Manfred Wonsch

Manfred Wonsch bei einer Veranstaltung mit seiner Bekannten Susi Kohn im Gespräch

Manfred Wonsch
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Juli 2002
Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Ich sehe Manfred Wonsch das erste Mal bei ESRA 1, denn er besucht dort regelmäßig das Kaffeehaus. Oft sind seine 9jährigen Zwillingsenkeltöchter, die er sehr liebt, dabei oder sie holen ihren Großvater ab. Ein Traum würde für ihn in Erfüllung gehen, dürften sie die jüdische Schule besuchen. Es wird ihnen aber verwehrt, weil ihre Mutter nach halachischem Gesetz 2 keine Jüdin ist. Herr Wonsch ist sofort bereit, mir ein Interview zu geben und bemüht sich sehr engagiert, mir weitere Interviewpartner zu vermitteln. Er empfängt mich wenig später in seiner Wohnung im 14. Bezirk und erzählt mir seine Lebensgeschichte.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Rückkehr nach Wien
Glossar

Meine Familiengeschichte

Otto Liebling, der Sohn meiner Großtante Lilli, lebt noch heute in Amerika. Ich stehe mit ihm in Verbindung. Er hat mir die ganze Ahnengalerie unserer Familie geschickt, weil ich ihm erklärt habe, dass ich in Österreich der letzte männliche lebende Wonsch bin. Er hat gesagt, in Amerika gibt es noch zwei Gruppen der Wonschs. Er wollte wissen, ob der Urgroßvater Geschwister hatte. Mein Urgroßvater wurde 1856 in Polen geboren, hieß Isaak Wonsch und war Rechtsanwalt. Ob er Geschwister hatte, konnte ich nicht herausfinden. Meine Urgroßmutter hieß Wilma. Sie hatten drei Söhne und eine Tochter. Mein Großvater, Oskar Wonsch, wurde am 11. März 1879 in Polen geboren. Von seinen Brüdern Adolf und Willi und seiner Schwester Lilli Liebling, geborene Wonsch, weiß ich die Geburtsdaten nicht.

Die Urgroßeltern kamen am Anfang des 20. Jahrhunderts nach Wien. Auch mein Großvater, meine Großmutter und die Geschwister meines Großvaters sind nach Wien übersiedelt. Sie haben ein perfektes Deutsch gesprochen. Meine Urgroßmutter starb 1923 oder 1924 in Wien. Sie liegt auf dem Zentralfriedhof am 4. Tor begraben.

Mein Großvater hat sich nach dem 1. Weltkrieg, mit 38 Jahren, eine Existenz aufgebaut, man könnte sogar sagen, er hat sich ein kleines Imperium in Wien aufgebaut. Eigentlich war er gelernter Zuckerbäcker. Er war musikalisch, kannte viele Lieder und hat sehr gut gesungen - auch Opernarien. Ich glaube, er hatte eine Verbindung zu einer polnischen Opernsängerin. Er hat fünf Sprachen gesprochen: Deutsch, Polnisch, Englisch, Italienisch und Französisch.. In Wien besaß er zwei Geschäfte mit Textilien und zwölf Ratenhändlern, heute sagt man Vertreter dazu. Die Ratenhändler sind in Wohnungen gegangen, haben die Ware angepriesen, und die Leute konnten in kleinen Raten zahlen.

Die Großeltern waren nicht reich, aber sie waren wohlhabend. Sie hatten ein schönes gutbürgerliches Leben. Sie besaßen ein Haus im 21. Bezirk, in der Jenneweingasse und ein Haus. Gewohnt haben sie in einer Wohnung im 20. Bezirk, in der Kluckygasse Nummer 1. Die Wohnung bestand aus einem kleinen Vorzimmer, zwei Kabinetten und einer Küche. Sie war sehr schön eingerichtet.

Meine Großmutter, Helene Wonsch, geborene Felder, wurde am 14. April 1874 in Wien geboren. Ihr jüdischer Name war Scheije. Sie war um fünf Jahre älter als mein Großvater. Die Großmutter war sehr gläubig. Sie war so gläubig, dass sie nicht nur zu Pessach 3, sondern das ganze Jahr die Türschnallen überzogen hat. In der Küche war milchig und fleischig getrennt. Wenn eine Fliege im Zimmer war, hat sie die nie erschlagen, sie hat sie oft zwanzig Minuten lang gejagt - bis sie draußen war. Sie war eine kluge Frau, hatte eine herrliche Ausstrahlung und herrliche Aussprüche. Einer davon ist mir bis heute geblieben, sie hat immer gesagt: Am Anfang bedenke immer das Ende! Das ist richtig, das habe ich an meine Enkeltöchter weitergegeben. Wenn man etwas macht, dann nicht gleich und spontan, sondern: zuerst sollte man überlegen und dann handeln oder sprechen. Meine Großmutter war sehr krank und mein Großvater war ein großer, starker Mann. Sie hat zu ihm gesagt: 'Ich sag dir was, ich kann dir keine Frau mehr sein. Ich bin klug, ich weiß, du bist ein rüstiger Mann, du brauchst noch eine Frau. Mein Großvater hat Bekanntschaften gehabt, mit einer oder zwei Damen hatte er Beziehungen, das hat meine Großmutter gewusst, und sie hat es toleriert.

Meine Großeltern väterlicherseits hatten zwei Söhne. Mein Onkel Maximilian wurde 1904 in Wien geboren und mein Vater Eduard wurde am 16. Juni 1910 in Wien geboren.

Meine Großeltern mütterlicherseits waren nicht jüdisch. Meine Großmutter hieß Karoline Wilcek, sie starb 1934. Ihren Geburtsnamen kenne ich nicht. Der Großvater hieß Franz Wilcek. Er wurde ungefähr 1876 in Oberungarn [heute Slowakei] geboren. Er arbeitete in Wien in einer Lokomotivfabrik im 9. Bezirk. Meine Mutter Miriam wurde am 3. Juni 1912 in Wien geboren.

Mein Vater ist im 20. Bezirk in die Bürgerschule gegangen. Er war ein ausgesprochen guter Schüler, hat alle Gegenstände mit 'sehr gut' absolviert. Zwei Noten - hat er immer gesagt - sind ihm geschenkt worden: Zeichnen und Turnen. In allen anderen Gegenständen war er überragend. Nach der Schule bekam er eine kaufmännische Ausbildung. Er liebte die Heurigen und Heurigenlieder und ging gern in Operetten. Er hat auch jeden Komponisten und Textdichter gekannt: das war bei ihm ganz enorm.

