
Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Palästina
Rückkehr nach Prag
Meine Arbeit als Redakteur
Rückkehr nach Wien
Meine Familiengeschichte
Über die Urgroßeltern weiß ich überhaupt nichts, die hab ich nicht gekannt. Mein Vater war aus einem kleinen Ort, aus dem tschechischsprachigen Gebiet in der Nähe von Prag. Seine Mutter hab ich noch gekannt. Sie ist nach Prag übersiedelt. Der Großvater ist gestorben, bevor ich geboren wurde, und die Großmutter hat dann noch bis zu meinem vierten, fünften Lebensjahr in Prag gelebt. Ich kann mich erinnern, dass wir sie jeden Sonntag besuchen mussten. Das war ein Horror für mich. Sie hat eine sehr hübsche Wohnung gehabt, und sie wird vermögend gewesen sein. Sie war eine Lady, aber sie hat kein Verständnis für kleine Kinder gehabt. Ich musste dort still sitzen, meine Eltern haben dort die halbe Stunde oder Stunde abgesessen bei ihr. Vorher hat man mir gesagt: nicht hereinreden, nichts sagen, antworte nur auf Fragen, wenn du gefragt wirst, aber ich wurde nie gefragt, weil ich sie nicht interessiert habe. Das war ein Horror für mich. Sie hat nicht weit von uns gewohnt, und ich kann mich noch erinnern, als sie gestorben ist, Ende der zwanziger Jahre, bin ich zufällig vorbeigegangen, wie der Sarg aus dem Haus getragen wurde. Ich war damals fünf Jahre alt. Sie ist jüdisch begraben, liegt am neuen jüdischen Friedhof in Prag, neben meinem Großvater.
Meine Großeltern mütterlicherseits haben in einem kleinen Dorf bei Saaz gelebt haben. Saaz liegt im heutigen Tschechien, dort gibt es riesige Hopfenfelder. Aus Hopfen wird Bier gebraut. Meine Großeltern haben in Maschau bei Podersam gelebt, das liegt im deutschsprachigen Grenzgebiet. Maschau ist ein ganz kleiner Ort. Mein Großvater hieß Robitschek. Ich habe die Großeltern mütterlicherseits nicht gekannt. Ich weiß aber, daß der Großvater ein kleines Geschäft mit Stoffen und solche Sachen hatte. Einmal war ich mit meinen Eltern dort. Sie hatten sieben Kinder, drei Söhne und vier Töchter. Viele haben dann in Prag gelebt. Die Großeltern mütterlicherseits sind in Maschau begraben, da ist auch ein jüdischer Friedhof. Dort leben schon lange keine Juden mehr. Der Friedhof ist ganz verwachsen. Sonst alles gut erhalten, aber man kann die Grabinschriften nicht lesen, weil es dort so verwachsen ist. Ich war mit meiner Frau dort, und wir sind unter den Bäumen und unter den Sträuchern gekrochen, ich habe sogar meine Brille dort verloren, das Grab aber nicht gefunden.
Meine Kindheit
Meine Mutter, Elisabeth Lion, geborene Robitschek, wurde am 10.1.1885 in Maschau geboren. Sie hat nach Prag geheiratet. Eine ihrer Schwestern hat einen Arzt auch aus dem Grenzgebiet geheiratet, und sie sind nach Wien übersiedelt, wogegen alle anderen Kinder in Prag gelebt haben. Einer war Zahnarzt, einer hatte eine Werkstatt, wo Handschuhe erzeugt wurden. Das waren die Männer der Schwestern meiner Mutter, zwei Brüder haben in Wien gelebt. Wir waren so eine typisch Prager jüdische Familie.
Ich habe sie alle gekannt, und alle hatten, bis auf eine einzige Ausnahme, zwei Kinder. Mit allen haben wir uns sehr gut verstanden.. Ein Onkel war fromm war, er war Vorstand der Alt-Neu-Synagoge in Prag. Fischl hieß er, Karl Fischl. Er war der Älteste, also quasi anerkannt von der ganzen Familie als Oberhaupt. Seine Frau, sie war für mich wie eine zweite Mutter, die hab ich furchtbar gern gehabt. Bei meinem religiösen Onkel war mein zweites Zuhause, ich war sehr oft bei ihnen. Sie haben ein jüdisches Leben gelebt. Am Pessach haben sie immer Familienseder gemacht, da waren wir vielleicht 30 Leute, mit den Kindern. Alle waren wir dort. Ich kann mich erinnern, man musste die Tür zwischen zwei Zimmern öffnen, damit man den Tisch durchtragen konnte. Wir Kinder sind alle am Ende des Tisches gesessen. Wir haben in der Pariser Straße gewohnt, das war direkt vis-à-vis der Alt- Neu-Synagoge. Aus dem Fenster haben wir auf die Alt-Neu-Synagoge heruntergeschaut. Aber alle anderen Familienmitglieder waren überhaupt nicht fromm.
Mein Vater hieß Arthur Lion und wurde am 18.4.1883 in der Nähe von Prag geboren. Er war vielleicht nie in einer Synagoge, meine Mutter ist, so wie die meisten Prager Juden, nur zu den sogenannten hohen Feiertagen in die Synagoge gegangen, d.h. zweimal im Jahr. Aber durch den Einfluss dieses Onkels bin ich in die jüdische Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache gegangen. Sie hat sich nur dadurch von den anderen Schulen unterschieden, dass dort die jüdischen Feiertage eingehalten wurden. Eine jüdische Mittelschule gab es in Prag nicht. Ich hatte einen Bruder, der um 13 Jahre älter war, weil der Weltkrieg dazwischen lag. Mein Vater war eingerückt, er war Offizier der österreichischen Armee. Er durfte sogar seinen Hund, einen Boxer, mitnehmen. Die Familie war väterlicherseits eher tschechisch orientiert. Mütterlicherseits war die Familie auch deutsch orientiert. Und die tschechisch Orientierten, das waren vier Cousins von meinem Vater, sie sind während des Weltkrieges in die tschechische Legion eingerückt. Sie waren österreichische Soldaten und sind übergelaufen zu den Alliierten. Dort wurde eine tschechische Legion gegründet, sie haben für die Freiheit der Tschechoslowakei gekämpft. Die vier Cousins waren in der französischen Armee als Legionäre in Russland, in Frankreich und in Italien. Auf die war ich sehr stolz, weil die Legionäre sehr angesehen waren während der Ersten Republik. Die haben die Freiheit erkämpft für die Tschechoslowakei und sie sind immer in den Uniformen zu den Feiertagen gegangen, auch in die Synagoge sind sie in der Uniform gekommen. Die Kinder von ihnen wurden alle tschechisch erzogen.
