Irene Steiner

Irene Steiner

Irene Steiner
Sittendorf/NÖ
Österreich
Datum des Interviews: August 2002
Name des Interviewers: Tanja Eckstein


Irene Steiner ist ein große, schlanke Frau mit vollem grauem Haar, der man durch ihre jugendliche Figur ihr Alter nicht ansieht. Ihren Traum, Tänzerin zu werden, hat sie sich durch den Krieg nicht erfüllen können, aber sie wurde eine großartige Tanzlehrerin und hat sich sogar ihre eigene Tanzschule geschaffen. Ihre ältere Tochter hat ihren Traum verwirklicht und wurde Tänzerin. Irene Steiner hat ein Haus gebaut und besitzt ein Pferd, mit dem sie dreimal in der Woche ausreitet. Sie ist trotzdem keine glückliche Frau. Einmal heimatlos geworden, hat sie nie wieder so etwas wie ein ‚zu Hause’ gefunden. 


Mein Großvater väterlicherseits, Julius Georg Hänsel, wurde enterbt, weil er eine Jüdin geheiratet hatte, und zwar eine Schauspielerin namens Rosa Therese Link. Die jüdische Familie Link kam aus Ungarn, sie waren Schustermeister. Meine Großmutter hatte eine Schwester, Antonia Link, die am 5. Februar 1853 in Budapest geboren wurde, Soubrette war und am ‚Theater in der Josefstadt’ oder im ‚Theater an der Wien’ aktiv war. Über sie habe ich im Theatermuseum einiges gefunden. Sie ist am 31. Mai.1931 in Wien gestorben.

Die Ehe der Grosseltern war für die damalige Zeit eine Mesalliance. Die Großmutter war eine äußerst zugeknöpfte Dame. Ich meine das auch wörtlch. Es gibt Fotos von ihr, ganz in schwarz, geknöpfelt bis zum Kinn. Mein Vater, Julius Paul Hänsel, wurde am 10. August 1884 in Dresden geboren. Er hatte zwei Schwestern: Hilde von Stremieczny, geborene Hänsel und Gerda Wemmers, geborene Hänsel, und er hatte einen Bruder Ernst Hänsel, der sich als junger Mann das Leben genommen hatte. Hilde hatte einen Sohn Heinz und eine Tochter Gertraud.

Meine Urgroßeltern mütterlicherseits besaßen in Dresden irgendwo ein großes Wäschegeschäft.
Sie beschäftigten vor sehr langer Zeit einen jüdischen Lehrling aus einer holländischen Familie. Dieser Bursche hat die Tochter meiner Urgroßeltern geheiratet. Das waren dann die Polak-Daniels. Eine Tochter dieser Familie war meine Großmutter, Charlotte Sarah Klemperer, geborene Polak Daniels. Sie wurde am 3. September 1866 in Dresden geboren. Ihr Mann, mein Großvater, Leon Klemperer, wurde am 13. August 1855 in Prag geboren. Er gehörte zu der bekannten Familie Klemperer, die ursprünglich aus Prag kam.

Die Familie mütterlicherseits war eine sehr große Familie, unter denen es Wohlhabende und Ärmere gab. Meine Großmutter, die wir als Kinder ‚Modderle’ nannten, ich weiß nicht warum, Mutterle meinten wir wahrscheinlich, war eine sehr liebe und sehr gescheite Frau. Sie konnte viele Sprachen und ist im hohen Alter, also damals war ein hohes Alter zwischen 60 und 70 Jahren, dritter Klasse noch nach Italien gereist, einen Wunsch nachzuholen, den sie in ihrem Familienleben versäumt hatte. Eines ihrer sechs Kinder, die alle sehr gescheit waren, vier Knaben und zwei Mädchen, war meine Mutter. Alle haben sie in Dresden gewohnt. Meine Mutter war das drittälteste Kind. Meine Onkel waren lustige Leute. Bis zur Nazizeit hatten wir immer einen sehr engen Kontakt zu ihnen, sie lebten fast alle in Sachsen [Deutschland] - in Dresden, in Leipzig, in Chemnitz.

Wolfgang, der älteste der Geschwister, war ein mathematisches Genie. Er hat ganz spät noch, nach dem Krieg, das Ehrendoktorat der Universität Wien bekommen. Er hatte in Wien an der Technischen Universität studiert und eine entfernte Verwandte geheiratet, als er nach Europa auf Besuch kam.
Arthur war Bankangestellter und lebte mit seiner Familie in Prag. Er floh bei Hitlers Einmarsch nach Ecuador.
Josef war Psychiater, lebte in Chemnitz, floh nach Palästina und ging nach dem Krieg wieder nach Deutschland zurück.

Hellmuth war Rechtsanwalt, lebte in Chemnitz und floh über Spanien nach Ecuador.
Ruth ist als junges Mädchen an TBC gestorben.

Meine Mutter, Mathilde Klemperer, wurde am 9. September 1894 in Dresden geboren und von ihren Brüdern immer Gänsepapst genannt, weil sie die Horde angeführt hat. Meine Mutter lebte in Dresden. Einer der Klemperer war Gründer der ‚Dresdner Bank’ und dort Direktor.

Meine Großmutter war sehr fromm. Ich glaube, die Grosseltern haben koscher 1 gelebt. Mein Vater hat meine Mutter in Dresden am Tennisplatz kennen gelernt. Die Heirat war eine schwierige Angelegenheit, weil der Rabbiner es zuerst nicht erlaubte, die Hänsels waren ja Christen. Die Mutter meines Vaters war zwar Jüdin, der Vater war Christ und mein Vater war christlich erogen worden. Meine Mutter musste den Rabbiner um Erlaubnis bitten und ihm versprechen, ihre Kinder jüdisch zu erziehen.

