Leo Granierer

Leo Granierer 
Stadt: Wien
Land: Österreich 
Datum des Interviews: Februar, 2002
Name des Interviewers: Artur Schnarch

Leo Granierer ist ein kräftiger mittelgroßer 75-jähriger Mann.

Er empfängt mich mit seiner Frau Alice sehr herzlich. Die beiden wohnen in einer hellen Neubauwohnung in einem sehr schönen innerstädtischen Wohnbezirk.

Leo Granierer hat in einer prägenden Jugendphase unvorstellbar Schlimmes ertragen müssen und ist trotzdem bereit, alles vor mir auszubreiten.

Leo Granierer starb 2018 in Wien.

  • Meine Familiengeschichte

Ich weiß über meine Vorfahren mütterlicherseits sehr wenig, aber väterlicherseits habe ich durch Erzählungen und insbesondere durch meine Cousine Towa einiges erfahren.

Meine Urgroßmutter Golde Granierer stammt aus Sadagóra. Das ist in der Bukowina und liegt ca. fünf Kilometer nördlich von Czernowitz.

Sie hatte drei Kinder, Sarah, meine Großmutter, Jitzchak und Leiser. Golde war sehr reich und sehr fromm. Als sie so um 1900 Witwe wurde, da hat sie ihr Vermögen auf ihre Kinder aufgeteilt und ist nach Jerusalem gegangen.

Mein Großonkel Jitzchak war Buchhalter und hatte drei Kinder. Seine Tochter Sali ist nach Haifa ausgewandert und hat als Dolmetsch gearbeitet. Sie hat zum Beispiel auch beim Eichmannprozess übersetzt.

Salomon ist nach Wien gegangen, und ich habe ihn hier getroffen.Er war auch bei der Trauung meiner Eltern einer der Trauzeugen. Jitzchak hatte noch einen Sohn, ich weiß aber leider gar nichts über ihn.

Der zweite Großonkel Leiser, den ich auch nicht kennen gelernt habe, hatte viele Kinder von denen ich einige getroffen habe.

Da gab es in Caracas Henja, die später zu ihrem Bruder Sinai nach Bnei Brak gezogen ist, Moische, der jung gestorben ist, Bella und noch eine Tochter, an deren Namen ich mich nicht erinnern kann, die hatte aber eine Tochter Klara, die einen Ostfeld geheiratet hat.

Und in Wien war noch der Josef Granierer mit seiner Frau Sali und seinem Sohn Fredi. Jossel hatte ein Bekleidungsgeschäft gegenüber dem Lebensmittelgeschäft meiner Eltern in der Wurmsergasse.

Er ist im Krieg nach Czernowitz zurückgegangen und dort im Lager ermordet worden, und seine Frau hat nachher einen Dauber geheiratet, der den Fredi adoptiert hat. Fredi lebt heute in Caracas.

Meine Großmutter Sarah Granierer hat einen ihrer viel älteren Cousins Jakob Rath aus Kolomea in Galizien geheiratet. Dieser war dann Rabbiner in Rarancze, wo meine Großeltern auch einen großen Gutshof betrieben. Beide starben schon mit 59 Jahren und hinterließen sieben Kinder.

Leiser Rath, der älteste, war verheiratet und hatte drei Söhne. Er fuhr nach Amerika und ließ die Familie zurück. Er heiratete dann nochmals und hatte wieder Kinder, von denen ich nichts weiß.

Als seine erste Frau starb, zwang ihn die Familie, seine Kinder nach Amerika zu holen. Schaje und Jossel gingen also nach Amerika, während der Dritte, welcher angeblich geistig nicht ganz in Ordnung war, in Rumänien blieb und bei der rumänischen Armee diente, bis er im KZ ermordet wurde.

Moische Rath war sehr reich und hatte zwei Häuser in Czernowitz. Er hinterließ einen Sohn Adolf, der wieder einen Sohn hatte.

Henja war nicht verheiratet und ist wahrscheinlich im Krieg zu Grunde gegangen.

