem Haushalt und konnte uns nicht besuchen. Wir haben uns natürlich bei ihr in unseren Briefen beklagt, aber es nutzte nichts, sie konnte uns nicht bei sich haben, das wäre unmöglich gewesen.

An unserem dreizehnten Geburtstag kam mein Bruder zu mir und sagte: 'So Hannah, jetzt sind wir 13, jetzt schlag ich dich nicht mehr.'

Nach einem Jahr ist unser Aufenthalt in Deal sehr dramatisch zu Ende gegangen. Eines Tages musste mein Bruder wieder im Garten helfen und irgendetwas war nicht zur Zufriedenheit des Mr. Howard geschehen, und er hat ihn zur Rede gestellt.

Mr. Howard war wütend und gab meinem Bruder eine Watschen. Nun waren wir so etwas nicht gewöhnt. Mr. Howard war ein kleiner Mann, mein Bruder ziemlich groß und kräftig, und er schlug zurück. Dieses Ereignis war im Endeffekt ein großes Glück, denn es war der Grund dafür, dass wir sehr schnell nach London geschickt wurden.

Allerdings war das auch das Ende unseres gemeinsamen Lebens, denn Rafael kam in ein Bubenheim, und ich kam in ein Mädchenheim. Meine Mutter verbrachte ihre freien Nachmittage natürlich mit uns. Sie hat uns aus den Heimen abgeholt, wir sind gemeinsam eine Kleinigkeit essen gegangen oder in einem Park spaziert und dann brachte sie uns wieder zurück.

Für uns Kinder war das Erlernen der englischen Sprache leicht, aber für ältere Menschen, so wie meine Mutter, war das ein Problem. Einmal zum Beispiel sind meine Mutter, mein Bruder und ich auf der Straße gegangen. Meine Mutter konnte ein bisschen Englisch und hatte auch inzwischen noch mehr gelernt, aber wir konnten es natürlich besser.

Und wir ärgerten sie mit Schimpfwörtern, und sie wollte, dass wir aufhören und sagte aus voller Überzeugung: 'Oh, pipe up! Sie wollte sagen: 'Halt den Mund!' Das trug natürlich noch mehr zu unserer Belustigung bei, denn es heißt: Pipe down! Es entwickelte sich unter den Emigranten das so genannte Emigranto. Das war Deutsch und Englisch gemischt, wie zum Beispiel der Satz: Ich hab schon meine Schule gechangt.

Frau Dr. Gellner, eine Deutsche, die Direktorin des Mädchenheims in London, hatte einen geistig behinderten Sohn. Michael konnte nicht in die Schule gehen. Ich habe mich mit ihm befreundet und begonnen, ihn zu unterrichten. Das war der Beginn meiner pädagogischen Karriere.

Ich beschloss, mich beruflich mit Kindern zu beschäftigen, nachdem ich wegen der Emigration meinen eigentlichen Berufswunsch, nämlich Ärztin zu werden, aufgegeben hatte. Als ich die Aufnahmeprüfung für eine public school in Bristol - die Badminton School For Girls - bestanden hatte und London verließ, übergab ich meiner ehemaligen Lateinlehrerin aus Wien, Frau Dr. Klein-Löw, die sich 1939 als Hausgehilfin nach London gerettet hatte, den Michael, und sie förderte in weiter. 1946 ging sie wieder zurück nach Wien, wurde Mittelschulprofessorin und Direktorin eines Gymnasiums in Floridsdorf.

Sie wurde Mitglied der Parteivertretung der SPÖ, Mitglied des Zentralkomitees der SPÖ, Mitglied des Bezirksvorstandes der SPÖ Wien/Leopoldstadt, war Schulsprecherin im Parlament, und ich war bis zu ihrem Tod im Jahre 1986 mit ihr befreundet.

Diese public schools sind keine öffentlichen Schulen, sondern sehr teure Schulen für die Kinder von Begüterten. Meine Schule war eine renommierte und sehr fortschrittliche Schule. Es gab mehrere Emigranten, von denen ich anfangs die Jüngste war. Wir hatten sehr viele Möglichkeiten Sport zu treiben, es gab ein Schwimmbad, Tennisplätze, Hockeyfelder und vieles mehr.

Die Schule wurde dann, als das Bombardement auf Bristol zu gefährlich war, in ein vormaliges Hotel an der Nordküste von Devonshire in Lynmouth, einem kleinen Fischerort, evakuiert. Das war eine sehr wilde und sehr schöne Gegend dort. Ich erinnere mich, das Hotel war in Küstenähe, wir schauten hinunter aufs Meer und der Abhang zum Meer war bewachsen mit Rhododendron- SträuchernRhododendren-Sträuchern. So etwas habe ich nie wieder gesehen, ein derartig riesiges Meer Rhododendron.