Mein Vater war Chemiker, Doktor der Philosophie und Doktor der Freien Künste. Er war zehn Jahre älter als meine Mutter. Sein Vater, ursprünglich Kaufmann, hat in der damaligen Tschechoslowakei, damals Österreich-Ungarn, jetzt Tschechien, eine Zementfabrik mitbegründet. Das war eine Aktiengesellschaft, die später von der Königshofer Zementfabrik aufgekauft wurde. In dieser Fabrik war mein Vater Direktor, deshalb hatte er Chemie studieren müssen. Eigentlich wollte er Geschichtsprofessor sein. Ich habe noch Tagebücher von meinem Vater, nur so kleine Auszüge, schwer zu entziffern. Er schreibt, seine Mutter hätte ihm geraten, er solle eine tüchtige Frau heiraten, die gut kochen kann und Kinder bekommt. Er aber wollte eine Frau, die ihm geistig ebenbürtig ist. Seine Jugend war schwierig, er war ein komplizierter Mensch, aber er hat meine Mutter angebetet. Sie wiederum war recht spröde, was man von allen Klemperers sagen kann. Das liegt in der Familie.

Mein Vater ist also nach Tschischkowitz gezogen. Das ist ein Ort im heutigen Tschechien, der in der Nähe von Lobositz liegt. Die größere Stadt war Leitmeritz, ganz in der Nähe von Theresienstadt. Drei Jahre hat er auf dem Fabrikgelände mit der Mutter zusammen gewohnt, dort hat sie uns Kinder bekommen.

Meine Schwester Marietherese wurde am 11. Januar 1918 geboren. Sie ist sanft und blond gewesen, und ich war schwarz und schlimm. Ich wurde am 13. Februar 1921 in Tschischkowitz geboren. Mein Vater hat dann nach seinen Plänen ein Haus bauen lassen, wunderschön am Hang gelegen, mit einem riesigen Park. Wenn man heute mit der Bahn vorbeifährt, sieht man noch das Haus. Als die Fabrik von der Königshofer Zementfabrik aufgekauft wurde, musste mein Vater teilweise nach Prag übersiedeln und ist immer nur am Wochenende ins Haus gekommen.
Mutter hat sich um die Kinder und den Haushalt gekümmert, das Personal waren: eine Köchin, zwei Stubenmädchen, die Hausmeister-, und eine Gärtnerfamilie. Wir wohnten im ersten Stock dieses riesigen Hauses. Es hatte neun Zimmer und einen großen Gang mit Flügeltüren, mehrere Badezimmer, eine riesige Küche mit einer Vorküche, Vorräume und Garderoben. Im Parterre, teils Halbkeller, wohnten der Hausmeister und Gärtner mit ihren Familien. Dort waren auch die Waschküche und der Heizraum für die großen Zentralheizungsöfen, die mit Koks geheizt wurden. Über uns, im oberen Stockwerk, lebte meines Vaters Schwester mit ihrer Familie. Sie hieß Gerda, war mit einem Ex-Offizier verheiratet, den mein Vater in der Fabrik als Bürochef untergebracht hatte.

Meine Schwester und ich wurden die ganze Volksschulzeit lang privat unterrichtet. Die Lehrerin vom Bezirk kam einmal die Woche und erteilte uns Unterricht. Klavier spielen lernen war selbstverständlich und Französisch lernen war selbstverständlich. Kontakt zu anderen Kindern hatten wir überhaupt nicht. Der gesellschaftliche Kontakt meiner Eltern bewegte sich zwischen den Direktoren der Fabriken, die in weitem Umkreis des einmaligen Böhmens dort angesiedelt waren. Es gab viele Familien darunter aus der Prager jüdischen Gesellschaft. Ich bin immer sehr einsam gewesen als Kind. Mein Spielgefährte war der Sohn des Gärtners. Mit dem bin ich auf Bäume gekraxelt. Das deutsche Leitmeritzer Gymnasium zu besuchen, war für uns standesgemäß. Ich bin dort anderthalb Jahre hingegangen.

Wir lebten gut, wir hatten alles, was man sich wünschen kann! Obwohl mein Vater Direktor für Werbung war, haben wir nie irgendwas davon bemerkt, gehört oder gesehen - er hat sich eher mit anderen Dingen beschäftigt. Er hat zum Beispiel Bilder und Antiquitäten gesammelt. Viele Reisen haben meine Eltern gemacht in dieser Zeit, zum Beispiel nach Ägypten. In Dresden waren wir auch, aber nicht so oft. Die Familie aus Dresden ist eher zu uns gekommen. Wir waren mit unserer Mutter und dem Kinderfräulein dreimal in Österreich im Urlaub - zweimal in Velden, einmal in Strobl. Das war die typische Sommerfrische. Für uns war das wundervoll zu schwimmen im See. 

Doch dann kam der Börsenkrach, ich glaube es war im Jahr 1928, Vater verlor sein Geld.