Bei uns zu Hause sprach man deutsch und tschechisch. Meine Mutter sprach deutsch mit uns, mein Vater tschechisch und mit meinem Bruder habe ich nur tschechisch gesprochen. Wir hatten eine bürgerliche Drei-Zimmer-Wohnung. In Prag war die Wohnungskultur höher als in Österreich. Wir hatten in Wien Familie, mütterlicherseits zwei Brüder, Max und Ernst Robitschek. Sie sind als junge Burschen in die Reichshauptstadt Wien gegangen, um ein Handwerk zu erlernen und haben eine Familie gegründet. Und da bin ich, um richtig Deutsch zu lernen, manchmal im Sommer nach Wien gefahren und hab bei ihnen gewohnt. Wir sind in Wien in Wohnungen gekommen, bürgerliche Häuser, wo das Klosett für das ganze Stockwerk draußen am Gang war. Sogar Wasser hat man am Gang geholt. Das hat es in Prag in solchen Häusern nicht gegeben. Eine Bassena? Die kannte man in Prag in den bürgerlichen Häusern nicht.
Jeden Sommer bin ich mit meinen Eltern auf Sommerfrische gefahren. Wir waren in Österreich, aber auch in Deutschland. In der Nähe der deutschen Grenze war Bad Schandau. Dort waren wir auf Sommerfrische. Ich bin auch oft in Kindercamps gefahren, weil mein Vater nur einen Monat Urlaub hatte. Ich war einen Monat mit den Eltern und einen Monat in einem Camp.
Mein Bruder Frantiŝek war 13 Jahre älter als ich. Er wurde am 5.1.1909 in Prag geboren. Er hat den ganzen Krieg mit den Eltern erlebt. Ich bin erst nach dem Krieg geboren. Trotz des Altersunterschiedes hat er sich sehr liebevoll um mich gekümmert und, da mein Vater schon ziemlich alt war, hat er mir eigentlich den Vater ersetzt. Wenn ich Probleme hatte, bin ich zu ihm gegangen. Er hatte viel Verständnis für mich. Die Eltern waren schon viel zu alt, um für Kleinkinder Verständnis zu haben. Er hatte das Verständnis, und so habe ich meine Probleme oft über ihn zu den Eltern gebracht. Ich hab immer zuerst mit ihm gesprochen. Mein Vater war ein Gesellschaftsmensch, er hat gern Leute um sich gehabt. Wir hatten oft Gäste am Abend, die Köchin hat bei uns gelebt, sie hatte ein kleines Zimmer neben der Küche. Die Wohnungen waren alle schon so eingerichtet, dass die Küche mit einem kleinen Zimmer für die Köchin vorhanden war. Wir hatten immer eine Köchin zu Haus. Es gab Köchinnen, die waren christliche Mädchen. Ich kann mich erinnern, eine war in der Heilsarmee, die hat mich manchmal mitgenommen. Die Heilsarmee hatte in Prag so ein Haus, wo sie am Sonntag Nachmittag für Kinder alle möglichen Programme hatten.
Ich wurde nicht spezifisch jüdisch erzogen. Mein Vater hat nie verheimlicht, dass er Jude ist, im Gegenteil, er war Mitglied vom Bnai Brith und hat für alle möglichen jüdischen Vereine gespendet. Durch den Einfluss meines orthodoxen Onkels war ich Bar Mizwah. Während der Feier wurde mein Vater aufgerufen. Er hat überhaupt nichts gekonnt, er war nie in der Synagoge. Man hatte ihm vorher gesagt, er muss die Braha sagen. Er hatte alles lateinisch auf ein Stückerl Papier aufgeschrieben und das Papier ins Gebetbuch gelegt. Als er ausgerufen wurde, und er das Gebetbuch öffnete, war das Papier weg. Er angefangen zu schwitzen und hat verzweifelt das Papier gesucht. Der Kantor stand mit dem silbernen Finger daneben und hat ihn gefragt, was er ununterbrochen suche, und sagte: "Ich zeig Ihnen, wo die Stelle ist." Mein Vater konnte ja nicht sagen, daß er die Schrift nicht lesen kann. Und dann ist ihm irgendwie eingefallen, dass das Gebet mit dem Wort "Baruch" beginnt und mit "Amen" endet. Und dass die orthodoxen Juden so schnell beten, dass man sie nicht versteht. So hat er angefangen: "Baaaaruch (Rhabarber Rhabarber Rhabarber). Amen." Kein Mensch hat bemerkt, dass er es nicht konnte, nur ich habe es bemerkt und ich habe furchtbar angefangen zu lachen. Der Rabbiner hat mir gedroht, dass er mich aus der Synagoge hinauswirft, wenn ich noch einmal lachen werde. Also bei uns wurde diese religiöse Seite sehr, sehr liberal behandelt. Und wie die meisten Prager Juden hatten wir sogar einen Christbaum zu Weihnachten. In der jüdischen Schule hatten die meisten Mitschüler Christbäume zu Haus. Das war so, die Prager sind nicht so religiös, auch die Christen sind weniger religiös. Das Weihnachtsfest, das ist ein Volksfest. In der Schule spricht man einen Monat lang darüber. Dann sind Feiern in Vereinen und Kinderbescherungen. Man spricht über nichts anderes unter den Kindern. Und der Weihnachtsmarkt am Altstädter Ring ist wunderschön. Mein Vater war auch der Ansicht, es ist ein Volksfest, und wenn die Kinder sich alle auf die Bescherung freuen, so soll sich auch mein Kind darauf freuen. In der Schule, nicht in der jüdischen Schule, aber als ich dann auf dem Gymnasium war, stand ein Weihnachtsbaum in jeder Klasse. Wir Schüler haben die Kerzen angezündet und der Lehrer hat gesagt, er werde uns die Weihnachtslaune nicht stören. Und er hat nicht unterrichtet.