Rifka hat einen Picker aus Radautz geheiratet und mit ihm zwei Kinder - Tova und Toni - bekommen. Tova, die seit 1930 in Hadera lebt, hat mir sehr viel über meine Familie erzählt. Sie hat zwei Kinder - Schajahu und Jaffa - und auch noch sechs Enkelkinder. Ihr Mann heißt Aron Kleinmann und kommt aus Briceni in Bessarabien.

Dann gab es noch eine Schwester von meinem Vater, von der ich den Namen nicht weiß. Sie hat einen Fruchtmann geheiratet, und sie hatten neun Kinder. Die Rosa und den Bella habe ich kennen gelernt. Rosa hat einen Schumer geheiratet, und sie haben einen Sohn Arije und leben in Tel-Aviv.

Munju ist in die USA ausgewandert und hatte einen Sohn. Er ist dort drei Stiegen unglücklich hinuntergefallen und gestorben. Mein Vater hätte, wie es so Brauch war, seine Witwe heiraten sollen, hat aber auf dem Weg nach Amerika in Wien meine Mutter getroffen, und es nichts daraus geworden.

Mein Vater wurde am 15. Juli 1900 als Israel Rath in Rarancze geboren. Als die Bukowina nach dem ersten Weltkrieg rumänisch wurde und er zur rumänischen Armee eingezogen werden sollte, wo er doch überhaupt nicht Rumänisch konnte, ist er unter dem Namen seiner Mutter – Granierer – nach Wien gegangen.

Hier hat er meine Mutter Lea Gold kennen gelernt. Meine Mutter wurde am 10. Mai 1901 in Rohatyn in Polen geboren. Obwohl meine Mutter sogar ein Mal auf Besuch nach Rohatyn gefahren ist, weiß ich gar nichts über ihre Familie.

Wahrscheinlich sind alle im Krieg umgekommen. Es gab eine Verwandte meiner Mutter, die haben in der Nähe vom Prater in der Ybbsstrasse gewohnt und waren sehr arm. Sie hatten eine Tochter, die hieß Anni, und wir haben sie hie und da besucht.

Nachdem meine Eltern faktisch nach dem ersten Weltkrieg aus dem Ausland gekommen sind und keine Berufe und keine Aufenthaltsgenehmigung hatten, waren sie auf die Hilfe, die sie kriegen konnten, angewiesen.

Und die haben sie von einem Verwandten gekriegt, der Rechtsanwalt in Wien war, und der hatte einen Bauernhof irgend wo da draußen, und da hat er sie zum Arbeiten eingesetzt.

Er war froh, dass er Leute gekriegt hat, die für nichts gearbeitet haben, und meine Eltern hatten keine Wahl. Dort haben sie einige Jahre gearbeitet, bis es ihnen zu viel geworden ist. Es war auch eine sehr schwere Arbeit, und meine Mutter war in Polen in ihrer Familie als schwächlich und kränklich bekannt, aber dort hat sie gearbeitet.

Dann haben sie sich selbstständig gemacht, indem sie sich ein kleines Lebensmittelgeschäft gekauft haben. Das war im 14. Bezirk in der Märzstrasse 108, und wir haben im selben Haus gewohnt. Und nachdem sie das ein paar Jahre geführt haben, haben sie sich dann ein zweites kaufen können.

Das war im 14. Bezirk in der Wurmsergasse 26, das ist eine Gasse, die vom Meiselmarkt runterführt, also Leute die vom Markt gekommen sind, sind da vorbeigegangen. Gegenüber vom neuen Geschäft hatte der Cousin meines Vater, Jossel Granierer, ein Textilgeschäft mit Schmates gehabt.

  • Meine Kindheit

Auf jeden Fall bin ich dann am 15. Juni 1927 als Leo Granierer geboren worden. Meine Mutter hatte irgendein Problem mit ihrer Brust, sie ist auch geschnitten worden und konnte keine weiteren Kinder bekommen. Ich war also ein verwöhntes Kind.

Es war nicht so, wie es heute ist, dass man nur was sagen braucht, und man kriegt es schon. Die Zeiten waren nicht danach. Ich habe nie irgendwelche Schwierigkeiten mit meinen Eltern, oder sie mit mir, gehabt. Ich war sozusagen ein folgsames Kind.