Mein Vater hätte längst die tschechische Staatsbürgerschaft haben können, aber er wollte das nicht, er wollte Deutscher bleiben. Alles, was Deutsch war, war großartig. Er hat, trotz seines Humanismus, einen großen Fehler begangen: Er war total antitschechisch eingestellt. Die Tschechen waren für ihn dreckig und dumm. Dabei waren sie gar nicht dumm, im Gegenteil! Leitmeritz, Lobositz und Tschischkowitz, dieser Teil der Tschechoslowakei war Sudetendeutsch. Dort sprach man überall Deutsch, Tschechisch war nur obligat. Die einzige schlechte Note, die uns mein Vater gestattete, war in Tschechisch. Ich weiß nicht, wieso er trotz seiner humanitären Einstellung so antitschechisch war. Noch dazu war er Humanist und Paneuropäer und hat mit Coudenhove-Calerghi 2 zusammen die Paneuropa-Bewegung 3 ins Leben gerufen.

Als ich zwölf Jahre alt war, das war 1932/33, hat mein Vater seinen Kontrakt verloren. Sein Zehn-Jahresvertrag mit der Fabrik wurde nicht erneuert. Seine Tschechenfeindlichkeit hat sicher dazu beigetragen, dass er seinen Posten verloren hat. Der Vertrag war abgelaufen, der riesige Haushalt wurde aufgelöst, verkauft, die wertvollsten Gegenstände verpackt.

Mein Vater wollte nach Berlin, um Patentanwalt zu werden. Das war 1933, als Hitler Reichskanzler in Deutschland wurde. Damals hat man gesagt: Ach, das wird nicht so schlimm! Mutter hat sich schnell noch taufen lassen, als wir vom Ariertum erfahren haben. Wir sind nach Berlin gezogen, in die Hundekehlestraße in Dahlem [Stadtteil in Berlin]. Meine Eltern haben ein Stockwerk in einer kleinen Villa gemietet. Unser ganzes Zeug passte nicht hinein, unsere Möbel waren ja viel zu groß. Meine Mutter ist dann mit uns von Schule zu Schule gegangen, denn keiner hat uns genommen, weil sie schon den Ariernachweis verlangt haben. Auf einmal waren wir dreiviertel Juden.

Unsere jüdischen Onkel aus Dresden sind in die Tschechoslowakei geflohen. Onkel Arthur ist nach Prag und später über Barcelona [Spanien] nach Ecuador ausgewandert, Onkel Josef flüchtete aus Chemnitz nach Palästina. Er war lange Zeit Schiffsarzt, und Onkel Hellmuth flüchtete auch aus Chemnitz nach Ecuador. Der Wolfgang Klemperer war bereits in Amerika. Das hätte eine Warnung für uns sein können. Trotzdem sind wir nach Berlin übersiedelt. Mutter hat sich meinem Vater untergeordnet. Zum Glück waren wir Auslandsdeutsche. In Berlin wollte mein Vater Assistent bei einem Patentanwalt werden, das hat aber nicht funktioniert. Und wir sind weiter von Schule zu Schule gewandert und haben gebettelt, dass man uns aufnimmt. Die ‚Nürnberger Gesetze’ 4 waren bereits in Vorbereitung. Zum Schluss wurden wir in eine jüdische Privatschule gesteckt. Die Kinder dort waren undiszipliniert und vorlaut, für uns war das völlig fremd. Dann hat man uns doch, Dank des fortschrittlichen Direktors, ins Lycee aufgenommen.

Nach drei Monaten wird man ansässig in einem Land, also hätten wir uns polizeilich anmelden müssen. Die Eltern haben immer sehr nette Reisebekanntschaften gemacht, eine davon war ein Schweizer Ehepaar. Sie haben mit meinen Eltern telefoniert und gesagt, dass wir sofort aus Deutschland heraus sollen und sie uns helfen werden. So haben wir alles stehen und liegen lassen und sind in die Schweiz gefahren. Wir hatten kein Geld mehr. Mein Vater hat sich noch den ‚Stürmer’ 5 gekauft, nur um durch die Grenze zu kommen. Das ging aber noch ganz anstandslos, weil wir ja Auslandsdeutsche waren. Dann haben wir in der Schweiz, in Basel, dahin vegetiert.

Es gab kein zu Hause mehr. Meine Schwester und ich wurden in einer Pension für alte Leute untergebracht. Für uns halbe Kinder war das Leben zwischen meist debilen Menschen schwer. Wir hockten in der Pension. Zusammen haben wir ein Spottlied gedichtet auf diese alten Frauen, so wie wir das früher mit unserem Onkel getan hatten oder über alle möglichen Leute. Die Stubenmädchen haben es gefunden und sich darüber amüsiert, aber die Oberin war wütend. Das war ein Krach, schrecklich! Man hat uns fast hinausgeschmissen. Die Möbel aus unserer Wohnung in Berlin sind sukzessive in die Schweiz auf ein Lager nachgekommen. Wir waren ja in Berlin noch nicht einmal eingerichtet, vieles war noch in Kisten.

Vater war gewohnt in großem Stil zu leben, er tobte bei geringstem Anlass, wusste sich und uns nicht zu helfen. Die Mutter war unser ein und alles, der Vater nur gefürchtet. Er ist aus der Schweiz dann noch zu Thomas Mann 6 an die Cote d'Azur gefahren, um sich Rat zu holen. Meine Mutter hatte seinerzeit in einer Lungenheilanstalt Katja Manns Bekanntschaft gemacht. Mein Vater, literarisch sehr gebildet, unsere Wände bedeckende Bibliothek befand sich irgendwo in Kisten, hat selber geschrieben und sich auch im Prager Literaturkreis betätigt. Er hatte auch vor, eine Weltgeschichte zu schreiben, hat es aber nicht geschafft, denn er ist sehr früh gestorben. Dann wurde unser Vater krank und musste mit einer Venenentzündung ins Spital. Man hat ihm Blutegel angesetzt im Spital. Noch heute sind sie mir in schwarzem Ekel in Erinnerung. Meine Mutter war beschäftigt mit dem Vater und seiner Krankheit und sonst mit gar nichts.