Wir sind dort sehr viel spazieren gegangen. Diese Spaziergänge waren immer so organisiert, dass eine Schülerin einer höheren Klasse für eine Gruppe von drei bis fünf Schülerinnen einer niederen Klasse verantwortlich war. Wir haben sehr viel politisiert, zum Beispiel über den Heß 14 der damals nach England geflogen war.

Sonntag war entweder Kirchenbesuch oder es gab ein Quäker-Meeting. Die Quäker versammelten sich in einem großen Saal und es wurde nicht gebetet, sondern irgendwer schlug ein Thema vor. Wenn es passte, wurde es aufgegriffen und man sprach darüber. Das artete dann immer in politische Diskussionen aus, was natürlich absolut nicht die Absicht der Veranstalter war. Ich ging entweder zu diesen Quäker-Meetings oder spazieren. Für die Juden gab es nichts, weil es zu wenige jüdische Schülerinnen gab.

Anfang Juni 1941 hatte ich die Prüfungen hinter mir und verließ die Schule mit dem Cambridge School Certificate. Wenn man einen bestimmten Notendurchschnitt erreichte, bekam man auch das London School Certificate dazu und konnte sowohl in Cambridge als auch in London studieren. Das Unterrichtsministerium in Wien erkannte mein Zeugnis 1946 als Maturazeugnis an.

Mein Bruder war in dem Knabenheim und ging noch ein Jahr in die Schule. Danach begann er mit einer Lehre als Feinmechaniker in einer großen Fabrik in London. Der Teil der Fabrik, in dem er arbeitete, wurde nach Cheltenham evakuiert, und dort blieb er eine ziemlich lange Zeit. Er besuchte eine Abendschule und wurde Ingenieur.

Danach arbeitete er sich in einer kleinen Fabrik in Wales hinauf zum Direktor. Da war der Krieg schon zu Ende. Er heiratete in London Rosslyn, die Tochter eines jüdischen Spielzeugfabrikanten und nach der Hochzeit arbeitete er mit in der väterlichen Fabrik. Sie bekamen zwei Söhne, Lorenz und Robert, mit denen er mich einmal nach dem Krieg in Wien besucht hat.

Wir gingen in den Rathauskeller essen. Danach machte ich jahrelang einen Bogen um den Rathauskeller. Auch jetzt, Jahrzehnte später, wenn ich dort vorbeigehe, muss ich noch immer an den Wirbel, den diese beiden kleinen Buben dort veranstalteten, denken.

Noch in den 1950er- Jahren wanderten mein Bruder und seine Familie nach Kanada - in die Nähe von Toronto - aus. Sie bekamen noch zwei Kinder, Tamara und Jonathan, und er übernahm dort die Vertretung einer großen Firma, die mit Drehbänken handelte. Er gab sich weniger mit Produktion, sondern mehr mit Organisation von Service und Verkauf, Import und Export, ab.

Die Ehe ging auseinander, seine Frau verließ ihn, aber die Kinder blieben bei ihm. Später heiratete er Marion, eine Kanadierin. Sie war nicht jüdisch und sie bekamen einen Sohn Matthew. Auch diese Ehe ging auseinander. Mit seiner dritten Frau Neisa, die jüdisch ist, lebt er in den USA, in Miami.

Mein Bruder hat in Miami einen großen jüdischen Freundeskreis, aber er ist nicht religiös und in die Synagoge geht er nur zu Konzerten. Er hat Kontakte zur jüdischen Gemeinde, aber er ist sicher ein Atheist. Seine Kinder sind mit jüdischen und mit nicht jüdischen Partnern verheiratet.

Meine Mutter arbeitete nach ihrer Arbeit als Hausmädchen als Spitalsköchin. Das war besser als im Haushalt zu dienen. Sie konnte das sogar, weil sie ja in Wien oft während der jüdischen Feiertage eine Art Großküche geführt hatte. Nach zwei Jahren, sie war auch schon über Fünfzig und die Arbeit war körperlich schwer, bekam sie einen Büroposten. Als sie dann im Büro arbeitete, mietete sie sich eine kleine Wohnung. So habe ich, nachdem ich die Schule erfolgreich beendet hatte, bei ihr in London gewohnt.

Beim jüdischen Komitee sagten sie mir, ich hätte die Chance, bei einer 'gnädigen Frau' einen Posten im Haushalt zu bekommen, da würde ich alles lernen, was man für die Führung eines guten Haushaltes braucht. Das war Kilometer entfernt von dem, was ich mir über meine Zukunft vorgestellt hatte. Ich ging sehr deprimiert von dort weg und begegnete auf der Straße einer Bekannten meiner Mutter.