Mein Vater war auch überhaupt nicht streng, und ich habe nie Schläge bekommen.

Mein Vater war fromm, nicht sehr fromm, aber von zu Hause aus fromm. Er hat jeden Tag Twilen (Gebetsriemen) gelegt. Meine Eltern waren koscher, mussten aber auch am Samstag das Geschäft offen lassen. Feiertage haben wir zu Hause gefeiert, allerdings meistens nur wir drei, da wir ja kaum Verwandte in Wien hatten.

In der Schanzstrasse im 14. Bezirk gab es irgend so einen Erwachsenenclub (ESRA), wo sich die Juden getroffen haben. Da sind meine Eltern auch immer hingegangen. Einige haben damals sogar versucht, Hebräisch zu lernen, und ich bin nicht sicher, ob man da nicht auch zu den Feiertagen gebetet hat.

Alle Feste wurden im Tempel in der Turnergasse gefeiert, und da waren viele Kinder, darunter auch solche, welche ich von der Religion her gekannt habe.

Die Juden in Wien haben die Frauen und Kinder immer über den Sommer auf Urlaub geschickt. Das war nicht so wie heute, dass man weiß ich wo hingefahren ist, sondern ins Burgenland, nach Sauerbrunn und so.

Also in Gegenden, wo viele Juden gelebt haben. Und wo die Männer dann am Wochenende gekommen sind, um die Frauen und die Kinder zu besuchen. Und da hat mein Vater auch meine Mutter und mich besucht.

Ein Mal, da waren wir in Sauerbrunn, und das Wetter war nicht besonders schön, aber wenn man schon ein Mal da ist, will man es ausnützen, und er ist trotz des nicht so schönen Wetters baden gegangen und hat dann Rheuma gehabt und ist auf zwei Stöcken gegangen.

Wir haben dann alle möglichen Ärzte konsultiert, und mein Vater ist auf Kur gefahren. Es hat aber alles nichts geholfen, bis er dann nach Pistian gefahren ist. Von Pistian ist er zurückgekommen und hat noch mehr Schmerzen gehabt.

Der Doktor meinte, das sei ein gutes Zeichen für die Wirkung. Und wirklich ist er dann nur noch mit einem Stock gegangen. Und wir hätten noch ein Mal nach Pistian fahren sollen, aber da ist der Hitler gekommen.

Religionsunterricht hatte ich während der Volksschul- und Hauptschulzeit in einer Einrichtung der Kultusgemeinde in der Stumpergasse im 6. Bezirk. In Religion war ich gemeinsam mit der Traude Hirschhorn. Ihre Eltern waren mit meinen befreundet, und sie hatte noch eine jüngere Schwester Rita.

In der Volksschule war ich in der Johnstrasse - ganz in der Nähe vom Meiselmarkt.

Jüdische Kinder gab es dort außer mir keine, und dann bin ich in die Hauptschule gekommen - auch wieder ganz in der Nähe vom Meiselmarkt - und da habe ich die erste und zweite Klasse fertig gemacht, und in der dritten ist dann der Hitler gekommen, und da durften Juden nicht mehr dort in die Schule gehen.

Ich glaube, ich war eine ganz kurze Zeit in der Stumpergasse, und dann sind wir in den 2. Bezirk übersiedelt, und die Schulen wurden eingestellt.

  • Während des Krieges

1938 ist die SA gekommen und hat meinem Vater das Geschäft weggenommen, und sie wollten ihn mit den ersten Transporten nach Dachau schicken. Aber in der Wurmsergasse unten war eine Polizeiwachstube, und mein Vater war bekannt dafür, dass er den ganzen Tag gearbeitet hat, dass er freundlich und nett war und den Nachbarn, wenn sie momentan nicht zahlen konnten, auch Kredit gegeben hat.

Da haben die Wachleute zu den SA-Leuten gesagt: „Lasst’s den gehen. Der ist anständig.“ Und so haben sie ihn also nicht nach Dachau verschickt. Aber beide Geschäfte haben sie ihm weggenommen.

Um den weiteren Verfolgungen zu entgehen, haben wir versucht, illegal nach Ungarn zu gehen, damit wir von dort dann nach Rumänien, nach Czernowitz, zur Familie meines Vaters  weiterfahren können.