Meine Eltern wohnten beide in der Kluckygasse, mein Vater auf Nummer eins, meine Mutter auf Nummer acht. Sie kannten sich schon als Jugendliche. Als mein Vater 18 Jahre alt war, war meine Mutter 16. Da hat mein Vater meine Mutter nach Deutschland entführt, und sie haben einige Zeit zusammen in Berlin gelebt. Auf beiden Seiten gab es Widerstände gegen die Beziehung

1928 ist meine Mutter zum Judentum übergetreten. Der Widerstand gegen die Heirat meiner Eltern war von der mütterlichen Seite gravierender, als von der väterlichen Seite. Die Eltern meiner Mutter waren Antisemiten. Die waren entsetzt darüber, dass sie einen Juden heiraten wollte, aber meine Mutter hat sich damals schon über das alles hinweggesetzt.

Meine Kindheit

Geheiratet haben meine Eltern 1931, da war meine Mutter schon in anderen Umständen mit meinem Bruder. Mein Bruder Rudolf, sein jüdischer Name war Ruven, wurde am 22. März.1932 geboren. Ich wurde am 8. Juni 1933 in Wien geboren, mein jüdischer Name ist Mordechai. Wir wurden beide beschnitten, waren in der Kultusgemeinde gemeldet und wurden jüdisch erzogen.

Der Umgang zu den Großeltern mütterlicherseits war nicht sehr intensiv. Wir haben schon als Kinder gespürt, dass wir für sie nicht vollwertig waren. Ich war sehr oft bei meinen Großeltern väterlicherseits. Meine Eltern hatten wenig Zeit, mein Bruder war sogar wochenlang bei einer Pflegedame untergebracht. Wir wurden verteilt, weil die elterliche Wohnung nicht sehr groß war.

Meine Großeltern mussten 1938 in eine größere Wohnung in der Klosterneuburgerstrasse. Dort lebten dann vier Familien zusammen, die von dort abtransportiert wurden. Herr Klammfeld, einer, der mit ihnen zusammen dort gewohnt hatte, starb 1999. Ich kann mich an die Wohnung, in die sie einquartiert wurden, erinnern und daran, dass sie ein Vogelhaus mit einem Hansi hatten, und mein Bruder und ich haben mit dem Hansi immer gespielt haben. Mein Großvater hätte sich retten können, aber er wollte meine Großmutter nicht allein lassen. 1942 wurden sie nach Theresienstadt deportiert, und sie sind beide umgekommen. Sie sind verhungert, sie blieben sogar in Theresienstadt koscher 4. Seine zwei Häuser hatte der Großvater 1938 jeweils einem der Ratenhändler, die für ihn gearbeitet hatten, überlassen. Auch Truhen mit Wertgegenständen sollten sie für ihn aufheben.

Mein Urgroßvater starb 1938. Er wurde 84 Jahre alt. Seine einzige Tochter Lilli hatte die Gestapo geholt. In vier Tagen im Augarten haben sie Lilli so zugerichtet, dass ihn, wie sie entlassen worden ist und an der Tür geläutet hat, der Schlag getroffen hat. Er hat seine eigene Tochter nicht wieder erkannt. Dadurch hat er sich glücklicherweise, muss man heute sagen, das ganze Leid erspart.

Während des Krieges

Wie der Hitler 1938 in Österreich einmarschiert ist, haben wir in der Wallensteinstrasse gewohnt. Gegenüber war ein Caféhaus. Das war das Stammkaffee meines Vaters. Eines Tages sind Gestapoleute gekommen und haben gerufen: 'Alle Juden raus!' Mein Vater hat zum Ober gesagt: 'Karl, wir spielen Poker', ist seelenruhig sitzen geblieben und hat mit dem Ober Karten gespielt. Er hat Polizisten gekannt, einer hatte ihn sogar gewarnt: 'Eddie, verschwinde, wir haben für Ostern einen Haftbefehl für dich.' Aber wie es bei den meisten Wiener Juden war, hat auch mein Vater das nicht geglaubt - auch mein Großvater hatte das nicht geglaubt. Die Großeltern wollten in Wien bleiben. Der Großvater und seine beiden Brüder waren im 1. Weltkrieg hoch dekorierte Leute, und die haben halt geglaubt, dass ihnen nichts passieren kann.

Am Ostersonntag hat es geläutet. Mein Vater wurde verhaftet und nach Deutschland, ins KZ Dachau, gebracht. Das waren die ersten Transporte, Hermann Leopoldi 5 war auch dabei. Meine Mutter hat gesagt, sie sei eine geborene Christin und dadurch hatte sie gewisse Vorteile. Sie wollte einen Pass für sich und uns Kinder, aber im Pass war das 'J' für Jude eingestempelt.

Meine Mutter kam dann auf eine gute Idee. Sie hat Kakao über den Pass geschüttet, die Seite herausgerissen und ist weinend aufs Magistrat gegangen. Sie hat gesagt, sie will mit uns nach Prag fahren, zu ihren Verwandten, aber: 'Mein kleiner Bub hat das heraus gerissen, ich bin verzweifelt!' Die haben einen neuen Pass ausgestellt, und der 'J' Stempel war so schwach, dass man ihn ziemlich leicht entfernen konnte. Dann ist meine Mutter zum Morzinplatz 6 gegangen und hat dort behauptet, sie lasse sich von dem Juden scheiden, aber nur unter der Bedingung, dass man ihn aus dem KZ entlässt.

Der Bruder meines Vaters war 1937 nach Amerika gegangen, der hatte das schon irgendwie geahnt. Dadurch, dass er kinderlos geblieben war, hat er uns immer unterstützt. Er hat in Amerika ganz klein angefangen, hat in einem Kleidergeschäft gearbeitet und nichts anderes gemacht, als Kleiderhaken auf die Stangen zu hängen. Er hat sich dann aber raufgearbeitet und ein sehr gutes Leben geführt.