Die Töchterschule in Basel begann mit ihrem Schuljahr im Herbst, in Deutschland hatte der Unterricht im Frühjahr begonnen. Wir bekamen ständig Nachhilfestunden. Ich habe das gehasst: Latein, Mathematik, ein halbes Jahr zu früh, ein halbes Jahr zu wenig. Am verworrensten war Französisch, das wir von unserer Französischmademoiselle gelernt haben - für Berlin war es brillant, für die Schweiz war es eine Katastrophe.

Ich bin sehr gerne Schi gefahren und konnte mit der Schule einen Schiausflug machen, das war ein neues Erlebnis. Auch im Rhein sind wir im Sommer über die Strudel geschwommen - das war auch gut. In der Schule, es war gegen Weihnachten, hatten wir einen Musiklehrer. Das ‚Männlein’ wurde er genannt. Er war klein, ich glaube, er hatte einen Schnauzbart, und er war ein Nazi. Er hat uns über Weihnachten aufgegeben einen Choral auswendig zu lernen, den wir im Notenheft aufgeschrieben hatten. Ich habe das brav und artig gemacht. Ich liebe Musik, bin auch musikalisch, und ich konnte das nachsingen. Wir hatten in der Pension sogar ein Klavier, aber ich konnte den Choral nach den Noten singen - es hat mir großen Spaß gemacht. Nach den Weihnachtsferien kamen wir zurück in die Schule, wir waren drei Emigrantenkinder in dieser Klasse. Da holte sich der Professor die Emigrantenkinder, sie waren leider stock-unmusikalisch! Die Erste stand auf und brachte nur falsche Töne heraus. Die Zweite versuchte es gar nicht erst, und dann zeigte er auf mich. Ich bin aufgestanden und hab das vorgesungen - ganz langsam, Note für Note. Alles war richtig! Ich hatte ihn sozusagen besiegt. Das war ein Triumph gegen diesen Kerl, der uns blamieren wollte. Die Klasse hat den Atem angehalten, was da jetzt passieren wird, aber er hat sich nur abgewendet.

Im August 1933 waren wir in die Schweiz gekommen, im Februar 1934 gingen wir nach England. Mein Vater hatte immer solche ‚guten’ Berater, die ihm gesagt haben, komm dahin, komm dorthin. Er hat das alles gemacht. Wir konnten kein Englisch. Wir hatten geschwind noch ein paar Nachhilfestunden in der Schweiz: the grass is green und how do you do? Die Eltern haben in London ein kleines Haus gemietet, und meine Schwester und ich wurden in eine englische Schule gesteckt. Es war Frühjahr, und da wir die Sprache nicht beherrschten, wurden wir ein Jahr zurückgestuft. Es war eine kleine Privatschule ‚The Gables’. Wir trugen Schuluniformen mit Krawatte und Hut. Die Schulfarben waren ‚kackerlbraun’, das mich an die Hitlerhosen erinnert hat. Die ersten 14 Tage waren wir im Internat. Ich war todunglücklich. Wir waren geheizte Räume gewöhnt, es hat geregnet und war kalt und feucht. Ich hatte Frostblasen an den Händen. Die Betten waren Hängematten - wie früher einmal im Spital - schmal und durchhängend. Gewöhnlich haben meine Schwester und ich uns nicht vertragen, aber in dem gemeinsamen Leid haben wir zusammen gesessen und haben geheult.

Das ist aber auch vorüber gegangen. Die Eltern haben die Sachen aus der Schweiz kommen lassen. Dann sind die Möbel gekommen, aber in das kleine Haus hat nicht viel hereingepasst. Leider war vieles zu groß, aber alles war heilig für die Eltern. Die ganzen schönen Möbel, Intarsien usw., ein schreckliches Unglück, wenn man ein Wasserglas verschüttet hat. Aber es war halt eine Art Zuhause und hatte einen hübschen Garten mit einem Gärtner.

In der Schule haben wir Englisch gelernt. Bei Kindern geht das ja sehr schnell, wir haben bald besser gesprochen als die Eltern. Zu uns sind dann die Nachbarn zu Besuch gekommen, in England ist das so Brauch. Es klopft, und als neue Nachbarn wurden wir zum Tee gebeten. Die Mutter war wieder Mitglied im Tennisklub, doch es war alles nur Schein. Wir Kinder haben alles mitgemacht, was unsere Eltern wollten. Für die normalen Extras war kein Geld da, und wir konnten uns extra Fächer wie Klavier spielen, rhythmisches Tanzen nicht mehr leisten. Das war für uns unbezahlbar. Meine Eltern taten aber so, als hätten wir Geld. Vor allem mein Vater hat versucht, den gewohnten Standart zu halten. Für mich wirkte das als eine Art Angeberei.