Die österreichischen Zollbeamten haben uns erwischt, haben uns durchsucht und haben gesehen, dass wir keine Vermögen im Rucksack haben. Da waren sie sehr anständig und haben gesagt:

„Bleibt hier, bis es dunkel ist, dann gehe ich zum ungarischen Kollegen, rede mit ihm und verstelle das Fenster, und da könnt ihr dann rüber“. Und so war es auch: Wir sind rübergegangen und sind dann zu Fuß die ganze Nacht gegangen.

Und ich weiß nicht, wie er geheißen hat, aber der Ort war schon vielleicht 20 Kilometer von der Grenze entfernt. Dort haben wir dann versucht, bei jemanden anzuklopfen, um zu fragen, wo Juden sind, damit wir uns ausruhen können.

Und man hat uns welche gezeigt, und wir haben mit einem gesprochen. Er hat aber Angst gehabt und hat gesagt: „Ihr könnt hier nicht bleiben. Geht zurück zum Bahnhof und fahrt mit einem Frühzug nach Sopron, da gehen laufend Züge, und von dort werdet ihr nach Budapest fahren.“.

So sind wir zum Bahnhof gegangen und waren in so einem Frühzug, wo die Kinder zur Schule gegangen sind. Meine Mutter und ich sind auch ohne weiteres bei der Kontrolle im Zug durchgekommen, weil wir eben Schulkind mit Mutter waren.

Aber meinen Vater haben sie erwischt und haben ihn ins Gefängnis gesperrt. Folglich sind auch meine Mutter und ich freiwillig ausgestiegen und waren den ganzen Tag dort im Gefängnis, und dann ist ein ungarischer Grenzbeamter mit uns zur Grenze gegangen, und im Wald ist er stehen geblieben und hat gesagt:

„So, jetzt geht ihr zurück nach Österreich, und ich bleibe da stehen und schaue.“. Es ist uns nichts anderes übriggeblieben, meine Eltern waren nicht sportlich, mein Vater ist mit einem Stock gegangen, und da sind wir eben zurück nach Österreich, wieder in unsere Wohnung, die war ja noch nicht aufgegeben.

Und dann hat es mein Vater allein versucht, diesmal über Deutschland nach Czernowitz zu kommen. Das ist ihm gelungen. Bei der Grenze hat ihn ein Verwandter geholt. Dieser hat die rumänischen Grenzer bestochen, und so ist mein Vater zu seiner Familie gekommen, und meine Mutter und ich waren jetzt allein in Wien.

Als die Russen in Czernowitz einmarschiert sind, hat mein Vater uns eine Einreisegenehmigung für Russland geschickt. Wir waren hier in Wien auf der Botschaft und hätten fahren sollen, aber da ist der Krieg Deutschland – Russland ausgebrochen.

Dann sind die Deutschen in Czernowitz einmarschiert, und mein Vater ist nach Mogilev in Transnistrien in ein Arbeitslager verschickt worden.

Meine Mutter und ich sind dann erst in die Glockengasse gezogen und waren dann bis zur Deportation in der Franz Hochedlinger-Gasse.

Ich war dann ganz kurz in der Sperlgasse in der Schule, bis diese zum Sammellager für die Polentransporte umfunktioniert wurde. Dann bin ich in die JUAL, die Jugendalijah Schule, gegangen.

Die war in der  Marc-Aurel-Strasse, und der Vogel war einer der Lehrer, und Ahron Menscher war der Madrich meiner Kwuza, der Gordonia. Wir hatten dort normalen Unterricht mit Hauptbetonung auf Fächer, die man in Israel brauchen kann.

Meine Mutter hat uns durchgebracht, indem sie zu etwas reicheren Juden in Bedienung gegangen ist. Unter anderem war sie bei einem Lazar. Sein Vater war irgend ein Funktionär bei den Invaliden des ersten Weltkriegs, und die wohnten in der Porzellangasse. Nach dem Krieg war dieser Lazar Funktionär bei der Heruth in Wien.