Antisemitismus habe ich in Prag nicht gespürt. Es gibt überall Antisemitismus und Antisemiten, aber in Prag wenig, und ich hab es nicht gespürt. Ringsherum gab es lauter faschistische oder faschistoide Staaten - Deutschland, Österreich, Ungarn, Polen, Rumänien. In der Mitte gab es die demokratische Tschechoslowakei. Durch Masaryks Einfluß, er war sehr beliebt in der Tschechoslowakei, quasi ein Abgott für die Leute. Er hat gegen den Antisemitismus gekämpft, und was er gesagt hat, war für die meisten Leute heilig. In der Tschechoslowakei war der Antisemitismus eher national begründet. Die Juden haben im Ghetto gelebt. Sie haben eigentlich das Ghetto unter den tschechischen Fürsten, mit den Mauern herum, als Schutz bekommen. Die Leute haben in furchtbaren Verhältnissen dort gelebt, weil das Ghetto klein war und sie waren zusammengepfercht, zwei Familien in einem Zimmer. Mit Kreide in der Mitte wurden die Zimmer geteilt. Und dann ist Josef II. Kaiser geworden, der wollte die Juden in Böhmen germanisieren. Er hat gesagt, diejenigen Juden, die heraus wollen aus dem Ghetto und die einen normalen Beruf ausüben wollen, können das tun, wenn sie folgende Bedingungen erfüllen: Sie müssen einen deutschen Namen annehmen Deshalb haben die meisten Juden dort deutsche Namen. Sie mußten die Kinder in deutsche Schulen außerhalb des Ghettos schicken, müßten ihre Geschäftsbücher in deutscher Sprache führen, usw. usw. Daraufhin haben die Prager Juden eine Deputation nach Wien zum Kaiser geschickt, um ihn zu bitten, die Bedingungen zu streichen. Aber der hat darauf bestanden. Wegen der schlechten Bedingungen im Ghetto haben die Juden dann nachgegeben. Es gab natürlich auch solche, die geblieben sind. Dadurch, dass die Kinder in deutsche Schulen mussten, haben sie sich dem deutschen Kulturkreis angeschlossen. Das hat man den Juden später sehr verübelt, denn als die Nazis schon in Deutschland waren, haben die Juden in Prag immer noch Deutsch gesprochen. Viele, nicht alle, aber die Hälfte, und sie haben auch zum Teil ihre Kinder noch in die deutsche Schule geschickt. Das haben ihnen die Tschechen sehr verübelt. Sie wussten nämlich nicht, warum sie sich zum Deutschtum bekannt haben. Ich kann mich erinnern, daß bei den hohen Feiertagen vor den Synagogen - in Prag gab es allein in der Altstadt acht Synagogen - die Leute draußen standen und sich in deutscher Sprache unterhielten. Aus jüdischen Jugendorganisationen, ich war auch dabei, sind dann immer zwei gegangen, und wenn sie deutsch gehört haben, den Leuten gesagt: "Bitte hören Sie auf und machen Sie keinen Antisemitismus hier. Gehen Sie irgendwo hin, aber stehen Sie nicht vor der Synagoge und sprechen Deutsch!" Die Rabbiner haben in vielen Synagogen Deutsch gepredigt. Und das musste dann von der jüdischen Gemeinde verboten werden, und es musste tschechisch gepredigt werden. Aber viele Rabbiner haben tschechisch nicht gekonnt. Eine andere Gruppe waren die zionistischen Juden, die waren so zur Hälfte tschechisch und zur Hälfte deutsch eingestellt. Aber sie waren jüdisch- national und assimiliert. In Prag und in den großen Städten war das so. In den kleinen Städten und in den Dörfern waren die Juden tschechisch assimiliert. Wir sind oft in das "Deutsche Haus" in Prag gegangen, das war ein großes Restaurant mit Garten, und die waren, als die Deutschen gekommen sind, die ersten, die eine Tafel rausgehängt haben, auf der stand: "Juden unerwünscht". Ich bin einmal mit meinem Vater dort vorbeigegangen und da kommt ein Bekannter von ihm, ein Jude, heraus. Mein Vater sagt: "Wie kannst Du da reingehen? Es steht doch, Juden unerwünscht." Sagt der: "Na ja, unerwünscht, aber nicht verboten." Die Mentalität der deutschen Juden war etwas ganz Besonderes. Das hat man ihnen sehr verübelt.
Während des Krieges
Meine Eltern hatten größtenteils jüdische Freunde. Dadurch, dass meine Mutter nicht aus dem tschechischen Milieu kam, musste sie sich im deutschen Milieu aufhalten, mehr oder weniger. Aber die Deutschen haben die Juden nicht als ihresgleichen akzeptiert. Mit den Tschechen war das anders. Da hatten sie nur jüdische Freunde. Ich hatte einen christlichen Freund, der hatte eine deutsche Mutter und einen deutschen Vater. Die Deutschen haben ihn in die deutsche Studentenschaft gezwungen. Ich kann mich erinnern, dass ich ihn in der Pariser Straße, das war die Hauptstraße des gewesenen Ghettos, getroffen habe. Plötzlich sehe ich ihn in der SS-Uniform für Studenten. Ich bin auf die andere Straßenseite gegangen, aber er hat mich gesehen und gerufen. Ich konnte nicht mehr ausweichen, er ist zu mir ´rübergekommen. Ich habe mich furchtbar geschämt, dass ich mit einem Deutschen, noch dazu einem SS-Mann, auf der Straße stehe und mich unterhalte. Er war Tscheche, er war tschechisch erzogen, er war kein Nazi. Er hat Fußball mit mir in einer Mannschaft gespielt. Nach dem Krieg waren meine Frau und ich bei ihm und seiner tschechischen Frau eingeladen. Als die Deutschen gekommen sind, durften die Juden nicht mehr die Schule besuchen. So musste ich aus der Schule raus. Der Bruder meines Vaters war in Palästina, er hat uns ein Zertifikat verschafft. Und er hat uns gesagt, dass ich für Palästina ein Handwerk brauche. Da habe ich in einer Fabrik als Schlosser gearbeitet, damit ich das Handwerk erlerne. Aber nur ungefähr drei Monate lang, dann sind wir weggefahren. Wir sind noch legal herausgekommen.
Mein Vater hatte einen Onkel in New York. Dieser Onkel war durch Zufall nach New York gekommen. Der Großonkel meines Vaters lebte schon sehr lange in Amerika. Einmal kam er zu Besuch nach Prag und sagte zu dem Onkel meines Vaters: "Na komm, begleite mich nach Bremen zum Schiff." Er hat ihm die Fahrt mach Bremen und zurück nach Prag bezahlt.