Mein Vater hatte eine Firma mit einem englischen Partner gegründet. Er erfand einen Kübel, in dem man den Mopp ausquetschen kann. Das gibt es jetzt in allen Supermärkten. Das hat er damals vor 50 Jahren in England versucht zu vertreiben, aber er war kein Geschäftsmann. Der Eimer war aus Blech, Plastik gab es damals noch nicht und viel zu schwer. Er fand keinen Absatz. Immer, wenn ich heute diese Kübel sehe, denk ich mir: armer Vater. Dann hatten wir kein Geld mehr, den Haushalt weiterzuführen. Meine Schwester und ich wurden nach St. Paul‘s, einer großen öffentlichen Schule in London, geschickt.

Mein Vater wurde wieder krank. Er hatte eine Herzklappenentzündung, was aber damals niemand erkannt hat. Er ist als Auslandsdeutscher halb legal wieder nach Deutschland gefahren und von einem Spital zum anderen gewandert. Meine Mutter ist mit ihm gefahren, das Haus in London wurde aufgelöst. Ich wurde bei einer Reisebekanntschaft der Eltern, einem kinderlosen Ehepaar, untergebracht. Ich sollte noch in England einen Schulabschluss erreichen.

Ich hatte in der kleinen Privatschule ‚The Gables’eine Freundin, sie hieß Eleanor. Die Familie kam aus Dänemark. Sie hatten sich ein riesiges Haus gebaut, das hat mich sehr an Tschischkowitz erinnerte. Eleanor und ich wollten zusammen ins Internat. Die Lynns waren eine sehr nette große Familie, die fünf Kinder hatten. Sie haben mich auf Wunsch meiner Eltern ins Lyzeum nach Malvern [Stadt in England] mitgeschickt. Malvern war eine ganz typisch englische Lehranstalt, eine Schulstadt. Aber ich war in der Familie immer das fünfte Rad am Wagen, weil sie mit ihren eigenen Sachen genug zu schaffen hatten. Es waren eineinhalb Jahre im Internat bis zum School Certificate. Meine Bildung war nicht großartig, aber ich bin eigentlich ganz gerne das letzte Jahr in die Schule gegangen, da hatte ich endlich Ruh.

Meine Schwester hatte in St. Paul‘s maturiert und war auf Maturareise zu unserem Onkel nach Amerika gefahren. Danach war sie in Leipzig in einer Sekretärinnenschule, dann ging sie nach London.

Da meine Eltern wieder in Deutschland waren, konnten sie das Geld, das auf einem Sperrkonto gelegen ist, verbrauchen. Zu dieser Zeit war das Leben in Deutschland noch nicht so schlimm für die Juden. Wir waren ja auch immer noch Auslandsdeutsche. Es war das Jahr 1936. Wir hatten, um uns zu revanchieren, Eleanor in den Schulferien in den Schwarzwald eingeladen. Meine Eltern hatten dort ein kleines wunderschönes Urlaubshäuschen gemietet, ganz oben am Berg, und meine Mutter lebte dort. Wir sind in den Weihnachtsferien mit Schiausrüstung hingefahren, aber dann war kein Schnee. Und seither war Eleanor bös auf mich, ich habe niemals herausgefunden, warum.

Mein Vater war im Spital, und ist er am 23. Mai 1937 in Frankfurt gestorben. Meine Mutter ist nach seinem Tod nach Prag gegangen, dort lebte noch einer ihrer Brüder. Er hat ihr eine kleine Rente verschafft von der Königshofer Zementfabrik. Sie war minimal, und Mutter war gar nicht dazu berechtigt, aber es war eine winzige Existenz. Ich bin von England 1937, nach meiner Matura, zu meiner Mutter nach Prag gefahren. Wir sind bei einer Witwe, mit deren Familie wir von früher her eng befreundet waren, untergekrochen.

Meine Tante Grete hatte drei Töchter, die jüngste ging in eine Musikschule in Hellerau - Laxenburg bei Wien. Das war eine Schule, die sich aus der Dalcroze Methode 7 entwickelt hat und von einer bekannten Kunstschule der Tänzerin Valerie Kratina 8 in Laxenburg bei Wien gelehrt wurde. Das war eine Schule für Gymnastik, Musik und Tanz, die man mit einem Diplom als Lehrer, Tänzer oder Musiker abgeschlossen hat. In diese Schule wollte auch ich. In Tschischkoviz hatten meine Schwester und ich ein Kinderfräulein, das eine dieser modernen Körperbildungsmethoden beherrschte, und die uns die Methode beigebracht hatte. So waren wir eigentlich sportlich gut trainiert. Das ist dann auch mein Beruf geworden - viel zu spät natürlich.
Eine Schülerin der Schule in Hellerau-Laxenburg bei Wien hatte sich in Prag ein eigenes Institut aufgebaut. Dahin bin ich gegangen und habe Bewegungslehre und Musik studiert. Das war eine Kombination aus Gymnastik und Tanz. Die junge Frau, die die Gymnastikschule leitete, hat uns Schülerinnen wie ihre Kinder betreut, es waren ja auch lauter junge Mädchen. Sie war Jüdin und ist später nach Amerika ausgewandert.

Meine Schwester lebte in England und ist von einer englischen Familie adoptiert worden. Dadurch bekam sie Arbeitserlaubnis. 1938 marschierte Hitler ins Sudetenland [heute Tschechien] ein. Da hieß es für uns zusammenpacken und schnell weg. Ich kann mich noch erinnern, wie die Deutschen in die Tschechoslowakei einmarschiert sind. Die Tschechen wollten sich wehren. Um fünf Uhr in der Früh hingen Massen von Menschen in Trauben an den Straßenbahnen. Sie wollten zum Militär, um gegen Hitler zu kämpfen und das Land verteidigen. Doch plötzlich wurde alles abgeblasen. München 9, das war schrecklich! Nun hat es geheißen: Nichts wie raus! Wir hatten noch englische Permits 10, meine Schwester hat uns geholfen zurück nach England zu flüchten. Das war im Dezember 1938. Diese anderthalb Jahre in Prag waren die schönste Zeit meines Lebens.