Die JUAL hat sich dann auch aufgehört, und ich war dann bei der Kultusgemeinde als Installateurlehrling angestellt. Da habe ich in allen Einrichtungen der Kultusgemeinde, wie im Altersheim in der Seegasse oder in der Schule in der Malzgasse, die Heizung und Wasserleitung gewartet.

Das ging so bis November 1940. Dann haben sie irgendeinen Juden in dem Haus, in dem wir gewohnt haben, in der Franz Hochedlinger-Gasse, gesucht und haben bei der Gelegenheit gleich alle mitgenommen und ins Sammellager in die Sperlgasse gebracht.

Von dort gingen alle Transporte damals nach Polen, ich glaube nach Litzmannstadt. Ich wurde aber als Angestellter der Kultusgemeinde zurückgestellt und bin auch noch bis Februar zur Arbeit gegangen. Aber meistens lagen wir in einem großen Saal auf unseren Decken. Es war ja wie ein Gefängnis, man durfte auch nicht raus.

Als dann der Brunner das Kommando übernommen hat, gab es keine Ausnahmen mehr, und wir wurden im Februar 1942 mit dem 5. Transport nach Riga deportiert. Meine Mutter, ich, alle vier Hirschhorns und weiter 1000 Menschen waren so zehn Tage mit dem Zug unterwegs, bis wir in Riga angekommen sind.

In Riga sind wir ins Getto zur Wiener Gruppe gekommen. Ich war gerade eben 14 Jahre alt und bin mit meiner Mutter in eine Wohnung, und die Hirschhorns sind in eine andere gekommen.

Wobei es so war, dass wir bei der Ankunft ziemlich weit zum Getto gegangen sind, und wer so weit nicht gehen konnte, der wartete auf einen Wagen, der kommen soll, um diejenigen abzuholen. Die wurden aber alle von der deutschen und lettischen SS im nahen Wald erschlagen.

Ich bin dann jeden Tag zu irgendeinem Kommando arbeiten gegangen. Das war immer unter Bewachung von Soldaten oder von lokaler Bevölkerung. Die haben uns hin und her gebracht. Es gab verschiedene Arbeiten, ob es gut oder schlecht war, hing von der Verpflegung, die man dort bekommen hat und von den Möglichkeiten etwas zu tauschen, ab.

Angefangen habe ich mit Schneeschaufeln in den Strassen von Riga. Und dann haben wir zum Beispiel an der Düna (Fluss durch Riga) ein Haus, das von Bomben oder von Kanonenbeschuss beschädigt war, abreißen müssen. Jeden einzelnen Stein runternehmen und jeden einzelnen Stein reinigen und aufschichten.

Oder ich habe auch an dem selben Fluss Düna im Sägewerk gearbeitet. Da haben wir die Stämme zur Säge gezogen. Die Vorarbeiter waren auch Häftlinge, nur einer war immer ein lettischer Goi.

Im Jahr 1942, da hat es ungefähr - 42 Grad Kälte in Riga gegeben, und das ganze ohne richtige warme Kleidung und ohne Schuhe. Über die Schuhe haben wir uns Decken mit Draht oder mit Schnur zugebunden, und so sind wir gegangen.

Meine Mutter hat zum Beispiel eine Zeit lang bei der Heeresbekleidung gearbeitet. Da hat sie sich etwas eingesteckt, es ins Lager gebracht, und ich habe es am nächsten Tag rausgetragen und habe versucht, es bei der Lettischen Bevölkerung gegen Essen zu tauschen. Wenn man aber erwischt wurde, ist man hingerichtet worden.

Eines Tages sind wir vom Kommando zurückgekommen, und es stand beim Eingang und den ganzen Weg bis zum Hinrichtungsplatz mit dem Galgen Häftlingspolizei. Der Hinrichtungsplatz war in der Nähe der Wiener Gruppe, und man konnte nicht, so wie sonst üblich, nach dem Tor gleich in sein Haus gehen.

Man ist geschlossen zum Hinrichtungsplatz gegangen. Der war ein bisschen tiefer, und da sind wir hinuntergegangen, und da hingen zwei Leute, und unter den Gehängten sind wir wieder hinaufgegangen, und oben stand die SS.