Als sich der Onkel meines Vaters in Bremen das Schiff anschaute, ist es losgefahren. Der Großonkel meines Vaters ist zum Kapitän gelaufen und hat gesagt, er habe seinen 17jährigen Neffen an Bord, der müsse zurück nach Prag, da hat der Kapitän gesagt, er können doch nicht wegen meines Onkels zurückfahren. Also ist der Onkel mit nach Amerika und dann wollte ihn der Großonkel von Amerika zurück nach Prag schicken. Der Großonkel hat in Amerika gesagt, mein Onkel solle sich, wenn er schon mal da sei, ein bisschen Amerika ansehen. Der Großonkel hatte sofort nach Prag telegrafiert, dass der Onkel auf dem Schiff sei, und man soll keine Angst haben. Das war ja im tiefen Frieden, also sie mussten wirklich keine Angst haben. Aber der Onkel ist dort geblieben, er hat angefangen, die Schule zu besuchen, hat studiert und ist Bergbauingenieur geworden. Er wurde sehr reich in Amerika und ist jedes Jahr nach Prag gekommen. Als der Onkel meines Vaters starb, hat er allen Kindern, Neffen, Nichten, je 2000 Dollar vermacht. Er war Zionist, aber in Palästina wollte er nicht leben. Die 2000 Dollar haben uns das Leben gerettet. Er hat das Geld nach Palästina geschickt, nicht nach Prag, und der Bruder meines Vaters, der dort gelebt hat, hat von dem Geld eine Orangenplantage gekauft. Und unser Geld hat er dort angelegt. Als Hitler kam, hat er Zertifikate für uns gekauft und wir konnten nach Palästina. Mein Vater war sehr froh darüber und so sind wir alle ´rausgekommen. Meine Onkel und Tanten waren keine armen Leute, aber draußen hatten sie kein Geld. Die Deutschen hätten ihnen schon nicht mehr bewilligt, Dollar für eine Schiffskarte zu kaufen. Beinahe alle sind umgekommen, ein paar Cousins und Cousinen haben sich gerettet. Von den sieben Geschwistern meiner Mutter gab es ja 14 oder 15 Kinder, die waren alle schon verheiratet. Ich war der Jüngste von allen Cousins und Cousinen, das Nesthäkchen in der Familie.
Palästina
Wir sind zweimal gefahren. Das erstemal kurz nachdem die Deutschen einmarschiert sind. Da haben sie den Juden noch Bewilligungen gegeben, ins Ausland zu fahren. Wir sind an die italienische Grenze gekommen und am Abend hat Hitler im Radio eine Rede gehalten. Es hieß, er wird Italien den Krieg erklären und die Grenze wird gesperrt, und wir werden nicht weiterfahren dürfen. Man hat gesagt, wir müssen abwarten, was Hitler sagt. Ich bin in die SS-Kaserne gegangen und habe die Hitler-Rede angehört. Ich hatte in der SS-Kaserne keine Angst. Mich hat niemand als Juden erkannt. Ich hab in Prag größtenteils christliche Freunde gehabt, für eine Prager Fußballmannschaft und Eishockey gespielt und war vollkommen im Prager Milieu assimiliert. Ich bin aus der SS-Kaserne heraus und hab zu meinen Eltern gesagt, wir müssen zurückfahren, Hitler hat den Krieg erklärt. Und mein Vater hat gesagt, daß wir aber kein Geld zum Zurückfahren haben.
Wir hätten ja auch kein Geld mehr gebraucht, wir hatten die Fahrt bezahlt, sogar die Fahrt mit dem Schiff von Triest nach Haifa. Das restliche Geld hatten wir unseren Verwandten in Prag gegeben. Jetzt wussten wir nicht, wie wir nach Prag zurückkommen sollten. Das waren österreichische Bahnen, also deutsche Bahnen, nachdem die Deutschen Österreich besetzt hatten. Da ist mein Vater zu einem Mann mit einem Hakenkreuz am Revers gegangen. Er war Deutscher, kein Österreicher. Mein Vater hat ihm die Situation erklärt: "Schauen Sie", hat er gesagt "wir sind auf der Reise nach Palästina. Wir sind Juden, und wir müssen nach Prag zurück, weil der Krieg ausgebrochen ist. Und jetzt haben wir kein Geld für die Rückreise. Ich wollte Sie bitten, wir sind mit einem Kind unterwegs, ob Sie uns Geld für die Reise nach Prag borgen könnten." Der mit dem Hakenkreuz war ein Deutscher, er hat die Börse heraus gezogen und gesagt: "Wieviel brauchen Sie?" Mein Vater hat gesagt: "Na ja, es kostet so und so viel für drei Personen. Ich kann Ihnen nichts anderes als versprechen, dass ich morgen früh, wenn ich in Prag ankomme, das Geld sofort zurücksende." Das hat er, als wir in Prag waren, auch sofort getan. Auf mein schönes Gesicht hin, hat der Nazi gesagt, und meinem Vater das Geld gegeben. Aber es war ein Glück, dass es ein Deutscher war, ein Österreicher hätte das damals nicht gemacht. Das waren Obernazis. Wir konnten nach Prag zurückfahren. Jetzt hatten wir keine Wohnung mehr, alles war weg und wir haben uns bei der Tante vis-à-vis der Alt-Neu- Synagoge einquartiert. Mein orthodoxer Onkel war schon gestorben, seine Frau war noch in der Wohnung. Die Frau ist geblieben, die ganze Verwandtschaft ist geblieben. Alle sind umgekommen. Die Kinder sind fast alle weggefahren, aber die Alten sind in Prag geblieben und umgekommen. Dreissig Personen aus meiner Familie sind ermordet worden. Sie haben geglaubt, es wird nicht lang dauern, und diese Zeit werden wir hier überstehen. Es sind noch weitere Transporte, die bewilligt waren, nach Palästina gegangen, bis Ende 1939. Wir sind mit dem letzten Transport legal hinaus gekommen.