Wir sind nach London gegangen. Die Frau der Familie, die meine Schwester adoptiert hatte, führte eine Pension, in der wir ein Zimmer mieten konnten. Wir hatten ein wenig Geld vom Verkauf unserer Sachen. Die Bücher, die Restmöbel, die noch in England geblieben waren, hatten wir bei Familien untergestellt. Einen ganz kleinen Teil hat meine Mutter später nach Amerika retten können.

Jetzt waren wir richtige Emigranten, Flüchtlinge! Nach London kamen viele verschiedene Emigranten. Auch eine Schwester der Prager Gymnastiklehrerin war dabei. Sie war verheiratet mit einem hohen kommunistischen Funktionär. Sie haben uns beraten bezüglich diverser Flüchtlingshilfen. Wir sind dann als Krankenschwestern in ein orthopädisches Spital eingetreten, einer der wenigen Berufe für Ausländer, die erlaubt waren. Wir dachten, das wäre wenigstens ein Beruf, der der Körperbildung nahe steht. Ich wäre so gern nach Hellerau gegangen, hätte dort Tanz erlebt. Aber das war ja ausradiert aus meinem Leben.

Für Kranke pflegen bin ich nicht besonders geeignet. Außerdem herrschte in diesem Spital eine ausgeprägte Hackordnung. Es waren viele Kinder mit Knochentuberkulose und anderen zusätzlichen Gebrechen im Spital. Bei einem Kind steckte ich mich mit Scharlach an und wurde in ein Infektionsspital überstellt. Als mich der Krankenwagen vom Infektionsspital gesund zurück brachte, wurde mir gesagt, ich muss sofort meinen Urlaub antreten. Ich darf jetzt nicht ins Zimmer zurück. Ich hatte aber nichts anderes. Ich hatte einen großen Koffer, der war in dem Schwesternzimmer. Und da hab ich so eine Wut bekommen - ich hatte kein Geld, ich hatte keine Bleibe, ich hatte gar nichts. Das war der Oberschwester aber total egal. Die Oberschwester hat mich einfach auf die Straße gesetzt. Ich wusste nicht, wohin. Ich hab den Koffer geschnappt und bin zurück in die Pension nach London gefahren, wo meine Mutter noch wohnte.

Meine Schwester, bereits englische Staatsbürgerin und als Fremdsprachensekretärin angestellt, hat mir einen Posten bei einem jüdischen Arzt als Assistentin verschafft. Nun bin ich ganz hoffnungslos schlecht, was Büroarbeit anbelangt. Der Arzt hatte sehr viel Geduld mit mir, obwohl die Briefe, die er mir diktierte, voller Rechtschreibfehler waren. Ich bin dann mit meiner Freundin zusammengezogen. Sie war auch aus dem Spital hinausgeflogen, weil nach Kriegsbeginn im September 1939, ausländische Schwestern als feindliche Ausländer nicht mehr arbeiten durften. Das Spital wurde zum Heeresspital umfunktioniert, wir waren spionageverdächtig.

In London gab es sehr viele Emigranten aus der Kommunistischen Partei Österreichs und viele Juden. Sie haben dort eine sehr starke Bewegung aufgebaut, das ‚Free Austrian Movement’ 11, mit einer gut organisierten Jugendbewegung. Diese Organisation hat uns praktisch das Zuhause ersetzt. ‚Young Austria’ 13, so hieß die Jugendorganisation, war im Grunde genommen ein äußerst streng organisierter illegaler kommunistischer Jugendverband - von der Symphatisantengruppe bis zum Zentralkomitee. Es wurde meiner Meinung nach ein riesiger Fehler gemacht - und zwar bewusst - weil nach dem Krieg der Kommunismus in Österreich aufbaut werden sollte. Man hat nämlich die jungen Leute davon abgehalten, ordentliche Berufe zu erlernen, weil das Studium in den Augen der Funktionäre Zeitvergeudung war. Es hat uns nach dem Krieg jegliche Qualifikation, jede Berufsausbildung gefehlt. Wir waren nichts und hatten nichts. Und wenn wir alle ordentliche Berufe gehabt hätten, so wäre die Rückkehr nach dem Krieg in das zerstörte Europa sicher leichter gewesen.

Noch am Anfang des Krieges haben die Engländer Government Trainings Centers eröffnet, als Einschulung für den War Effort [Überraschungsangriff]. Ich habe dort Feinmechanik gelernt, ich habe immer gern gebastelt. Nach der Schulung kam ich in eine Fabrik und wurde sofort Shop Steward, als Kommunist musste man aktiv sein. Ich habe mich dort organisiert. Ich war auch im ‚Young Austria’ sehr aktiv, kam in eine ‚Sympathisantenzelle’, und danach bin ich in die KPÖ [Kommunistische Partei Österreichs] aufgenommen worden.

Eigentlich ging es mir gut trotz Krieg und Bomben. Erstens war ich beschäftigt, zweitens habe ich dort Plakate gemalt, im Chor gesungen und englische Vorträge gehalten über Österreich, obwohl ich überhaupt nie dort gewesen war. Aber es gab Material, das ich studiert habe. Jeden Abend waren Sitzungen, Versammlungen oder Proben. Jeder hat gelernt, mit Menschen umzugehen.