Da hat einer auf meinen Rucksack geklopft, der hat hohl geklungen, weil ich ein Soldatenessgeschirr und drinnen einen Löffel gehabt habe, dadurch hat das gescheppert, und der hat ihn nicht aufgemacht.

Ich glaube, ich habe damals sogar eine Butter oder einen Speck drinnen gehabt, den ich getauscht hatte. Hätte er den Rucksack aufgemacht, hätte man mich dazugehängt. Ich bin halbtot vor Aufregung bei meiner Mutter angekommen.

In der Wiener Gruppe waren Leute, die haben Mandoline gespielt, und so hat man sich manchmal in einer Wohnung getroffen, und die haben Musik gemacht, und die größeren haben sogar dazu getanzt.

Dann wurde das Rigenser Getto aufgelöst, und wir sind in das Konzentrationslager Riga gekommen. Da gab es nun eine Männer- und eine Frauenabteilung, und ich konnte meine Mutter nur mehr durch den Zaun sehen.

Von Wien sind fünf Transporte mit je 1000 Leuten nach Riga gekommen und überlebt haben 103. Meine Mutter und ich sind zwei davon.

Wie die Russen dann 1944 näher gekommen sind, wurden wir mit einem Schiff nach Danzig und dort ins KZ Stutthof gebracht. Ich selbst war dort nur zwei oder drei Tage und bin dann nach Buchenwald geschickt worden, wo ich bis zur Befreiung durch die Amerikaner war. In Buchenwald habe ich als Fliesenleger gearbeitet.

Meine Mutter war einige Monate zusammen mit der Frau Hirschhorn und deren Töchtern in Stutthof, bis das Lager aufgelöst wurde. Sie sind auf dem Marsch von einem Ort zum anderen immer vor den Russen geflüchtet, bis sie dann doch von den Russen befreit wurden.

Ich habe alles verdrängt und weiß sehr wenig vom Lager. Die Traude Hirschhorn zum Beispiel ist Professorin für Geschichte in New York geworden und hat Bücher über das Lager geschrieben. Aber ich habe fast alles vergessen. Ich war wirklich ein blödes Kind, das den Ernst gar nicht kapiert hat.

  • Nach dem Krieg

Mein Vater war in der Zwischenzeit von den Russen befreit worden, und nach dem er mit einem Stock ging, haben sie ihn zu einer Arbeit bei der Bahn eingeteilt. 

In Buchenwald haben mir die Amerikaner Entlassungspapiere ausgestellt, und ich konnte schauen, wie ich jetzt weiterkomme. Da waren sehr viele Österreicher, die schon längere Zeit, manche auch schon fünf Jahre dort waren, und die haben Autos organisiert.

Und so sind wir gemeinsam bis nach Urfahr gekommen. Und in Urfahr war doch die Grenze zwischen russischer und amerikanischer Besatzung, und die haben uns nicht reingelassen.

Obwohl die meisten Leute, die das organisiert haben, österreichische Kommunisten waren. Und da ist ein Teil dort geblieben und hat es dann am nächsten Tag wieder versucht und ist so nach Wien gekommen. Ein Teil ist bis nach Salzburg zurückgefahren.

Und ich war unter denen, die nach Salzburg gefahren sind, und dort waren wir einige Zeit in einer Rot Kreuz Station namens Pferdeschwemme. Wir haben von der Salzburger Gemeinde jeder einen Anzug bekommen und sind für zwei Wochen an den Wallersee zur Erholung geschickt worden.

Nach einigen Monaten haben wir es dann noch ein Mal probiert und sind nach Wien gelangt.

In Wien habe ich dann die Rita Hirschhorn im jüdischen Spital in der Seegasse besucht, da habe ich dann auch ihre Mutter und die Traude getroffen. Da haben die zu mir gesagt, dass meine Mutter in einer Stunde auch hierher kommen wird. Und so habe ich meine Mutter zufällig wieder gefunden.

Ich habe von der Gemeinde Wien eine Wohnung in der Herbststrasse zugeteilt bekommen. Die stand leer, weil da vorher ein gesuchter Nazi gewohnt hat, der geflüchtet war.