Meine Mutter ist mit uns im Oktober 1938 nach Prag gefahren und Ende 1939 über Brünn zurück nach Wien, weil die Deutschen die Tschechoslowakei überfallen haben. Sie hatte kein Geld mehr und wusste nicht mehr, wohin. Da ist sie mit uns wieder nach Wien gekommen. Mein Vater war inzwischen entlassen und auch in Wien. Er hat gesagt: 'Nur nicht in den Osten, das werden wir alle nicht überleben. Wir müssen schauen, dass wir irgendwie in den Süden kommen.' Wir hatten keine Wohnung mehr und waren dann getrennt versteckt. Ich glaube, wir waren auch kurze Zeit bei der Familie meiner Mutter. Mein Vater hat dann gemeint, dass wir schauen müssen, dass wir nach Jugoslawien hinunter kommen.

Wir schafften es mit großen Hindernissen nach Zagreb. Dann kamen die Deutschen und die Italiener auch dorthin. Mein Vater hatte von den Großeltern Geld und einen Brillantring bekommen. In Zagreb hatten wir zwei Mal in der Woche die Gestapo in der Wohnung. Sie haben oft die Juden stundenlang ins Klo eingesperrt, um in Ruhe Geld oder Wertsachen zu stehlen. Mein Vater hat seinen Rasierpinsel aufgedreht, den Brillantring hinein gegeben, ihn dann wieder zugedreht und voller Rasierschaum stehen lassen. Das Geld hatte er im Koffergriff. Er hat den Griff ruiniert, hat das Geld dann mit Schnüren umwickelt, dass es wieder ein Griff wurde und gesagt: 'Sie werden es jeden Tag in der Hand haben, aber sie werden das Geld nicht bekommen.' Sie haben es wirklich nicht gefunden. Mein Bruder und ich hatten oft große Angst, und wir haben uns aneinander geklammert. Wir hatten auch Angst, dass die Deutschen nach Zagreb kommen und das Wasser vergiften.

Dann hat es geheißen, die Juden müssen sich anmelden. Mein Vater, meine Mutter und ich sind gegangen, mein Bruder ist in der Wohnung zurückgeblieben. Dort hat man uns gleich eingesperrt. Mein Bruder wurde dann bei Bekannten versteckt, aber er hat nicht gewusst, wo wir sind. Meinen Vater haben sie von dort in ein Lager gebracht. Er hatte eine Thermoskanne, die durfte er bei sich tragen. Das Geld hat er in einem Präservativ versteckt, es in die Thermoskanne geschoben und hat dann Wasser hineingegossen. Während einer günstigen Gelegenheit im Lager hat er die Thermosflasche zerschlagen, hat die Ustascha [Anm.: kroatische Faschisten] bestochen und konnte fliehen. Das war sein Glück. Ein paar Tage später haben wir in der Zeitung gelesen, dass in dem Lager alle erschossen worden sind.

Ich war in einer Männerzelle mit achtzehn Leuten. Ein Mann, er war schlank, rothaarig und hatte Sommersprossen, war sehr lustig. Er hat in der Zelle den Clown gespielt. Einmal, in der Früh, hat er sich an einem Balken erhängt, dabei hatte er alle Eingesperrten so aufgemuntert. Ich war acht Jahre alt und werde das nie vergessen. Meine Mutter wurde nach einem Monat entlassen; ich war am längsten eingesperrt.

Als wir wieder zusammen waren, hat mein Vater gesagt, dass wir wieder flüchten müssen. Wir sind nach Ljubljana [heute Slowenien] gefahren, da waren die Italiener, und die haben uns nach Oberitalien geschafft und interniert. Das haben sie Confino Libero, freie Internierung, genannt. Da haben wir einen Raum im damaligen faschistischen Parteisekretariat bekommen.

Nach einer Woche stellte sich heraus, dass sie geglaubt hatten, wir seien Deutsche. Ein Capitano, der Deutsch und Italienisch gesprochen hat, hat uns dann hinaus geworfen und uns ein ganz kleines Quartier gegeben. Wir durften die Ortschaft nicht verlassen, aber eines Tages ist mein Vater, der die Internierung nicht ausgehalten hat, mit meiner Mutter nach Ferrara gefahren, und am Bahnhof wurden sie verhaftet. Mein Bruder und ich sind allein zurück geblieben. Wir waren ein dreiviertel Jahr ohne unsere Eltern. Wir haben lange Zeit nicht gewusst, wo unsere Eltern sind. Betteln sind wir gegangen. Mein Bruder hat im Gemeindehaus auf die Fahrräder aufgepasst und dafür Geld gekriegt. Neben uns war ein Haus, da war ein Kino drin und da bin ich hingegangen und habe beim Umspulen der Filmen geholfen. Dafür habe ich etwas Geld dafür bekommen.

Der faschistische Parteisekretär war meinen Eltern zugetan und hat sich eine Zeitlang um uns gekümmert. Aber er bekam Angst vor Schwierigkeiten und hat sich dann nicht mehr um uns gekümmert. Aber die Köchin der Gendarmerie dort hat uns immer etwas zugesteckt. Ohne die Italiener hätten wir das alles nicht überlebt. Mein Bruder hat dort seinen zehnten Geburtstag gehabt, da hat er gesagt: 'Ich wünsche mir, dass ich eine Zigarette rauchen kann.' Er bekam eine Zigarette, und ihm ist schlecht geworden. Er war ganz weiß im Gesicht, so dass ich als Jüngerer mir große Sorgen um ihn gemacht habe. Er hat sich dann niedergelegt und war nicht mehr ansprechbar, aber er ist trotzdem Raucher geworden, und ich bin es erst mit meinem einunddreißigsten Lebensjahr geworden.

Nach etwa einem dreiviertel Jahr kam ein italienischer Faschist mit der Order uns abzuholen. Der Faschist hat gesagt, er müsse uns im Lager Ferramonti di Tarsia abliefern. Das Lager befand sich in Kalabrien, in der Nähe von Cosenza. Wir mussten durch ganz Italien. In Rom hat er uns bei seiner Familie nächtigen lassen. In seinem Zimmer, auf seinem Schreibtisch, standen zwei Bilder: eines von Hitler und eines von Mussolini. Er hat zwei Klappbetten für uns aufgestellt, und bevor wir noch ins Zimmer gegangen sind, hat er die Bilder umgedreht. In der Früh hat sich heraus gestellt, dass seine Mutter sehr katholisch war und sein Bruder Kommunist, wie es eben in Italien in den Familien üblich war. Er war Soldat und hat seinen Dienst machen müssen. Die zweite Station war Neapel, und da hat er uns noch die Sehenswürdigkeiten der Stadt gezeigt. In Neapel haben wir mit ihm zusammen einen anderen Faschisten, einen Österreicher, getroffen. Der war höchstens zwanzig Jahre alt. Er ist auf uns zugekommen, hat uns gestreichelt, uns abgeküsst, hat uns riesige Pfirsiche gegeben und hat gesagt: 'Für mich seid ihr keine Juden, für mich seid ihr ein Stück Heimat.' Das war so menschlich, ich werde es nie vergessen.