Die Gymnastiklehrerin aus Prag hatte ihren Neffen Georg in Wien. Georg war aus Wien nach London geflüchtet, lernte meine Schwester dort kennen, ist aber dann weiter nach Amerika emigriert. Er kam mit der US Armee zurück und hat meine Schwester geheiratet. Sie wurden mit der amerikanischen Besatzungsmacht in Deutschland stationiert. Das war bereits gegen Ende des Krieges. Meine Schwester ist mit ihrem Mann nach Amerika gezogen, und sie haben auch unsere Mutter mitgenommen und ihr eine Gouvernantenstelle bei einer Familie verschafft. Sie hat den Kindern sämtliche Opern erzählt, die sie kannte, je gruseliger desto besser. Diese Familie war rührend nett, und die Kinder haben sie sehr lieb gehabt. Meine Mutter war ja ursprünglich Kindergärtnerin. Diese Familie hat ihr dann einen Kindergarten eingerichtet. Und sie hat mit 60 Jahren begonnen, diesen zu führen. Mutter war dort sehr beliebt zwecks ihrer ‚teutschen’ Disziplin [Schuhe wechseln] zur Zeit der antiautoritären Phase. Die Leute haben die Kinder gern zu ihr geschickt. Meine Mutter starb 1986 in Amerika. Meine Schwester besuche ich regelmäßig in Amerika.

Nach Ende des Krieges konnte ich als Hilfs-Gymnastiklehrerin und Hilfs-Turnlehrerin in öffentlichen englischen Schulen arbeiten, Aber das Wichtigste war für mich, nach Österreich zu kommen. Ich wollte ja den Kommunismus aufbauen, und ich hatte viele Österreicher kennen gelernt. Also bin ich nach Wien gereist. Damit ich Österreicherin werde, habe ich meinen Freund geheiratet. Ich war keine ausgebildete Lehrerin, aber Lehrerinnen wurde die Einreise nach Europa, als gesuchter Beruf, erlaubt. Nicht jeder hat gleich die Einreisebewilligung bekommen.

Wien wirkte wie eine kalte Dusche, weil die ins Ausland geflüchteten Kommunisten absolut nicht beliebt waren. Wir wurden hier nicht sehr freudig empfangen. Mein Mann und ich sind bei einem Onkel und einer Tante meines Mannes untergekommen. Es war Nachkriegszeit, vieles war zerbombt, und es gab sehr viele Wanzen. Die muss man einmal in seinem Leben erlebt haben.

Unser erster Weg war zur Zentrale der kommunistischen Jugendbewegung. Dort hat man uns schief angeschaut, weil wir diejenigen waren, die angeblich zuwenig gelitten hatten. Wir hatten den Krieg von der anderen Seite miterlebt. Es gab wenig zu essen, und sie fühlten sich als Opfer. Keiner wollte ein Nazi gewesen sein. Und das ist so geblieben - die ganze Zeit - so lange wir hier jetzt leben.

Ich hatte einen Hintergedanken bei dem ‚nach Österreich kommen’, und das war Hellerau-Laxenburg. Wie ich da so auf der Straße gegangen bin, hab ich an einer Litfasssäule ein Plakat gesehen über Rosalia Kladek, der Leiterin der Tanzabteilung im Konservatorium. Es war eine Werbung für das Studium, das ich in Prag begonnen hatte. Das war mein Traum, das habe ich immer machen wollen. Ich bin ins Konservatorium gegangen und habe Tanz studiert. Natürlich war ich schon viel zu alt dafür. Doch das Lehrdiplom war ein Ausweg. Wir waren alle zu alt und hatten unsere Hoffnungen im Krieg begraben. Aber ich konnte unterrichten! Ich war eine gute Lehrerin und hab mir meine eigene Privatschule aufgebaut. Da war natürlich viel dazwischen, auch die ganze kommunistische Arbeit, die ich noch immer gemacht habe.

Ich ließ mich von meinem Mann scheiden, weil er irgendwelche Betrügereien begangen hatte, aber man hat mich aus der Partei ausgeschlossen. Das war für mich entsetzlich! Ich war ganz verloren, man verlor quasi seine Familie. Alle die Leute, die einen dann meiden, weil man ein Klassenfeind geworden ist. Ich hab Freunde aus England damals aufgesucht. Nachher hat man mich doch wieder aufgenommen - 1952 wurde ich ausgeschlossen, 1953 wurde der Ausschluss wieder rückgängig gemacht.

Während meines Studiums am Wiener Konservatorium zur Tanzpädagogin, habe ich mich im Verband der Volkskunstgruppen mit einer von der KPÖ ins Leben gerufenen Sammelgruppe künstlerisch betätigen können. Wir hatten damals die russischen Ensembles vor Augen, die wirklich Großartiges leisteten. Ich hab nicht gleich das Studium beendet am Konservatorium. Ich habe noch lange Zeit im Verband der Volksgruppen Kunstgruppen geleitet. Das war eine sehr interessante Arbeit, vor allen Dingen mit der Kremser Gruppe. Ihre Rundtänze waren bühnenreif -   ohne Kitsch auf die Bühne zu bringen. Es war ein guter Erfolg, und es waren schöne Arbeiten.