Mein Bruder war mit seiner Frau schon draußen. Sie war zu der Zeit schon seine Frau, weil sie in Rom geheiratet hatten. Mein Bruder hat erzählt, daß die Italiener sich den Juden gegenüber sehr gut benommen haben. Sie waren in jeder Hinsicht hilfreich. Mein Bruder war Rechtsanwalt in Prag. Er war Konzipient in einer Kanzlei, in einer Rechtsanwaltskanzlei. Er hat eine Christin geheiratet, die zwar zum jüdischen Glauben übergetreten ist, aber das war so eine formelle Sache. Sie hat es gemacht, damit sie beide dieselbe Religion haben. Das war in Prag so Sitte. Sie haben in Rom geheiratet und sind dann auf der Fahrt nach Shanghai gewesen. Dort überlebten viele Juden den Krieg. Und während sie auf dem Schiff waren, aber bevor das Schiff durch den Suezkanal fuhr, hat mein Vater es geschafft, wir waren zu der Zeit schon in Palästina, ihn und seine Frau in Suez vom Schiff zu holen und nach Palästina bringen zu lassen. Ein Großteil der Familie meines Vaters war schon längere Zeit in Israel. Das waren Zionisten, und sie hatten ziemlich hohe Positionen dort. Sie haben den Bürgermeister von Tel Aviv gekannt, den Rokach, das waren Freunde von ihm. Sie kannten die Staatsmänner und haben für meinen Bruder ein Zertifikat bekommen. Wir haben aufs Schiff telegrafiert, man soll ihm sagen, er soll in Suez aussteigen, wir haben für ihn die Bewilligung für die Einreise nach Palästina. Er soll eine Fahrkarte nach Tel Aviv kaufen.. Und wir sind ihm entgegen gefahren und haben ihm vor der Grenze das Zertifikat gegeben. So kamen mein Bruder und seine Frau nach Tel Aviv. Sie war Schneiderin und hatte im besten Salon Prags gearbeitet. Mein Bruder und seine Frau haben sich in Jerusalem niedergelassen, und dort hat sie einen Schneidersalon eröffnet. Er war in der tschechischen Armee, die während des Zweiten Weltkriegs im Ausland war.
Als wir in Palästina ankamen, war ich sechzehn Jahre alt. Es war schwierig für mich. Mein Vater hat mich in Tel Aviv in eine Schlosserschule eingeschrieben, in die Max-Bein-Schule. Ich weiß nicht, wer Max Bein war. Ich hab dann die Schlosserei gelernt und hab kein Wort verstanden. Der Lehrer war meinetwegen unglücklich. Er musste alles übersetzen, und er selbst hat nur Jiddisch gesprochen, und da war er ganz verzweifelt. Einmal hat er zu mir gesagt: "Ein Wort in Hebräisch, sagen Sie EIN Wort!" Da hab ich gesagt, "Schalom", und er hat mich aus der Klasse geworfen.
Zu dieser Zeit war die große deutsche Aliah. Tausende deutscher Juden sind gekommen, und haben größtenteils Deutsch miteinander gesprochen. Sie haben auch hebräische Worte verwendet, sie sind ins "Jam" schwimmen gegangen, "Jam" heißt das Meer. Sie haben sich gegrüßt mit "Schalömchen" und so die hebräische Sprache germanisiert.
Ich habe als Schlosser gearbeitet, aber dann war die Mobilisierung in Israel und ich bin zur Polizei gegangen. Wir sind nach Jerusalem übersiedelt, weil mein Bruder dort war, und haben in einem arabischen Viertel gewohnt. Es war ein gutes arabisches Viertel, wo sehr hübsche Wohnungen waren. Dort hatten wir eine Drei-Zimmer-Wohnung, wie in Prag. Mein Vater starb 1944 in Jerusalem
Der Dienst bei der Polizei war nicht leicht. Wir hatten die ganze Nacht irgendwo Dienst, wir haben alle Elektrizitätswerke bewacht, weil die Araber alle deutschfreundlich waren. Man hat Angst gehabt, dass sie etwas in die Luft sprengen, ein Elektrizitätswerk vielleicht.
Jerusalem ist sehr kalt im Winter. Tagsüber hab ich geschlafen und am Abend bin ich in den Dienst gegangen. Es war furchtbar. Und dann gab es die tschechische Mobilisierung für tschechische Bürger im Ausland. Mein Bruder war schon in der Armee, und ich hab mich auch gemeldet. Ich war noch nicht 18 Jahre alt. Ich habe jüdische Kinder gekannt, die haben sich älter gemacht, nur damit sie in der Armee gegen Hitler kämpfen konnten. Aber ich hab das Alter nicht geändert, und ich bin nach Persien geschickt worden. Dort war eine Gruppe tschechischer Fachleute. Dadurch, dass ich Schlosserei gelernt hatte, bin ich als Schlosserfachmann geschickt worden. Dort hat man Raffinerien gebaut. Die Amerikaner haben damals das sogenannte "leichte Öl" für Flugzeuge entwickelt, da haben sie dort Raffinerien gebaut für leichtes Öl. Von vielen alliierten Ländern waren Fachleute dort. Dort war ich zwei Jahre, aber dadurch, dass ich Englisch konnte - es gab in der tschechischen Armee nicht viele Leute, die Englisch sprachen - haben sie mich nach Jerusalem geschickt. Ich hab am Alliierten Headquarter, Military Headquarter gearbeitet und dort bin ich meiner späteren Frau begegnet.
Meine Frau Hannah kommt aus einer armen Familie und musste mitarbeiten, um die Familie zu ernähren. Ihr Vater war ein geborener Schmuel Schlesinger aus Russland, die Mutter aus Litauen. Er nahm in Palästina den Namen Haramati an. Hannah wurde am 30.4.1926 in Jerusalem geboren. Ihre Familie war religiös, da wurden die Feiertage eingehalten, und der Vater setzte sich beim Essen eine Kopfbedeckung auf. Ich habe das aber abgelehnt, ich wäre mir so lächerlich vorgekommen. Es war blöd von mir, aber ich war ein junger Bursch. Ich hatte nie gesehen, dass sich jemand etwas auf den Kopf setzt, nur weil er ißt. Hannahs Vater hat mich trotzdem sehr gern gehabt.
Rückkehr nach Prag
Zur Demobilisierung bin ich zurück nach Prag gekommen. Mein Bruder war schon in Prag. Als ich zurückkam, war mein Bruder im tschechischen Pressebüro tätig. Er hat zu mir gesagt, ich wäre schon als Kind sehr neugierig gewesen, ich müsste Journalist werden. Und auch für mich war selbstverständlich, dass ich Journalist werde. Ich hatte schon für eine Zeitung Artikel über Israel geschrieben. Israel war damals interessant, weil dort der Kampf um die Freiheit Israels und die Loskoppelung vom englischen Mandat begonnen hatte. Darüber hat die ganze Weltpresse berichtet, und ich hab als Korrespondent nach Prag geschrieben. So hab ich eigentlich angefangen, für Zeitungen zu schreiben.