Im KZ Ferramonti di Tarsia waren auch unsere Eltern. Wir wurden in anderen Baracken als unsere Eltern untergebracht. Wir waren 20 bis 25 Kinder im Lager, die sich irgendwie haben durchschlagen müssen. Wir waren aus allen Nationen. Der bekannte Jazzmusiker Oskar Klein war auch in dem Lager eingesperrt. Ein Deutscher Jude aus Würzburg hat uns Religion gelehrt. Eines Tages hat man Säcke aus dem Lager getragen. Wir haben nicht gewusst, was in den Säcken ist. Es waren Leichen, und eine davon war unser Lehrer aus Würzburg. Er ist einfach gestorben. Er war ein sehr großer staatlicher Mann mit einer Vollglatze, aber ein sehr lustiger Kerl. Vielleicht hat er sich umgebracht, oder es war die Hitze. Es gab nur zwei Brunnen, da konnte man die Hand nicht unter das Wasser halten, so heiß war es.

Appell war immer um fünf in der Früh vor den Baracken. Da hat natürlich jeder erscheinen müssen. Wer krank war, war sehr schlecht dran. Die Bewacher waren immer ein Italiener und ein deutscher SS Mann. Der Italiener hatte in der Patronentasche keine Patronen, sondern ein paar Oliven und altes Brot. Er hat es uns immer hingeschmissen, aber wenn es der Deutsche rechtzeitig gesehen hat, ist er sofort mit seinen Füßen drauf gestanden, dann haben wir nichts bekommen. Wir Kinder haben relativ gut italienisch gesprochen und der Italiener hat immer gesagt: 'Wann wird dieser verdammte Krieg endlich zu Ende sein? Das ewige Morden und die armen Kinder.' Der SS Mann hat gefragt: 'Was hat er gesagt', da habe ich geantwortet: 'Heute Nacht wird es wahrscheinlich regnen, aber Morgen wird es wahrscheinlich wieder relativ heiß werden.' So habe ich damals schon reagieren müssen.

Dann haben die Luftkämpfe begonnen. Die Deutschen waren in den Bergen, haben Flugzeuge beschossen. Die ganze Glut ist zu uns runtergekommen. Ich bin einmal bei den Luftkämpfen am Fuß verletzt worden.

Mitte Juli 1943 war die Invasion der Alliierten auf Sizilien, und im Herbst 1943 war Italien vom Faschismus befreit. Die Italiener wechselten die Seite und kämpften nun mit den alliierten Truppen gegen Hitler. Das Lager wurde befreit, und ich habe den ersten Farbigen in meinem Leben gesehen. Ich war elf Jahre alt und unterernährt. Ich konnte mit eigener Kraft gar nicht mehr gehen, sie haben mich mit einem Wagerl geführt. Die Amerikaner haben Dosen mit Lebensmitteln verteilt, aber wir haben sie nicht gegessen. Manche haben sich drüber gestürzt, und denen ist es nachher noch schlechter gegangen. Der Stacheldrahtzaum wurde abmontiert, und es wurde gesagt, dass es in Rom ein Auffanglager gibt. Das war Cinecitan und da habe ich dann Professor Mutstein, einen lieben Freund, der auch in Wien lebt, getroffen. Er hat eine Tanzschule geführt und ist bis vor zwei Jahren in der ersten Reihe beim Opernball mitgegangen. In dem Lager in Rom haben wir bis Oktober 1945 gelebt. Dann hat mein Vater gesagt: 'Wir müssen schauen, dass wir nach Wien kommen.' Wir sind von Rom nach Wien drei Wochen unterwegs gewesen. Mit Fuhrwerken sind wir gereist, auch mit Zügen. Manchmal wurden wir auch von Autos mitgenommen. Als wir auf österreichischem Gebiet waren, haben die Russen in Judenburg den Zug nach Wien zwei Stunden für uns aufgehalten.

Rückkehr nach Wien

In Wien haben wir gesehen, dass das Haus der Großeltern teilweise zerbombt war. In dem Haus, in dem meine Mutter aufgewachsen war, hat noch die Familie meiner Mutter gelebt. Ein Stockwerk über der Wohnung der Großeltern war eine ehemals jüdische Wohnung. Die Familie, die diese Wohnung arisiert hatte, hieß Zettel. Sie waren stramme Nazis. Mein Vater war zwar nicht kräftig, aber mein Vater hat sich ein paar Leute geholt und zu den Zettels gesagt: 'Ihr wisst, was ihr mit uns gemacht habt. Wir geben euch mehr Zeit, als ihr uns gegeben habt: in einer Woche verschwindet ihr aus der Wohnung.' Wir haben dann die Wohnung bekommen. Die Möbel der jüdischen Familie, die ermordet worden war, standen noch drin.

Aus meiner Familie wurden 18 Menschen getötet. Der Bruder meines Großvaters, Adolf Wonsch, hat als U-Boot in Wien überlebt. Er war mit einer Christin verheiratet. Mein Großonkel war Oberteilherrichter für Schuhe. Sein Chef war ein großer Nazi, und dieser Nazi hat ihn am Tag zur Arbeit geholt und nachts hat mein Onkel in seinem Versteck geschlafen. Die ganzen Jahre hat er nachts in einem Schrank geschlafen. Sein Chef hat gewusst, dass er Jude ist. 1945 wurde dem Chef meines Großonkels ein Prozess gemacht, und mein Großonkel hat für ihn ausgesagt. Mein Großonkel Adolf war ein Urwiener. Er hat zum Beispiel gesagt: 'Willst du einen Misthaufen?' Misthaufen war Eierkognak mit einem Spritzer fein gemahlenem Kaffee drauf. Das ist ein Traum, das war sein Misthaufen. Er war, wie man sagt, ein richtiger Feinschmecker. Mein Vater war ihm am ähnlichsten, die Leute haben immer geglaubt, mein Vater ist sein Sohn.