Die sagte zu mir: 'Du, ich hab gehört, in Hamsted hat Anna Freud ein Kinderheim aufgemacht und sucht junge Betreuerinnen für dieses Heim. Warum gehst du nicht zu der?' Ich hatte keine Ahnung, wer Anna Freud ist, aber Kinder, das klang gut. Also suchte ich im Telefonbuch und ging dann nach 20, Maresfield Gardens, das war die Adresse von Anna Freud und klopfte an die Tür.

Eine Frau, offensichtlich die Haushälterin, öffnete und sagte im besten Englisch: 'Wat du ju wont' - woraufhin ich sofort wusste, dass sie keine Engländerin ist. Das war Paula Fichtl aus Salzburg, die schon in Wien Haushälterin bei der Familie Freud war. Obwohl sie keine Jüdin war, ist sie mit der Familie Freud in die Emigration gegangen. Ich sagte, dass ich gern mit Miss Freud sprechen würde und wurde für den nächsten Tag eingeladen.

Am nächsten Tag führte man mich in die Bibliothek von Anna Freud, das war auch die Bibliothek von Sigmund Freud, ihrem Vater. Diese Bibliothek war ein großer Raum, ziemlich dunkel und mit einigen Totems, die er erworben hatte. Er interessierte sich sehr für solche Dinge. Zwei Damen saßen in dem Raum, die eine war Anna Freud, eine sehr imposante Erscheinung mit sehr interessanten Augen, einem langen Rock und Haferlschuhen [Trachtenschuhe].

Die andere Dame war Mrs. Burlingham, eine Mitarbeiterin und langjährige Freundin von Anna Freud. Anna Freud führte mit mir ein Interview über meine Familie, meine Geschichte, meine Ausbildung und fragte, warum ich mit Kindern arbeiten wolle. Mrs. Burlingham schwieg und lächelte mir ermutigend zu.

Nach einem zweistündigen Gespräch sagte Anna Freud, ich solle am nächsten Tag nach 5, Netherhall Gardens kommen. Ich würde als 'trainee' für die Arbeit mit den Kindern im Heim und zum Lernen aufgenommen. Ich könne auch dort in einem Haus wohnen und würde ein kleines Taschengeld bekommen.

Das Heim wurde von der 'Foster Parents Plan For War Children', einer amerikanischen Stiftung finanziert, und Anna Freud musste jeden Monat einen Bericht über die Arbeit mit den Kindern schicken, die vom Säuglingsalter bis zum Alter von fünf Jahren waren. Damals wurden Kinder in England im Alter von fünf Jahren eingeschult.

Über zwei Jahre habe ich im Heim gearbeitet und gelernt. Das Personal war so organisiert, daß jede Abteilung eine Leiterin hatte und unter ihr arbeiteten die 'trainees'. Von den meisten Kindern hatten die Eltern keine Wohnung mehr, sie waren umgekommen oder ausgebombt.

Diese obdachlosen Kinder schliefen dann im 'Shelter' und das war eine Katastrophe. Sie waren oft krank, wurden eingesammelt und ins Heim gebracht. Für ältere Kinder gab es dann auch ein Heim am Land. Die jüngeren Kinder sollten in London bleiben, weil Anna Freud sagte, diese Kinder brauchen noch den engen Kontakt mit der Familie, die ja manchmal noch existierte. Es war die Zeit, wo jede Nacht die Flugzeuge kamen; die Kinder mussten dann alle unten im Shelter schlafen. Die älteren Kinder auf dem Land blieben davon verschont.

Ich habe sehr viel erlebt in diesen Jahren bei Anna Freud. Das waren - frei nach Gorki, pflege ich zu sagen - 'Meine Universitäten'. Ich habe dort mehr über Kinder gelernt, als später in Wien auf der Universität. Meine Mutter behauptete damals, meine Welt sei mit Windeln zugehängt, weil ich ganz in dieser Arbeit aufgegangen bin.

Nach etwas über zwei Jahren habe ich mir eine andere Arbeit gesucht, weil es mir auf die Nerven ging, immer die Jüngste zu sein. Als Mitarbeiterin wurde ich geschätzt, aber ich wollte schon endlich eine eigene Gruppe leiten.

Zuerst bin ich zu einer Frau, die so etwas wie eine Großfamilie gegründet hatte gegangen, aber die Methoden, die sie anwendete, waren nicht das, was ich mir vorstellte. Theoretisch hatte alles sehr gut geklungen, aber die Praxis sah anders aus.

Dann hatte ich das Glück im österreichischen Kindergarten des 'Austrian Centres' 15 als Kindergärtnerin arbeiten zu dürfen. Dort übernahm ich dann eine Gruppe. Die Fernseh-Journalistin Toni Spira, die Sängerin Lena Rothstein, der Mathematikprofessor Walter Fleischer und viele andere Emigrantenkinder gingen in diesen Kindergarten.