Meine Mutter ist mit uns nach Prag zurückgegangen. Viele Juden sind aus den Konzentrationslagern und aus der Emigration nach Prag zurückgegangen,. Die tschechische Regierung hat organisiert, dass alle tschechoslowakischen Staatsbürger, die emigrieren mußten, zurückkehren. Sie haben aus Übersee Schiffe gechartert, um die Leute zurückzubringen und eigene Emigrantenzüge organisiert, die die Juden zurück gebracht haben. Ich bin aus Prag wieder zurück nach Jerusalem gefahren, und als ich mit meiner Frau 1947 nach Prag kam, haben wir eine Wohnung zugeteilt bekommen, in der Deutsche gewohnt hatten. Die deutschen Wohnungen wurden an Juden oder an Soldaten, die zurückgekommen sind, abgegeben. Zuerst wohnten wir in Untermiete in der Jesenska, das ist eine Nebenstraße der Pariser Straße, vis-à-vis der Synagoge. Und dann haben wir eine Wohnung in der Revolutionsstrasse zugeteilt bekommen, auch wieder eine Drei-Zimmer-Wohnung. Ich muß immer in dieser Gegend um den Altstädter Ring wohnen. Hier hat sich alles abgespielt - Weihnachtsmarkt, Nikolomarkt, die ganzen Demonstrationen, Paraden, Militär, alles war immer am Altstädter Ring. Das war mein zu Hause. In Prag waren auch meine Freunde, Mitschüler und Mitglieder meines Fußballklubs. Es waren viele Freunde dort. Man hat nicht mehr über die Schrecken des Krieges gesprochen. Die jungen Leute meiner Familie haben überlebt, in London waren vier Cousins, in Israel hatten zwei Cousins überlebt.
Der Prager Oberrabbiner hat während des Krieges in Jerusalem gewohnt, und er ist dann nach Prag als Oberrabbiner zurückgekommen. Er hatte uns noch in Jerusalem getraut. Er hat zu meiner Frau gesagt, er übernehme die Rolle ihres Vaters.. Und wir waren dann immer bei ihm zu den Feiertagen. Er war ein Prager Jude. Er war zwar konservativ-religiös, aber er hat die Prager Juden gekannt. Er wusste, dass ich von Religion nichts verstehe, aber er Verständnis gehabt. Religion als solche hat mich nie angezogen, weder jüdische noch andere. Ich hab das Falsche gesehen, was in der Religion steckt. Alle reden sie über Gleichheit, aber wohin man schaut, wird Krieg geführt. Der Rabbiner starb, und als seine Frau im Krankenhaus auch im Sterben lag, hat meine Frau sie besucht und sie sagte zu meiner Frau: "Hier nimm den Schlüssel von meiner Wohnung, Du kannst in die Wohnung gehen. Alles, was Du willst, kannst Du nehmen, es gehört Dir, nur das Geld auf der Bank gebe ich Dir nicht, weil es nicht gut ist, jungen Leuten viel Geld zu geben. Ihr seid zu jung und könnt das Geld nicht schätzen und es verdirbt euch den Charakter." Wir hatten wenig Geld, im Kommunismus hat man nicht viel verdient. Meine Frau hat sofort, nachdem sie in Prag ankam, auch gearbeitet. Sie war in einer Patentkanzlei, wo sie für die englische Korrespondenz zuständig war. Die anderen jungen Frauen in der Kanzlei waren alle in ihrem Alter und haben sie gefragt, ob sie auch Weihnachten feiert. Nein, Weihnachten feiert sie nicht. Aber das wäre doch so ein schöner Feiertag, sagten die jungen Frauen. Sagte sie: "Na ja, aber ich bin keine Christin, und das ist ein christlicher Feiertag." Die jungen Frauen meinten, das sei ein Feiertag für alle. Und sie hatten natürlich auch einen Weihnachtsbaum in der Kanzlei. Sie haben ihr einen geschmückten Weihnachtsbaum vor unsere Wohnung gebracht. Meine Frau kam nach Hause und da stand ein geschmückter Weihnachtsbaum vor der Tür. Nach zwei Jahren hat sie schon unterrichtet. Sie hat am orientalischen Institut der Universität Hebräisch und Englisch unterrichtet Wer Hebräisch lernen wollte brauchte eine Bestätigung vom Arbeitsplatz, dass er die Sprache braucht. Aber man konnte das irgendwie organisieren. Meine Frau hat auch auf der israelischen Botschaft die Kinder des Botschafters für die Schule in Israel vorbereitet. Sie hat eine besondere Bewilligung bekommen, um in die Botschaft hineinzukommen. In der Tschechoslowakei wurden alle Geschehnisse vom arabischen Standpunkt aus geschildert. Israel war in der Tschechoslowakei kein Thema. Die israelische Botschaft hat in Prag, zum Unterschied von hier, heute noch, immer Feiern gefeiert. Zu allen Feiertagen waren wir eingeladen, weil meine Frau dort unterrichtet hat. Unter den Gästen der Botschaft waren sicher Leute, die der Staatspolizei berichtet haben.
Als meine Frau in der Sprachschule unterrichtete, hat meine Cousine, sie war in der Partei, ihr geholfen. Der Leiter der Abteilung hat der Partei gemeldet, er habe eine Lehrerin, eine Israelin, und er kann nicht garantieren, daß sie nicht pro-israelische Propaganda macht. Meine Cousine hat gesagt: "Ich kenne sie und ich garantiere, dass sie okay ist." Durch Zufall hat sie auch einen Mann unterrichtet, der beim Innenministerium war und Ivrit lernen mußte, um Dokumente zu lesen. Sie hat diesen Mann angerufen, und er hat organisiert, dass sie weiter unterrichten konnte. Er hat gesagt, fahrt nach Israel, deine Frau soll dort kommunistische Propaganda machen, dass brauchen wir. Er war so ein Fanatiker.