Mein Großonkel Willi war Schlosser. Er hat dadurch Theresienstadt überlebt und noch 25 Jahre für die Kultusgemeinde gearbeitet. Meine Großtante Lilli wurde in Majdanek [KZ und Vernichtungslager in Polen] ermordet.

Als wir wieder in Wien waren, war ich zwölf Jahre alt. Mein Bruder und ich hatten bis dahin keine Schule besuchen können. Da haben wir dann eine altersentsprechende Aufnahmeprüfung gemacht. Mein Bruder kam in die dritte Klasse der Hauptschule und ich in die zweite Klasse der Hauptschule im 20. Bezirk, in der Staudingergasse.

Mein Vater war ein bewusster Jude. Er hat Sederabende 7 für uns gehalten und ging mit uns in den Tempel. Da ich so unterernährt war, habe ich gleich für sechs Monate einen Aufenthalt in der Schweiz bekommen. Ich kam zu jüdischen Pflegeeltern nach St. Gallen. Da war ich in einer Villa, in der haben zwei Parteien gewohnt. Meine Pflegeeltern waren damals schon sehr betagte Leute. Der Mann war schon über sechzig Jahre alt, er hat in den Provinzen Geschäfte mit Herrenkleidung gemacht, die Frau war Mitte Fünfzig. Am Anfang hatte ich Heimweh nach der Familie, aber das waren höchstens vierzehn Tage, denn sie waren sehr lieb zu mir. Der Mann war strenggläubig, sie hat nur mitgetan. Sie hatte in der Loggia, unter dem Sofa, einen Schinken und wenn er nicht da war, haben wir von dem Schinken gegessen. Er war sehr beliebt und angesehen und in die Kreise sehr vermögender Juden integriert. Sie haben mich auch eingekleidet, Hemden und Seidenanzüge habe ich bekommen. In der Schweiz habe ich meine Bar Mitzwah 8 gehabt. Von Wien bin ich mit einem jämmerlichen kleinen Koffer weggefahren und zurück bin ich mit vier riesengroßen Koffern gekommen. Sie waren mit mir in die schönsten Gebiete gefahren und haben mir viel gezeigt - es war eine herrliche Zeit.

Die Schule in Wien war dann natürlich eine Katastrophe, denn mein Deutsch war sehr schlecht. Mein Glück war, dass man sich seine Note durch ein Referat ausbessern konnte. Ich hatte einen Lehrer, der hat sich damit gebrüstet, wie viele Juden er in Russland liquidiert hat. Diesen Lehrer hatte ich in Musik, Geschichte und Deutsch. In Musik hat er mich gefragt, was das für eine Note sei, habe ich gesagt: 'Ein Kontrapunkt kann es ja sicher nicht sein!' Die ganze Klasse hat gelacht obwohl sie nicht gewusst hat, was gemeint war. Ich wusste auch nur, dass es in der Harmonielehre diesen Begriff gibt. Er hat mir eine Ohrfeige gegeben. Da bin ich zu ihm nach vorn gegangen und habe ihm eine zurückgegeben. Mein Vater hatte nämlich gesagt: hauen darf uns keiner mehr nach dem, was wir erlebt haben. Der Direktor wurde gerufen, der ein Lehrer meines Vaters gewesen war, und zu meiner Zeit dann schon kurz vor der Pensionierung. Er kam in die Klasse hinein und schrie: 'Eine furchtbare Klasse, was soll ich machen?' Da habe ich gesagt, weil in der Klasse ein Harmonium stand: 'Herr Direktor, spielen Sie doch Harmonium!' 'Was soll ich?' Er hat sich umgedreht, hat sich vor Lachen nicht mehr halten können und hat eine Stunde lang auf dem Harmonium gespielt. Der Lehrer, der mich geschlagen hatte wurde versetzt.

Mit zwölf Jahren habe ich schon geschaut, wo ich Geld her bekommen kann. Da gab es in der Wallensteinstrasse ein kleines Geschäft mit lauter 'Schmonzes': Broschen, Pomaden, alte Bilderrahmen. Ich bin hineingegangen, habe mir Vaseline gekauft mit einem Duftwasser und übergroße Broschen. Am Sachsenplatz war die russische Kommandantur. In der russischen Armee waren sehr viele Russinnen. Ich bin hingegangen und hab ihnen all diese Sachen verkauft. Oft habe ich nur zehn Schillinge verdient, aber für mich war das sehr viel Geld. Zwei Monate ist das gut gegangen, und dann haben sie mich erwischt. Ich musste zur Kommandantur die Stiegen hinauf gehen und kam dann in einen großen Raum. Da stand der größte Tisch, den ich je gesehen habe. So einen großen Tisch hatte ich überhaupt noch nie vorher gesehen! Und dahinter war ein hoher Stuhl, da saß ein Russe mit einem Bart. Er hat mit der Hand so gedeutet, ich soll nach vorn kommen und ich bin immer schrittweise einen Meter vorgegangen und bin dann stehen geblieben. Und er hat wieder gedeutet: ich wurde immer zittriger, bis ich dann vor ihm gestanden bin. Ich hatte große Angst! Aber dann sagte er: 'Von wo kommst du, Jingerle?' Er war ein Jude. Von da an durfte ich jede Woche ein, zwei Mal zu ihm kommen, und er gab mir schwarzes Kümmelbrot und ein, zwei Dosen Cornedbeef. Das ging einige Monate so, bis er woanders hin versetzt wurde.

Mein Bruder ist in der Schule zu mir gekommen und hat gesagt: 'Die da oben haben mich gehau', und ich habe gesagt: 'Ich komme rauf', bin rauf und habe dem eine geklebt, dass der zu Boden gefallen ist. Ich war klein, schmächtig und flink, und die Kinder hatten vor mir Respekt.

Mein Vater war ein gebrochener Mann, er war krank und konnte nicht mehr arbeiten. Er war ja von Beruf Kaufmann, aber sein Hobby war Jus. Er hat sämtliche Paragraphen auswendig gekannt, so dass sogar mancher Anwalt mit dem Kopf geschüttelt und gesagt hat, er müsse selber erst einmal nachschauen. Nach dem Krieg hat mein Vater Nichtigkeitsbeschwerden für manche Leute verfasst, das waren oft sechsundzwanzig bis dreißig Seiten mit der Maschine geschrieben, alle Paragraphen waren angeführt. Mein Vater hatte das studiert, aber halt nicht auf der Hochschule, sondern er hatte sich das aus Büchern angeeignet.