Das war eine fantastische Gruppe, aus allen ist etwas geworden. Viele waren auf Grund ihres Hintergrundes außergewöhnlich begabt, die meisten hatten jüdische Eltern. Als die Deutschen London mit V2-Raketen beschossen, wurde der Kindergarten für ein Jahr nach Schottland evakuiert. Schottland war sehr interessant für mich, es war eine andere Landschaft und die Bevölkerung war sehr nett zu uns.

Kommunistin war ich schon zu dieser Zeit, aber nicht Mitglied, sondern nur Kandidatin. Ich war deshalb nicht Mitglied der Partei, weil ich nicht aufgenommen wurde. Ich war immer in einer Gruppe, in der viel diskutiert wurde. Wir lasen zusammen die Geschichte der KPDSU und kommentierten sie.

Meine Mutter kritisierte die Partei und war mit vielen Dingen nicht einverstanden. Zum Beispiel auch damit nicht, dass gesagt wurde, Tolstoi sei ein Verräter gewesen. Sie war auch sehr kritisch Stalin gegenüber und meinte, dass er Kirow 16 umbringen ließ.

Auch sie wurde nie in die Partei aufgenommen. Im 'Austrian Centre' arbeiteten wir lange an Plänen über die Organisation der Reemigration nach Österreich und wir waren überzeugt davon, dass Österreich nur darauf warte, dass wir so schnell wie möglich zurückkommen.

  • Nach dem Krieg

Nach dem Krieg suchte mein Vater uns und meine Mutter suchte ihn. Ich glaube, meine Mutter fand ihn, als er noch auf Mauritius war, denn ich bekam aus Mauritius Post von ihm.

Als ich im September 1946 nach Österreich zurückkehrte, übersiedelte meine Mutter einige Monate später zu meinem Vater nach Palästina. Er lebte in Petach Tikva und hatte zu dieser Zeit schon eine Gärtnerei und ein kleines Geschäft. Er hatte Pflanzen aus Mauritius mitgebracht und war bestimmt glücklich, sich dieser Arbeit widmen zu können.

Ich weiß nicht genau, ob das sein Lebenstraum war, wir sprachen nie darüber, und ich weiß auch nicht, ob mein Vater nach allen seinen Erlebnissen noch der Mann war, den meine Mutter gekannt hatte. Bis 1952 wohnten sie zusammen in Israel; er hatte sein kleines Blumengeschäft und die Gärtnerei, und sie arbeitete als Übersetzerin.

Ich kam nach acht Jahren wieder am Wiener Westbahnhof an. Der war nicht wieder zu erkennen. Er war vollkommen zerstört, nur für den Zoll waren Hütten aufgestellt, das sah sehr trist aus.

Zuerst wohnte ich bei der Familie Graber, bei der ich schon das letzte Jahr in London gelebt hatte und deren Kinder im österreichischen Kindergarten waren. Herr Graber war bei der Englischen Armee und hatte dadurch ein Haus am Küniglberg zugewiesen bekommen; ich bekam ein Zimmer im Souterrain. Das Zimmer war sehr schön und zum Garten hinaus. Ich ging zu 'Kinderland' - das war die Kinderorganisation der Partei - und bat um Arbeit in einem Kindergarten.

Sie sagten, ich soll nach Vorarlberg gehen, dort in einer Fabrik arbeiten und dort die FÖJ 17, die Freie Österreichische Jugend, organisieren. Ich habe gesagt: 'Nein, das tue ich nicht!' Das war das zweite Mal in meinem Leben, das ich mich geweigert habe, etwas zu tun, das ich absolut nicht tun wollte.

Daraufhin wurde mir ein Kindergarten mit einer Gruppe zugewiesen. Das Haus, in dem sich der Kindergarten befand, gehörte einem jüdischen Besitzer. Als das Haus dem Besitzer zurückgegeben wurde, war das auch das Ende des Kindergartens.

Eines Tages traf ich auf der Straße eine Bekannte die mir erzählte, dass sie in eine Schule für Kindergärtnerinnen geht. Das wollte ich auch und ging aufs Wiener Jugendamt. Der Leiter des Amtes, Anton Tesarek, hat sich bereits vor dem Krieg sehr für die Psychoanalyse interessiert.

Als er hörte, daßdass ich zwei Jahre bei Anna Freud gelernt hatte, meinte er, ich soll es probieren. Innerhalb von zwei Monaten habe ich mich als Gastschülerin - offiziell war ich Externistin - auf die Abschlussprüfungen vorbereitet und dann die Prüfung bestanden. 1947 wurde ich von der Stadt Wien als Kindergärtnerin angestellt. Nebenberuflich habe noch ich an der Universität Wien Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Englisch studiert und 1952 promoviert.