Meine Arbeit als Redakteur
Ich hab viel gearbeitet habe, ich war Redakteur, zuerst in einer Wochenzeitschrift, und dann in einer Tageszeitung. Die Wochenzeitschrift gehörte zu einem großen Verlag. Vor dem Krieg war das die deutsche Zeitung "Prager Tagblatt". Als die Nazis gekommen sind, haben sie die Redaktion besetzt, weil dort viele jüdische Journalisten waren, die mussten natürlich alle sofort raus. Dann haben sie eine Nazizeitung daraus gemacht. Als dann die Kommunisten 1948 die Zeitschrift übernommen haben, hab ich auf meinem Tisch ein Formular vorgefunden. Es war ein Formular für die Anmeldung für die kommunistische Partei. Ich hab es genommen, zusammengeknüllt und weggeworfen. Mir vis-à-vis ist einer gesessen, der war Kommunist, ein junger Mann in meinem Alter, er hat gesagt: "Du verdirbst Dir Deine eigene Zukunft, wenn Du das machst." Und ich hab gesagt: "So eine Zukunft will ich nicht. Ich bin kein Kommunist, ich werde nicht in die kommunistische Partei eintreten." Daraufhin hatte ich nächsten Tag wieder das Formular auf dem Tisch. Ich hab es wieder genommen und wieder in den Papierkorb geworfen. Und mein Kollege hat das der Direktion des Verlages gemeldet. Ich bin am Vormittag weggegangen, und als ich in die Redaktion zurückgekommen bin, hatte ich meine Kündigung am Tisch. Tausende sind damals, weil sie die Anmeldung für die KPC nicht unterschreiben wollten, aus der Arbeit herausgeflogen. Der Ministerpräsident hat gesehen, dass es sich wirtschaftliches negativ auswirken wird. Deshalb hat er eine Erklärung herausgegeben, dass die Nichtmitgliedschaft in der kommunistischen Partei kein Grund zur Kündigung sei. Ich bin mit der Kündigung, die ich am Tisch, hatte auf die Rechtsabteilung der Gewerkschaft gegangen und hab gesagt, "Schauen Sie, der Ministerpräsident hat gesagt, dass man nicht Mitglied der Kommunistischen Partei sein muß." Das waren noch Nichtkommunisten, die dort gesessen sind. Die Rechtsabteilung der Universität war in den Händen der Rechten. Die haben gesagt: "Gehen Sie zurück, und Sie werden auf dem Schreibtisch Ihren neuen Vertrag vorfinden." Ich bin zurückgegangen, und wirklich, ich hatte einen neuen Vertrag auf dem Schreibtisch. Die hatten das telefonisch erledigt. Dann war ich noch zwei Jahre dort. Ich hatte ein kleines Bild von Masaryk, er war der Mitbegründer des selbstständigen tschechoslowakischen Staates, auf dem Schreibtisch stehen. Ich hatte einen Artikel geschrieben, in dem ich positiv über Masaryk berichtete. Eine Leserin hatte mir ein ganz kleines Bild von Masaryk in einem Bilderrahmen geschickt und mir geschrieben, dass es sie freut, dass noch jemand tapfer genug ist, um positiv über Masaryk zu schreiben. Im Jahr 1950 haben die Kommunisten eine Kampagne gegen Masaryk gestartet. Er war sehr beliebt und er war eigentlich ein Symbol der Demokratie. Der Kollege, der im Büro da neben mir saß, hat gesagt, ich solle sofort das Bild entfernen. Und ich hab gesagt, das fällt mir nicht ein. Für mich ist Masaryk immer das Muster eines Demokraten gewesen. Als ich am nächsten Tag in den Dienst kam, war das Bild weg. Ich hab so einen Wutanfall bekommen und hab angefangen, auf den Tisch zu schlagen, und hab geschrien: "Sofort kommt das Bild wieder zurück!" Das Bild ist nicht zurückgekommen und ich auch nicht mehr. Damals waren die Kommunisten schon so etabliert, dass ich das zweite Mal gekündigt wurde, und da konnte ich nicht mehr zurück. Das war im Jahr 1950.
1951, als meine Frau mit unserem ersten Kind im siebten Monat war, wollte sie zu ihren Eltern, um sie zu besuchen. Sie mußte ins Innenministerium, und sie haben gesagt: "Wissen Sie, was Sie dort, in Israel, erwartet? Alle Journalisten werden Sie bedrängen und ausfragen. Was werden Sie dann sagen?" Meine Frau antwortete: "Was kann ich sagen? Ich kann nur darüber erzählen, was ich erlebe, es gibt keine Geheimnisse." Sie hat die Bewilligung bekommen, aber kein Geld. Alles mußten die Verwandten bezahlen. Es war schlimm für sie, weil ihr Vater starb. Er war herzkrank, und er hat sehr darunter gelitten, dass meine Frau weggefahren ist. Er ahnte die Schwierigkeiten, die wir haben würden, aber als er sagte, daß die Russen kommen würden, hab nur gelacht, und das als Lächerlichkeit abgetan. Ich hab ja den Kommunismus nicht gekannt. Im Gegenteil: Die kommunistische Partei war die Partei, die gegen den Faschismus gekämpft hat. Ich hab mir vorgestellt, jetzt wird eine Freiheit kommen, die man nie hatte. Die Tschechoslowakei war ein demokratischer Staat, durch und durch. Aber irgendwie hab ich mir was Besonderes unter dem Kommunismus vorgestellt. Der Vater meiner Frau wusste, wovon er sprach. Er sagte zu meiner Fraut: "Ich sehe, dass Du verliebt bist. Wenn ich das verbiete und Du unglücklich bist, bin ich Schuld. Ich muss Dich gehen lassen, aber ich bitte Dich, wenn etwas passiert, komm zurück." Er stammte aus Russland, er hatte die Progrome und den Antisemitismus erlebt. Damals, als meine Frau und ich nach Prag gingen, war die Tschechoslowakei noch demokratisch. Die Russen haben die Regierung erst 1948 übernommen.. Aber der Vater meiner Frau hat immer gesagt, wenn die Russen das einmal übernehmen, und das werden sie tun, dann ist Schluss. Dann sperren sie das ab.
Unsere Kinder sind im Kommunismus geboren, Michael 1951 und Thomas 1956. In Prag sind wir mit den Kindern in die Synagoge gegangen, nicht nur zu den hohen Feiertagen, sondern auch zu den kleinen. Sie wurden auch beschnitten. Aber wir haben nicht traditionell gelebt und Weihnachten gefeiert. Ich konnte mir beruflich nicht erlauben, dass meine Frau die Kinder jüdisch erzieht, aber sie hat jeden Freitag die Kerzen angezündet. Nach Israel konnten wir mit den Kindern erst fahren, nachdem wir 1968 die Tschechoslowakei verlassen hatten und in Wien lebten. Wir sind auch einmal mit Bekannten und unseren Kindern zur Mitternachtmette in die Jakobskirche, das ist eine berühmte Prager Kirche, gegangen. Wir gehen mit unseren Kindern um Mitternacht herunter, und plötzlich ist mein Sohn weg. Eine volle Kirche, man konnte sich nicht rühren. Mein Sohn hat gesehen, man gibt etwas zu essen, hat sich angestellt und ist auch essen gegangen. Er hat eine Hostie gegessen und ist zurückgekommen und hat gesagt, es zerfließt auf der Zunge.
Ich hab´ Redakteure der Zeitung, für die ich gearbeitet habe, gebeten, als hohe Feiertage waren, und wir mit den Kindern in die Synagoge gegangen sind, uns zu begleiten, damit sie sehen, wie ein jüdischer Gottesdienst ausschaut. Der Busek und der Kubik sind immer mitgegangen, weil es sie interessiert hat.