Wenn mich in der Stadt ein Betrunkener um ein paar Schilling angebettelt hat, und meine Mutter war dabei, hat sie ihm zwanzig Schilling gegeben. Ich habe immer gesagt: 'Mama, warum machst du das? Der vertrinkt das doch wieder!' Da hat sie gesagt: 'Schau, Fredy, wenn das sein Leben ist, dann lass ihn.' Meine Mutter hat überall geholfen. Meine Mutter hat sogar jeden Monat Futter für Vögel gekauft.

Mein Bruder hat dann eine Lehre als Automechaniker begonnen, und ich habe mir gesagt, wenn er Automechaniker ist, sollte ich was machen, was mit Metall zu tun hat. Ich habe mich bei der Danubia AG gemeldet, die war in der Krottenbachstrasse, im 19. Bezirk. Bei der Aufnahmeprüfung musste ich schreiben und rechnen. Bei meinen Schulnoten, dachte ich, wird das die reinste Katastrophe. Aber wie ein Wunder, es hat tadellos funktioniert. Ich habe sogar Wurzel ziehen können, obwohl ich Wurzel ziehen nur vom Zahnarzt kannte! Und ein Mann hat zu mir gesagt: 'Kleiner, du kannst bei uns anfangen, du wirst aufgenommen, aber nicht in der Werkstatt, sondern im Konstruktionsbüro.' Das war mir unheimlich! Ich habe mir dann eine Stelle als Schneiderlehrling gesucht, denn im Lager, wenn ich mir was zerrissen hatte, habe ich mir das komischerweise zusammen flicken können. Das hat mir auch Spaß gemacht.

Mit fünfzehn Jahren habe ich mich zur Hakoah 9 gemeldet und war dann in der Sektion für Leichtathletik. Unser Leiter war Martin Vogel. Wir haben drei - bis vier Mal in der Woche trainiert, das war für uns ein Elixier. Wir sind nie auf die Idee gekommen, dass wir nicht kommen, dass wir schwänzen. Wir hatten einmal ein Ländermatch Österreich gegen Ungarn. Wir sind sehr schnell gelaufen, und da es damals leider noch keine Blechdosen gegeben hat, hat das Publikum mit Bierflaschen nach uns geworfen. Aber wir sind nicht aus Angst so schnell gelaufen, sondern weil wir ihnen zeigen wollten: Wir Juden können auch laufen. Zitternd bin ich in der Staffel dann zweiter geworden.

Dann mussten wir uns bei den österreichischen Jugendmeisterschaften für die Maccabiade in Israel qualifizieren. Ich bin beim Hochsprung zweiter geworden. Der Burgschauspieler Attila Hörbiger, der Mann von der Paula Wessely, der sich in der Nazizeit nicht ganz einwandfrei verhalten hat, hat mir die Silbermedaille überreicht. Das war ein Triumph für mich. Ich habe dann in Israel gespielt und habe mir den kleinen Finger gebrochen. Die alten Hakoaner, die Fußballmannschaft, die damals in Israel lebten, haben uns riesig bewirtet. Sie waren wie eine richtige Familie, es war so, wie es heute mit den Hakoanern ist, wir sind nicht nur Freunde, wir sind wie Brüder!

Wir haben in Israel einen Kibbutz besucht, und ich habe ein Mädchen kennen gelernt. Wir sind spazieren gegangen, und ungefähr drei Meter hinter uns ist ein Soldat gegangen, damit nichts passiert. Wir haben uns dann auf eine Bank gesetzt. Der Soldat saß etwas entfernt hinter uns, und auf einmal höre ich eine Stimme von hinten: 'Bua, i hoab di jetz g´hört, dein ganzen Schmäh, i könnt di abbusserln, i bin a aus da Brigittenau! Und i bin oba schon vor fünfzehn Jahren herkumen.' Das war auch so ein herrliches Erlebnis, wir haben so gelacht! Wären meine Eltern nicht in Wien gewesen, wäre ich in Israel geblieben.

Mein Bruder ist relativ rasch ausgezogen. Er war ein kräftiger Bursche, er hat mit achtzehn Jahren einundachtzig Kilo gewogen. Er ist 1951 mit seiner Frau nach Israel, nach Haifa, gegangen. Ihre Tochter haben sie in Wien bei der Großmutter gelassen, teilweise hat sie auch bei meinen Eltern gelebt. Mein Bruder war über vier Jahre in der Armee. Er war ein Genie als Mechaniker. Alles, was er gemacht hat, war besonders gut. Er hat in einer Autobasis gearbeitet und war dort Werksmeister. Nach sieben Jahren sind sie aus Israel zurückgekommen, und die Ehe ist auseinander gegangen. Mein Bruder war ein Weltverbesserer, er hat wieder geheiratet und wieder die falsche Frau. Während seiner zweiten Ehe hat mein Bruder alle Schulprüfungen nachgemacht und in der Abendmittelschule am Henriettenplatz, im 15. Bezirk, die Matura gemacht. Auf der Universität hat er in Publizistik und in Philosophie den zweifachen Doktor gemacht. Er ist mit 47 Jahren gestorben, ich glaube, einen unnatürlichen Tod. Ich bin bis zum Oberstaatsanwalt gegangen und wollte Klarheit - eine Obduktion. Der Oberstaatsanwalt sagte zu mir: 'Herr Wonsch, Sie wissen besser als ich, dass es das bei den Juden normalerweise nicht gibt. Wenn es nicht Einhundert Prozent nachweisbar ist, ist es mit sehr großen Kosten und Unannehmlichkeiten verbunden. Wie Sie mir das schildern, würde ich sagen, es bleibt Ihnen überlassen.' Aber dann wollte ich das meinem Bruder nicht antun.