Auch nachdem ich mein Psychologiestudium abgeschlossen hatte, arbeitete ich weiter als Kindergärtnerin. Daneben erfüllte ich mir einen alten Wunsch und studierte Medizin. Da ich mein Psychologiestudium neben der Arbeit als Kindergärtnerin bewältigt hatte, begann ich auch mit dem Medizinstudium neben der Arbeit und plante, mich nur gegen Ende des Studiums für einige Zeit beurlauben zu lassen. Nachdem ich aber alles gelernt hatte, was mich eigentlich interessierte, habe ich das Studium abgebrochen, denn Ärztin wollte ich ja nicht werden.

Einmal beim Sezieren sezierten israelische Studenten an einem anderen Tisch neben uns. Plötzlich machte einer meiner sehr netten Kollegen antisemitische Bemerkungen über die Gruppe der Israelis. Ich hörte mir das eine Weile an. Als er dann behauptete, er erkenne einen Juden auf zehn Meter Entfernung, habe ich gesagt, dass ich das bezweifle und ihn gefragt: 'Hast du erkannt, dass ich Jüdin bin?' Er war sehr erstaunt! Daraufhin haben wir geredet und ich habe ihn gefragt, wie er zu solchen Auffassungen käme?

Er hat mir erzählt, sein Geschichtsprofessor habe die Schüler in die 'Rassenkunde' eingeführt. Das waren die Lehrer, die in den fünfziger Jahren noch im Schuldienst gearbeitet haben. Ich blieb mit ihm befreundet und wir haben dann natürlich über Antisemitismus und darüber, was während der Nazizeit passiert war, gesprochen. Von all dem hatte er keine Ahnung.

Das war symptomatisch für viele Österreicher damals. Es gab ja auch kaum noch Juden in Österreich. Die wenigen waren entweder unsere Genossen aus der Emigration, die überhaupt nicht religiös waren, oder einige wenige, die aus den KZ zurückgekommen waren. Die Zeit vor dem 2. Weltkrieg war schwer für die Bevölkerung und in solchen Zeiten brauchen sie einen Feind, der an allem Schuld ist. Diese Funktion erfüllten die Juden in der Nazizeit.

Bis 1957 arbeitete ich als Kindergärtnerin, dann als Psychologin für das Zentralkinderheim in Wien. Anfang der 60er Jahre adoptierte ich meinen Sohn Franz Anton, der in diesem Kinderheim lebte. Er war damals 1½ Jahre alt und war am 2. März 1960 in Wien geboren. Er arbeitet als kaufmännischer Angestellter in Wien.

Seit 1967 unterrichtete ich in der 'Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen' Pädagogik und Englisch. Ab 1984 war ich Direktorin dieser Anstalt. Bei uns gab es sicher keinen Antisemitismus, weder bei den Lehrern noch bei den Schülern. Aber ich weiß, es gibt ihn noch heute, er ist einfach nur subtiler geworden. Die heutige Hetze gegen die Ausländer, besonders gegen die Schwarzen, ist an seine Stelle getreten. Jetzt geht die Bevölkerung auf die los, um sich abzureagieren.

In der Zeit zwischen Kinderland, Kindergarten und dieser Anstellung bekam ich ein Stipendium der Israelitischen Kultusgemeinde. Ich bin Mitglied der Kultusgemeinde, weil ich es meinem Vater nie antun würde auszutreten, und unter anderem gedenke ich so meines Vaters. Manchmal bin ich im Tempel, wenn irgendetwas gefeiert wird und ich dazu eingeladen werde. Aber ich gehe nicht aus religiösen Gründen in den Tempel. Als Kind hatte ich einen Glauben, aber die Nazizeit hat mir meinen Glauben geraubt. Wirklich verloren habe ich meinen Glauben, als die Deutschen in Frankreich einmarschiert sind. Wir hatten eine Französisch-Lehrerin, sie war so verzweifelt, begann zu weinen, weil sie alle ihre Verwandten in Frankreich hatte. Dieser ganze Krieg war so schrecklich, da ich dachte: Das kann nicht sein, das hätte ein Gott nie zugelassen. Durch meinen Vater, der bereits 1938 ins KZ deportiert worden war, wusste ich, dass es KZ gab. Aber was dort wirklich passierte, das erfuhr ich viel später und ich dachte, wenn es einen Gott geben würde, hätte er das bestimmt verhindert und nicht zugeschaut.

Ich bin der Meinung, dass die Schilderung der Erschaffung der Welt in der Bibel, aus der Sicht von Menschen vor ein paar 1000 Jahren, grandios ist, denn in Wirklichkeit hat sich die Entwicklung des Menschen genau so abgespielt. Nur passierte das nicht in sechs Tagen, sondern in Epochen.