Da habe ich mit meiner Mutter gewohnt, aber leider war das in der französischen Zone, und so haben wir nicht - wie in der amerikanischen Zone - Lebensmittelpakete bekommen. Meine Mutter hat zu dieser Zeit mit ihren Russischkenntnissen mit den russischen Soldaten die üblichen kleinen Nachkriegsgeschäfte gemacht.

Nach dem meine Eltern damals keine österreichischen Staatsbürger waren und wir österreichische Papiere gebraucht haben, um meinen Vater aus Russland herauszubekommen, haben wir die Papiere des im Lager zu Grunde gegangenen Vater Hirschhorn genommen, und diese meinem Vater geschickt. So ist er nach Wien zurückgekommen, und wir sind in die Müllnergasse im 9. Bezirk übersiedelt.

Meine Eltern haben dann in der Servitengasse einen Mazzeshandel betrieben. Zu dem Lokal sind sie über die Frau des im Krieg ermordeten Cousins Jossel gekommen.

Weil die Sali ist mit ihrem neuen Mann Dauber nach England gegangen, und so konnten meine Eltern das Lokal benutzen. Als Sali mit ihrem Mann aber dann wieder zurückkam, haben meine Eltern das Lokal zurückgegeben und sind in Pension gegangen.

Das Lokal in der Sevitengasse war aber sehr wichtig. Ich habe dort 1950 eine der Schwestern meiner Frau Alice (geborene Silberberg, geboren am 11.9.1929 in Wien) kennen gelernt, und 1951 haben wir dann schon geheiratet und haben mit meinen Eltern und unserem 1952 geborenen Sohn Herbert in der Müllnergasse gewohnt.

Die kommunistischen Mithäftlinge aus Buchenwald haben mir, da ich nicht erwartet habe, irgendjemanden von meiner Familie je wieder zu sehen, und so ganz alleine dastand, angeboten, wenn ich nach Wien komme, einen Posten beim Globusverlag zu bekommen.

Dieser hat Tageszeitungen und Magazine herausgegeben, und ich war dort 12 Jahre als Umbruchredakteur beschäftigt. Als 1957 alles neu organisiert wurde und sich jede Rubrik ihren Umbruch selber gemacht hat, da sind sie an mich herangetreten und haben mir ein Jahr Abfertigung gegeben, da ich ja als KZler nicht kündbar war.

Mit diesem Geld haben wir ein Textilgeschäft in der Alserbachstrasse aufgemacht. Und das erste Jahr ist es auch ganz gut gegangen, aber dann ist es weniger gut gegangen, und mir war in dem Geschäft fad, weil die Kunden nur sehr spärlich gekommen sind.

So bin ich als Vertreter zur Firma Heller Süßwaren gegangen und später zur Firma Rister, die Waffeln und Kekse erzeugt haben. Mit dem Geld, dass wir in der Zwischenzeit gespart hatten, haben wir uns auf der Josefstädterstrasse, gegenüber vom Finanzamt, eine Trafik gekauft, und die haben wir 24 Jahre, bis wir in Pension gegangen sind, betrieben.

Als die Eltern meiner Frau nach Amerika gegangen sind, haben sie uns etwas Geld für eine Wohnung gegeben, und so konnten wir uns mit dem Geld und angesammelten Wohnungspunkten eine Bleibe am Volkertmarkt im 2. Bezirk nehmen.

Wir haben dann mit meinen Eltern Wohnung getauscht, und wie wir ohne Eltern in der Müllnergasse waren, ist dann 1961 unsere Tochter Dorit geboren worden.

Mein Sohn Herbert hat Wirtschaft studiert und ist in den Achtzigerjahren nach Israel ausgewandert. Er ist der Direktor bei Estee Lauder und lebt mit seiner Frau Lili und den Kindern Liat und Joav in Ramat Gan.

Meine Tochter Dorit ist mit Leon Rosenfeld verheiratet und lebt mit ihren Kindern Aron und Jana in Wien. Sie macht Kunsthandwerk, und er arbeitet bei der amerikanischen Botschaft.

Meine Eltern und ich sind von den ganz wenigen, wo die ganze Familie überlebt hat, und die sich nach dem Krieg wieder gefunden haben.