Ich bin mit knapp siebzehn Jahren aus der elterlichen Wohnung ausgezogen. Obwohl ich bis zum Tod meiner Eltern ein inniges Verhältnis zu ihnen gehabt habe, wollte ich doch selbständig sein, ich wollte es irgendwie allein schaffen! Ich bin zu Walter Blau gezogen. Er hatte Vis a Vis dem Franz- Josefs-Bahnhof im 1.Stock eine große Wohnung. Ich hatte eine Küche, die ich nicht gebraucht habe, weil ich bis heute nicht kochen kann oder nicht will, ein Zimmer mit Bad und Telefon. Dafür habe ich 350 Schilling bezahlt.

In der Gewerbeschule war ich Vorzugsschüler. Sie haben mir ein halbes Jahr geschenkt. Mit 19 ½ Jahren habe ich schon die Schneidermeisterprüfung gemacht und war der jüngste Schneidermeister in Österreich. Das stand sogar in den Zeitungen. Das war mir aber zu wenig, und darum habe ich damals beim Bundespräsidenten Körner um einen Dispens angesucht. Diesen Dispens hat er mir gewährt, damit ich in meinem Alter schon selbständig sein kann. Es gab auch noch andere Hindernisse. Man konnte sich nicht einfach auf einen Standplatz stellen, man musste die anderen Schneider im Umkreis fragen, ob sie gestatten, dass man sich in ihrer Nähe niederlässt. Dadurch habe ich in einem Stock gearbeitet - in ganz einem kleinen Laden. Ich hatte sehr großen Erfolg mit sehr großem Einsatz und mit sehr viel Arbeit. Ich habe jahrelang für den Hermann Teller, für seine Modeschauen, gearbeitet. Auf der Landstrasse hatte er ein sehr großes Kleiderhaus. Er ist mit siebenundneunzig Jahren gestorben und liegt am jüdischen Friedhof.

Mein Vater war eigentlich mehr mit unserer Mutter verbunden, das war bis zum Schluss so. Ich habe sie in den späteren Jahren finanziell unterstützt, obwohl es mir auch nicht sehr gut gegangen ist. Ich habe sehr viel gearbeitet und habe immer ans Lager gedacht. Ich hatte immer gesagt: Wenn ich das Lager überlebe, möchte ich wie ein kleiner Kaiser auf zwei, drei weißen Kissen schlafen. Ich habe viele gute Freunde, unter anderem auch Ärzte. Einer hat gesagt: 'Manfred, du sollst flach liegen. Du weißt, dass es für deine Gesundheit besser ist.' Ich bin 15 Jahre auf einem rosaroten Kissen gelegen - ein Traum wurde zerstört.

Ich habe das erste Mal mit 21 Jahren geheiratet. Meine erste Frau war um neun Jahre älter, eine Dame aus einem Haus, in dem Juden nicht erwünscht waren. Meine Schwiegermutter hatte gesagt: 'Was, den Juden willst du heiraten?' Die Ehe war acht Jahre sehr glücklich, unsere Tochter Gabriele wurde am 19. Mai.1958 geboren. Solange etwas schön ist, soll man es behalten und dann soll man sich trennen. Das habe ich eingehalten.

Meine zweite Frau war neun Jahre jünger als ich. Ihr Vater hat gesagt: 'Wir haben dir unsere Tochter gegeben, weil den Juden so viel angetan worden ist.' Da habe ich gefragt: 'Also ist sie das Opferlamm!' 'Jüdische Bankerts ziehe ich aber nicht auf', hat er dann gesagt. Er war schwerster Alkoholiker. Meine Tochter Judith wurde 1970, Daniela 1974 geboren.

An dem Tag, als meine Judith fünf Jahre alt wurde, kam ich aus der Werkstatt, und die Familie meiner Frau war schon in der Wohnung. Sie haben gefeiert. Mein damaliger Schwager hat gesagt: 'Na, im KZ kann es ja nicht so schlecht gewesen sein, sonst würdest du nicht mehr leben!' Ich war übermüdet und war es schon nach etlichen solcher Jahre satt, bin aufgestanden wie bei einer Verhandlung und habe gesagt: 'So ihr christkatholisches Gesindel, verschwindet, sonst gibt es ein Unglück, sonst haue ich mit der Flasche einem jedem von euch eine am Schädel.' Nach acht Tagen hat meine Frau gesagt: 'Manfred, ich habe dich einmal sehr geliebt, aber ich habe mich für meine Eltern entschieden.' Es war vielleicht in dem Moment mein Todesurteil, aber ich habe es akzeptiert.

Ich habe bei den Scheidungen nur gesagt: 'Ich verzichte auf alles, auch auf die Wohnung. Ich habe nicht einmal meine Anzüge mitgenommen. Aber ich wollte jederzeit das Besuchsrecht für meine Kinder. Ich wollte sie so oft wie möglich sehen. Das haben sie mir genehmigt. Die Kinder waren sehr viel bei mir.

Meine dritte Gattin, die Sissi, habe ich dann später in der Oper kennen gelernt. Zuerst war sie die Tante für meine Kinder, und jetzt ist sie die Oma für die Enkelkinder. Sissis Mutter hat mich viele Jahre beleidigt. Jetzt ist sie einundneunzig Jahre alt, und froh, dass ich ihr über die Stiegen helfe.

Als ich als Verkaufschef in einen Geschäft gearbeitet habe, hatte ich einmal einen größeren Geschäftsabschluss mit einem Ehepaar. Der Mann hat zu mir gesagt: 'Wir haben meinem Sohn ein Auto von einem Juden gekauft und was glauben Sie, wie lange wir gebraucht haben, ihm ein bisschen was abzuhandeln. Mit den Juden ist es so schwer, ein Geschäft zu machen!' Da habe ich den fertigen Vertrag vor ihr und vor ihrem Mann, der ein pensionierter Direktor war, zerrissen. Sie ist ganz blass geworden und hat gesagt: "Sind sie vielleicht auch...' Da habe ich gesagt: 'Ja, ich bin auch und Sie kriegen keinen Staubsauger, sie kriegen nichts von mir!' Solche Erlebnisse habe ich heute nicht mehr, weil ich zu meinem 60. Geburtstag gesagt habe: 'Keine neuen Freundschaften!' Ich habe fünf Freunde, auf die kann ich mich todsicher verlassen, die leben so wie ich.

Ich gehe in den Tempel, aber ich gehe nicht ständig, nicht regelmäßig. Ich bin traditionell, ich halte die Feiertage, und feiere mit meinen Freunden gemeinsam. Ich gehe jede Woche ins jüdische Altersheim, besuche und betreue dort alte Leute.