Wenn man jeden Tag für eine Epoche nimmt, kann man feststellen, das tatsächlich vom Urknall weg bis zur Formierung der Erde und dem Beginn des Lebens im Wasser bis hinauf zum Menschen, alles so gewesen ist. Für mich ist das sehr spannend zu sehen, wie Menschen vor vielen 1000 Jahren die Bibel - man weiß ja nicht, wer das war - Wissen zusammengetragen haben.

Das war im Mittleren Osten, dort entstand die Bibel. Das zeugt davon, dass die Menschen nachdachten, dass sie Phantasie hatten und dass sie gewisse Zusammenhänge erkannten. Das Denkvermögen war da und das Entscheidende ist die Entwicklung der Sprache. Nur dadurch konnte sich all das entwickeln.

Die Religion war eigentlich lange Zeit die Wissenschaft vom Leben, und somit fühle ich mich der Religion verpflichtet. Dass die Religion eine wichtige Rolle im Leben der Menschen spielte und auch heute noch spielt und dass manche Menschen in der Religion in widerlichen Umständen auch wirklich einen gewissen Trost finden, warum sollte ich das ablehnen? Ich stehe zu meinem 'Jude sein', weil die Juden verfolgt wurden und man dem einfach nicht nachgeben darf.

Der Staat Israel ist eine berechtigte Forderung des jüdischen Volkes. Das jüdische Volk hat über die Jahrtausende eine gewisse Identität entwickelt und behalten. Und auf Grund dieser Identität wurde und wird es als minderwertig oder auch als verbrecherisch angesehen.

Ich glaube, dass das jüdische Volk sich nicht in den Grundfähigkeiten von anderen Völkern unterscheidet, wohl aber in seiner Geschichte und in gewissen Einstellungen, die sich aus seiner Geschichte ergeben. Und ich finde es berechtigt, dass die Juden dort einen Staat errichtet haben, wenngleich das 'göttliche Versprechen' für mich völlig bedeutungslos ist.

Aber Juden haben dort immer gelebt und weder die Türken noch die Engländer hatten ein Anrecht auf dieses Land. Meiner Ansicht nach haben die Araber und die Juden ein Recht dort zu leben. Das steht für mich außer Frage und gefühlsmäßig kommt dazu, dass dieses Land meinem Vater die Möglichkeit gab, nach all seinen schrecklichen Erlebnissen endlich in Frieden leben zu können. Ich glaube, der Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern hätte nicht kommen müssen.

Er entstand durch bestimmte historische Bedingungen. Ich bin überzeugt, dass die kämpferischen Teile der Palästinenser, also Djihad usw., noch heute davon träumen, den Staat Israel zu vernichten, und dagegen habe ich etwas. Ich kann weder diese fundamentalistischen Palästinenser verstehen, noch die jüdischen Fundamentalisten.

Dass Sharon nach langem zu der Teileinsicht gelangte, dass das Vorgehen der Fundamentalisten es für Jahrzehnte verhindert, Frieden in der Region zu erreichen, und dass man irgendwo einen Anfang machen muss, ist beachtlich. Ich finde es beachtlich, dass ein alter Militär diesen Schritt gesetzt hat, das hätte ich nie für möglich gehalten.

Aber daran sieht man, dass der Mensch eben doch lernfähig ist. Dass die jüdischen Fundamentalisten drohen, den Tempelberg zu vernichten, ist eine Katastrophe. Ich meine, es gibt keinen anderen Weg, als sich zu verständigen, aber solange der Arafat da ist, wird das nicht gehen.

Zweimal war ich in Israel. Einmal zu einem kinderpsychologischer Kongress, ich glaube in Haifa, und einmal mit meinem Bruder - vor ungefähr zehn Jahren. Alles was ich erlebt habe, hat mich tief beeindruckt. Ich traf dort Jossi Zur, meinen Cousin zweiten Grades, der in einem Kibbutz 18 im Negev lebt.

Jossi hat viele Jahre über unsere Familie recherchiert und ein ganzes Buch mit Lebensgeschichten, Fotos und Stammbäumen zusammengestellt. Außerdem hat er ein interessantes Hobby: Der Kibbutz hat ihm ein kleines Häuschen zur Verfügung gestellt. In diesem steht sein Teleskop, mit dem er den Himmel beobachtet.

Als ich ihn besuchte, zeigte und erklärte er mir alles, und das war sehr aufregend. Er ist mit einer aus Ungarn stammenden Frau verheiratet und sie haben Kinder. Einmal ging ich sogar mit ihm auf Nachtpatroullie. Sie müssen die ganze Nacht patrouillieren, weil Araber aus Dörfern in der Nähe versuchen, über die Grenze hinweg Kühe zu stehlen. Jossi ist absolut für eine Verständigung, er wohnt in der Nähe von Hebron, und half einem arabischen Dorf die Volkschule für die Kinder zu errichten. Ich bin auch durchs Land gereist und habe mir die alten Kulturstätten angeschaut.