Es gab in der Tschechoslowakei eine nichtkommunistische Zeitung, die gehörte zu einer Partei, die nur als Beweis für die Welt existierte, dass es auch nichtkommunistische Parteien im Kommunismus gibt. Ich bin in diese Redaktion gegangen und habe gesagt, daß ich wegen Masaryk rausgeworfen wurde. Sie haben gesagt, bei uns ist das ein Grund, dass Sie aufgenommen werden. Ab morgen kommen Sie zu uns arbeiten. Aber die kommunistische Partei hatte immer ein oder zwei Leute als Redakteure dort eingesetzt, damit sie wissen, was dort passiert. Wir wussten, dass sie geschickt waren, und wir wussten, vor denen darf man nicht sprechen. Ich kann mich erinnern, als Gottwalds Begräbnis war, ist der Trauerzug an unserer Redaktion vorbeigezogen. Er ist in einem offenen Sarg gelegen. Wir durften nicht zu den Fenstern gehen. Die Fenster waren bewacht von Mitgliedern der Partei. Zehn Redakteure waren von einem bewacht. Den hat man genannt "Zehnerbewachung". In unserem Zimmer war so ein junger Mann, der uns bewacht hat. Der ist in einen Weinkrampf ausgebrochen, als der Sarg vorbeigefahren ist. Die Kommunisten haben gesagt, dass es keinen Unterschied zwischen Jude und Nichtjude gibt. Jetzt kommt etwas Neues. Und viele sind darauf reingefallen. Sie sind Kommunisten geworden und haben es dann auf höhere Positionen gebracht. In all diesen Ländern ist mit der Zeit der Antikommunismus gewachsen, und die Juden saßen in oberen Positionen und das hat man den Juden vorgeworfen. Während des Prager Frühlings, als Dub?ek und seine Leute nach Moskau entführt wurden und dort gezwungen wurden, ein Dokument zu unterschreiben, hat Kriegl, ein Jude, nicht unterschrieben. Die Leute haben gesagt, schau, ein Jude, und der fürchtet sich nicht, die Juden sind doch nicht feige. Ungefähr 80% der Bevölkerung war gegen die Kommunisten. Sie sind zwar mitgezogen, weil sie mußten, waren Mitglieder der Partei, haben Funktionen gehabt, sonst wären sie rausgeworfen worden. Um das zu verhindern und damit ihre Kinder studieren konnten, sind sie in der kommunistischen Partei gewesen. Das war in allen kommunistischen Ländern so.
Rückkehr nach Wien
1968 sind wir nach Wien geflohen. Ich war seit 1950, bis zum Eimarsch der Russen 1968, Redakteur bei der Zeitung.. Weil die Redaktion Angst hatte, dass ich nicht weiter bei ihnen arbeite, haben sie mich nach Wien als Korrespondent geschickt, damit ich mal heraus komme. Ich war ein Jahr offiziell in Wien als Vertreter meiner Zeitung. Sowie die Kommunisten alles wieder in der Hand hatten, haben sie die Redaktion gezwungen, mich zurückzurufen, aber ich bin nicht mehr zurückgegangen.
Wenn meine Frau jemanden mit einem Kreuz an der Kette gesehen hat, hat sie geglaubt, das sind Antisemiten. Und dann war ihre beste Freundin eine mit einem Kreuz. Als die Russen 1968 einmarschiert sind, ist sie zu uns gekommen, hat uns den Schlüssel von ihrem Häuschen gebracht und gesagt: "Da habt ihr den Schlüssel, wohnt dort, bis die Russen weg sind." Als die Russen gekommen sind, haben sie gesagt, wir machen nur Ordnung und gehen dann wieder weg. Sie wollten nie wieder weggehen, bis zum Jahr 1989.
Wir waren jetzt von einer Freundin zum Smetana-Festival eingeladen. Das war in einer tschechischen Stadt. Die Freundin ist Jüdin und sie hat einen Christen geheiratet. Er hat ein Kreuz über dem Bett und sie hat einen jüdischen Stern über ihrem Bett, damit symbolisieren sie, dass es keinen Unterschied zwischen den Menschen gibt.
Ich war jetzt mit meinem Enkel zusammen in Prag, er arbeitet in einer Bank, die dort eine Bank gekauft hat, und fährt beruflich hin. Wir sind durch Straßen gekommen und ich hab gesagt, schau, hier hat mein Onkel gewohnt, hier links, und da hat meine Großmutter in dem Haus gewohnt, und hier hat mein Mitschüler gewohnt Ich bin in unsere alte Wohnung, wo ich geboren wurde, gegangen. Dort haben natürlich schon andere Leute gewohnt. Ich hab geläutet und hab gesagt, ich hab hier in dieser Wohnung gelebt und wollte die nochmal anschauen. Die Leute waren sehr nett, haben Kaffee gekocht und wir haben uns unterhalten. Ich hab wieder angefangen, als Korrespondent bei meiner alten Zeitung zu arbeiten. 1989 wollten sie mich sogar zum Chefredakteur machen, weil sie den Chefredakteur, der ein Kollaborateur war, absetzen mußten, und sie wussten nicht, wen sie nehmen sollten. Ich hab das abgelehnt, weil ich gesagt hab, daß ich nicht zurück kann. "Komm immer Montag nach Prag, Freitag kannst du wieder nach Wien fahren" haben sie gesagt.- Sag ich: "Dazu bin ich schon zu alt, als dass ich ununterbrochen hin und her fahren kann." So bin ich wieder Korrespondent bei meiner Zeitung geworden. Die Zeitung ist dann eingegangen, die existiert heute nicht mehr, aber ich bin Korrespondent von anderen Prager Zeitungen. Tomi, unser jüngerer Sohn ist Leiter von einem Labor im St. Anna- Kinderspital. Er ist Genetiker und Onkologe und hat schon internationale Preise. Michael, der Ältere, hat ein Doktorat in Philologie und Psychologie. Er arbeitet in der Nationalbibliothek.
Ich bin in Wien nicht zu Hause. In einem Nazistaat leb´ ich nicht gern, aber was soll ich machen? Für mich ist diese lokale Politik hier nicht so interessant. Die österreichischen Juden sind unglücklich darüber. Einige denken schon daran, wieder wegzugehen. Ich weiß nicht, mich tangiert das überhaupt nicht. Ich fühle mich nicht als Österreicher.
Ich habe Bücher geschrieben, eines auch über die Wiener.
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