Der Bruder meines Vaters, Onkel Max, hatte Heimweh nach der Stadt Wien und nach der Oper. Er war 15 Jahre nach dem Krieg das erste Mal wieder in Wien. Wir haben uns in der Oper getroffen, und wir hatten genau denselben Geschmack, waren total auf einer Linie, und dann hat er gesagt: 'Du Freddy, ich habe ja gar nicht gewusst, dass du auch so ein begeisterter Opernbesucher bist.' Ich bin so oft die Stufen zum Opernsaal hinauf gegangen, dass ich eigentlich schon am Mond sein müsste. Nach acht Tagen hat mein Onkel gesagt: 'Furchtbar dieses Land, eine Katastrophe, wegen euch bin ich her gekommen, aber jetzt muss ich wieder zurückfahren.' Da hatte er wieder Heimweh nach Amerika. Er hat in den letzten Jahren in Miami Beach gelebt und kam dann noch einmal, das war 1978. Das war nur ein kurzer Besuch, und das war dann der Abschied für immer. Ich habe meinen Vater und seinen Bruder im Stadtpark fotografiert und ich habe da schon gewusst, dass ist das letzte Bild, was ich von ihnen haben werde. Lange, sehr lange ist es her!

Mein Vater hatte Kontakte zu Sängern und Musikern. Kurz vor seinem Tod hat er sich das Lied 'Schwalbe Gruß' von Johann Schrammel gewünscht. Das ist ein so schweres Lied und da hat einer gesagt: 'Du, Edi, sei mir nicht böse, aber die Musiker sind so schlecht, ein anderes Mal.' Es kam aber nie mehr zu einem anderen Mal. Die ganze Verwandtschaft, die noch übrig war, war böse auf mich, weil ich am offenen Grab meines Vaters dieses Lied von Franz Schuh, einem wunderbaren Heurigenliedsänger, hab singen lassen. Ich habe gesagt, dass ich das verantworten kann, weil das sein letzter Wunsch war. Er hatte es sich nicht für seine Beerdigung gewünscht, aber das war sein letzter Wunsch, und den habe ich ihm erfüllt. Der Schammes am Friedhof war ein Russe, der hat mir nach Monaten gesagt: 'Wonsch, das hat Schule gemacht.' 'Was', habe ich gefragt. 'Es waren schon vier Levein [Begräbnisse], und man hat gespielt Musik.' 'Siehst du, da habe ich nach Jahrtausenden mit der Tradition gebrochen', habe ich gesagt.

Meine Mutter ist 1984 gestorben. Seither fahre ich nicht einmal mehr durch den 20.Bezirk.

Meine Töchter sind nach dem Gesetz keine Jüdinnen. Judith wollte übertreten. Sie ist 1 ½ Jahre in den Religionsunterricht gegangen. Dann hat sie eine Prüfung gemacht, aber sie hat gesagt, dass sie nicht ausschließlich koscher leben kann. Wir essen kein Schweinefleisch, aber wir gehen oft essen, wir sind oft eingeladen. Soll sie ihn anlügen, soll sie ihm sagen, sie werde koscher leben und macht es dann nicht? Das ist ja dann schon die erste Sünde! Man hat sie nicht aufgenommen. Ihr wurde auch vorgeworfen, dass sie zu wenig in den Tempel geht. Ich denke, es ist auch nicht so notwendig, dass man so oft in den Tempel geht; wenn einer nebbich auf Golles ist [in sehr arger Bedrängnis], soll man ihm beistehen. Aber total, das war auch ein Spruch meiner Großeltern und meines Vaters. Ich war eine Zeit lang so verbittert, das ich nur mehr geflucht habe.

Ich bin nur wegen meiner Eltern nach Wien zurückgekommen, jetzt kann ich Wien wegen meiner Kinder und Enkelkinder nicht verlassen. Wenn ich mir die Enkerl mitnehmen könnte, wäre ich sofort weg. Ich würde entweder nach Italien oder nach Israel gehen, sonst gibt es für mich keine Alternative.

Glossar

1 ESRA

1994 gegründet, bemüht sich das psychosoziale Zentrum ESRA um die medizinische, therapeutische und sozialarbeiterische Versorgung von Opfern der Shoah und deren Angehörigen sowie um die Beratung und Betreuung von in Wien lebenden Juden; weiters bietet ESRA Integrationshilfen für jüdische Zuwanderer.

2 Halacha [dt

Norm]: Name des gesetzlichen Teils der Überlieferung des Judentums. Historisch ist die Halacha ein Teil des Talmuds. Sie gehört zur so genannten 'mündlichen' Überlieferung. Die sowohl in Jerusalem als auch in Babylon seit der Zeit der Zerstörung des 1. Tempels und des Exils festgehalten wurde. In der heutigen Zeit wird das Wort oft für die Bestimmung der Halacha verwendet, nach der nur diejenigen als Juden gelten, deren Mutter Jüdin ist.

3 Pessach

Feiertag am 1. Frühlingsvollmond, zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, auch als Fest der ungesäuerten Brote [Mazza] bezeichnet.

4 Koscher [hebr

: rein, tauglich]: den jüdischen Speisegesetzen entsprechend.

5 Leopoldi, Hermann [eigentlich H

Kohn] [1888 - 1959]: Komponist, Schauspieler und Klavierhumorist [erstmals 1916 im Wiener Ronacher]. Zahlreiche Gastspielreisen, auch nach Amerika. 1938 im KZ, 1939 Emigration, bis 1947 in den USA. Schrieb Text und Musik zu vielen bekannten Schlagern und Wienerliedern.

6 Morzinplatz

Als im März 1938 die Nationalsozialisten die Herrschaft in Österreich übernahmen, wurde das Hotel Metropol im 1. Bezirk in Wien, Morzinplatz, Sitz der 'Gestapoleitstelle' für Wien.

7 Seder [hebr

: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

8 Bar Mitzwa

[od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

9 Hakoah

Hakoah [hebr.: Kraft]: 1909 in Wien gegründeter jüdischer Sportverein. Bekannt wurde vor allem die Fußballmannschaft [1925 österreichischer Meister]; der Verein brachte auch Ringer, Schwimmer und Wasserballer hervor, die internationale und olympische Titel errangen. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 an das Deutsche Reich wurden die Spielstätten beschlagnahmt und der Verein 1941 verboten.