Seit 1986 arbeitete ich, gemeinsam mit der Volkshilfe, an einem Ausbildungsprojekt für saharauische Frauen. Durch eine Delegation aus den Flüchtlingslagern der Polisario 19 in der Westsahara, welche die Bildungsanstalt besuchte, kamen wir auf diese Idee. Das Leben in der algerischen Wüste ist sehr hart, die Kinder brauchen regelmäßiges Essen und die Frauen wollten Hilfe, um richtig mit den kleinen Kindern zu arbeiten.

Ich half gern bei dem Projekt 'Ausbildung von Kindergärtnerinnen für die Flüchtlingslager in der Westsahara'. Ab 1990 förderte die österreichische Bundesregierung das Projekt. Oft, besonders nach meiner Pensionierung im Jahre 1990, reiste ich dann [mindestens sechzehn Mal] für je 14 Tage selber in die Flüchtlingslager.

Österreich ist nach meiner Rückkehr wieder zu meiner Heimat geworden. Ich fühle mich zu Hause, sonst wäre ich nicht hier geblieben. Ich hätte immer noch die Möglichkeit gehabt, irgendwo anders hin zu gehen. Ich bin heute wirklich froh, dass ich in Österreich bin, ich möchte nicht in Amerika leben und England war mir nie ein wirkliches Zuhause. Antisemitismus habe ich die ganze Zeit über gespürt, aber ich habe auch versucht, etwas dagegen zu tun.

Vor zwei oder drei Jahren erhielt ich von der Stadt Wien für meine pädagogische Arbeit die Glöckel-Medaille. Diese Medaille ist ein Zeichen der Anerkennung und Würdigung für meine Leistungen in der Pädagogik. Diese Auszeichnung bedeutet mir wirklich viel, daran habe ich eine große Freude. Aber ich würde das ungefragt nicht erzählen, denn Auszeichnungen, Medaillen und Anerkennungen jeglicher Art sind für mich nicht wichtig. Wichtig war immer nur die Arbeit für und mit den Kindern.

  • Glossar:

1 Der 13. Zionistische Kongress, Karlsbad 1923: Der Artikel 4 des Palästinamandates des Völkerbundes verlangte die Gründung einer Jüdischen Körperschaft, der Jewish Agency for Palestine, um 'die Zusammenarbeit aller Juden, die zum Aufbau einer nationalen jüdischen Heimstätte beitragen möchten, zu sichern.'

2 Schabbat [hebr.: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche. Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen. Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

3 Tandler, Julius nimmt durch seine anatomischen Forschungsarbeiten einen bedeutenden Platz in der Geschichte dieses medizinischen Faches ein. Noch größere Bedeutung erlangte er [ab 1920] als Wiener Stadtrat für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen.

Er engagierte sich besonders im Kampf gegen die als 'Wiener Krankheit' bezeichnete Tuberkulose und arbeitete am Ausbau der Gesundheitsfürsorge arbeitete. Mit seinem'geschlossenen System der Fürsorge' verwirklichte er das humanitäre Prinzip der Fürsorge.

4 Bassena ist ein in Wien üblicher Ausdruck für eine öffentliche Wasserstelle in einem alten Mietshaus. Die Bassena war nicht nur die Wasserstelle des Hauses, sondern auch allgemeiner Treffpunkt. An der Bassena gedieh vor allem der Tratsch, Bassenatratsch genannt.

5 Die Österreichischen Kinderfreunde sind eine der größten österreichischen Familienorganisationen und entstanden aus der Arbeiterbewegung. Die Kinderfreunde sind eine Vorfeldorganisation der SPÖ.

6 Pessach: Feiertag am 1. Frühlingsvollmond, zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, auch als Fest der ungesäuerten Brote [Mazza] bezeichnet.

7 Mazzot [Einz

Mazza]: Ungesäuertes Brot, für das nur eine der fünf Getreidearten Weizen, Gerste, Dinkel, Hafer oder Roggen verwendet werden darf. Die Mazzot wird als das 'Brot der Armut' bezeichnet, 'das unsere Väter in Ägypten gegessen haben'.

Es gilt aber auch als das Brot der Erlösung, die so schnell kam, 'dass der Teig unserer Vorfahren keine Zeit hatte zu säuern', bevor er gebacken wurde. Mazza essen gilt nur am ersten Abend des Pessachfestes, dem Sederabend, als Pflicht. An den restlichen Tagen des Festes darf man zwar weiterhin nichts Gesäuertes [Chamez] zu sich nehmen, muss aber keine Mazza essen.

8 Gracchus (lat. der Gnadenreiche, gesprochen: Grachus) ist der Beiname einer vornehmen plebejischen Familie in der römischen Republik. Die Sozialreformer (Gracchische Reform) Tiberius (der jüngere) und Gaius Gracchus werden unter der Bezeichnung 'die Gracchen' zusammengefasst.

9 DÖW: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes: Es wurde 1963 von ehemaligen WiderstandskämpferInnen sowie von engagierten Wissenschaftlern gegründet. Inhaltliche Schwerpunkte: Widerstand und Verfolgung, Exil, NS-Verbrechen, insbesondere Holocaust und NS- Medizinverbrechen, NS- und Nachkriegsjustiz, Rechtsextremismus nach 1945, Restitution und 'Wiedergutmachung' nach 1945.

10 Die kommunistisch geführte 'Rote Hilfe' entstand [ebenso wie die 'Sozialistische Arbeiterhilfe'] nach dem Bürgerkrieg 1934 als Reaktion auf die Verhaftung und Entlassung von Arbeitern und Angestellten in Betrieben und Dienststellen.

11 Dollfuß, Engelbert [geb.1892]: Politiker, nach 1. Weltkrieg Sekretär des Niederösterreichischen Bauernbundes, 1927 Direktor der Niederösterreichischen Landwirtschaftskammer, 1931 Minister für Land- und Forstwirtschaft, 1932-1934 Bundeskanzler und Außenminister, März 1933 Ausschaltung des Parlaments, 1933 verbot Dollfuß die NSDAP, die Kommunistische Partei und den Republikanischen Schutzbund, 1934 nach den Februarkämpfen, auch die Sozialdemokratische Partei. Am 25. Juli 1934 wurde Dollfuß im Zuge eines nationalsozialistischen Putschversuches ermordet.

12 Pejes od. Peies [hebr: Peot]: die jiddische Bezeichnung für die von frommen Juden getragenen Schläfenlocken. Das Tragen des Bartes und der Schläfenlocken geht auf das biblische Verbot zurück, das Gesicht mit scharfen und schneidenden Gegenständen zu berühren.

13 Permit [engl.: Erlaubnis]: Visum, Einreisegenehmigung

14 Heß, Rudolf: Der Privatsekretär und Stellvertreter Adolf Hitlers hatte maßgeblichen Anteil an der Entfaltung des Führerkults und an der Durchsetzung des bedingungslosen Führerprinzips im nationalsozialistischen Deutschland. 1941 flog Heß nach Schottland, um mit dem Anführer - so glaubte er jedenfalls - der englischen Friedensbewegung, dem Duke of Hamilton, über Frieden zu verhandeln.

Dabei geriet Heß in britische Kriegsgefangenschaft. Sein Flug wurde vom Nazi-Regime in der Öffentlichkeit als Verrat gewertet und Heß wurde für verrückt erklärt.. In den Nürnberger Prozessen wurde Heß zu lebenslanger Haft verurteilt.

15 Austrian Centre: Das "Austrian Centre" betrieb vier Häuser in London, welche zentrale Treffpunkte für viele Österreicher wurden, und wesentlich zur Freundschaft mit der englischen Bevölkerung beitrugen. Die vielfältigen Aktivitäten umfassten Klubtätigkeit, einen Gasthausbetrieb, Kulturveranstaltungen, Publikationen und die Wochenzeitung 'Zeitspiegel'.

16 Kirow, Sergej: Charismatischer und populärer Leningrader Parteiführer. Als 1934 ein Gerücht verbreitet wurde, dass Kirow Stalin ersetzen könnte, wurde er kurz darauf in seinem Büro von einem geheimen Agenten unter der Anordnung von Stalin ermordet.

17 Freie Österreichische Jugend [FÖJ]: Die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Österreichs. Sie wurde 1945 als überparteiliche 'österreichische und antifaschistische' Vereinigung gegründet. Bis Frühling 1956 zogen sich die sozialistischen, christlichen und parteilosen Aktivisten zurück. Die FÖJ wurde, wenn auch formal unabhängig, zu einer kommunistischen Teilorganisation.

18 Kibbutz [Pl.: Kibbutzim]: landwirtschaftliche Kollektivsiedlung in Palästina, bzw. Israel, die auf genossenschaftlichem Eigentum und gemeinschaftlicher Arbeit beruht.

19 Polisario, genauer die Frente Polisario ist eine militärische und politische Organisation in der West-Sahara. Sie begann den bewaffneten Unabhängigkeitskampf gegen die spanische Kolonialmacht [bis 1975], und setzte ihn danach gegen Mauretanien und Marokko, welche die West-Sahara besetzten, fort.

Nach einem Friedensvertrag mit Mauretanien im Jahre 1979 ging die Auseinandersetzung mit Marokko noch bis zum Beginn des Waffenstillstandsabkommens im Jahr 1991 weiter. Heute ist die West-Sahara durch in zwei Zonen geteilt: Den Westen kontrolliert Marokko, das östliche Drittel wird von der Polisario gehalten.