Meinen jetzigen Mann habe ich in der Partei kennen gelernt. Er ist aus Santo Domingo [Dominikanische Republik] ein Jahr nach mir nach Wien zurückgekommen. Als es mit meinem ersten Mann schief ging, da ist er da gewesen.

Ich habe meine Privatschule begonnen und ausgebaut, hab meine zwei Töchter geboren und bin nur mehr im Privatleben tätig geblieben. Und dann ist der Umsturz 12 gekommen, zu erst Tito 13, dann Stalin 14, wir haben uns von der Kommunistischen Partei distanziert. Tito war der Anfang, da haben wir gezweifelt und uns gefragt, wieso, warum, weshalb?

Meine Mutter und meine Schwester lebten in Amerika und ich wollte sie wieder sehen, aber ich durfte nicht. Damals hat man noch ansuchen müssen um ein Einreisevisum. Es wurde abgelehnt, weil ich Mitglied einer kommunistischen Partei war. Ich habe den Fragebogen in der Botschaft der USA ehrlich ausgefüllt, denn ich hab mich nicht getraut zu lügen. Ich habe mich dann für meine Mutter entschieden und bin offiziell aus der KPÖ ausgetreten.

Die Arbeit mit meinen Schulen war eigentlich sehr fruchtbar. Ich habe sehr schöne Choreografien gemacht, und es war künstlerisch für mich erfolgreich.

Das Leben in Österreich ist noch immer kein Zuhause. Ich hab kein Zuhause. Ich weiß gar nicht, wie das ist, ein Zuhause. Ich hab meine Leute in London, in Amerika, überall. Ich bin zu meiner Mutter oder zu meiner Schwester nach Amerika gefahren, zu meiner Tochter nach London oder Israel. Ich hab mich sofort reingefunden, ich weiß, wie eine Küche ausschaut, ich weiß, wie man einkaufen geht. Ich kann mich überall dreinfinden.

Wehmut gibt es, Heimat gibt es nicht für mich, obwohl ich mir ein Haus selber gebaut habe. Ich bin kein Stadtmensch, ich hab’s gerne in der Natur draußen. Eine Zeit lang, wie die Kinder noch da waren und ich alles aufgebaut habe, fühlte ich mich mehr zu Hause. Aber ich bin drauf gekommen, bei mir ist es irgendwie so, man schafft etwas, man macht etwas fertig, man hat das Bedürfnis, das zu tun. Aber irgendwie geht’s mir auch schon auf die Nerven.

Waldheim war natürlich eine ziemlich schlimme Zeit, weil der Antisemitismus so offen wurde.
Meine Töchter interessieren sich für das Judentum. Die Monika lebt mit ihren Kindern traditionell jüdisch in England, auch Anneliese ist eine bewusste Jüdin, und ich wundere mich darüber.


Glossar


1 Koscher [hebr.: rein, tauglich]: den jüdischen Speisegesetzen entsprechend.


2 Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus [1894 - 1972] gründete 1923 in Wien die Paneuropa-Bewegung und gab ab 1924 eine gleichnamige Zeitschrift heraus. Coudenhove-Kalergi emigrierte 1938 in die Schweiz, dann in die USA. 1940 Professor in New York; 1923-72 Präsident der Paneuropa-Union, ab 1947 Generalsekretär der Europäischen Parlamentarier-Union.


3 Paneuropabewegung: 1923 gründete R. N. Coudenhove-Kalergi in Wien die Paneuropabewegung mit dem Ziel der Vereinigung der Staaten Europas.


4 Nürnberger Gesetze: am 15. September 1935 vom Reichstag auf dem 7. Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg einstimmig beschlossene Gesetze, mit denen die Nationalsozialisten eine juristische Grundlage für ihre antisemitische Ideologie schufen. Mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich traten sie auch dort in Kraft.


5 Stürmer: 1923 gegründete antisemitische Wochenzeitung


6 Mann, Thomas [1875-1955], deutscher Schriftsteller, erhielt 1929 den Nobelpreis für Literatur. Als politischer Essayist repräsentierte er die Hinwendung des Wilhelminischen Bürgertums zur Weimarer Republik und wurde, insbesondere in seinen Radioansprachen Deutsche Hörer! die er aus dem amerikanischen Exil senden ließ, zu einem wortmächtigen Gegner des Nationalsozialismus.


7 Jaques-Dalcroze, Emile [1865 -1950] Komponist, Musikpädagoge. Schöpfer der rhythmisch-musikalischen Erziehung; Schüler von A. Bruckner in Wien. Gründete 1911 in Hellerau bei Dresden die "Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus" [1925 nach Laxenburg verlegt], 1914 ein Institut in Genf [weitere Jaques-Dalcroze-Institute in Berlin, Stockholm, Barcelona, London und Paris]; 1926 wurde die internationale Vereinigung der Professoren der Jaques-Dalcroze-Methode gegründet.


8 Kratina, Valerie[1892-1983] Tänzerin, Choreographin, Tanzpädagogin, Ballettmeisterin


9 Münchener Abkommen: wurde am 29. September von den Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschlands unterzeichnet und sollte die ‚Sudetenkrise‘ lösen. Unter Vermittlung Mussolinis – und in Abwesenheit eines Vertreters der Tschechoslowakei – gaben London und Paris ihre Zustimmung zum Anschluß des Sudetenlandes an das Deutsche Reich.


10 Permit [engl.: Erlaubnis]: Visum, Einreisegenehmigung


11 Free Austrian Movement [Freie Österreichische Bewegung]: Erste repräsentative
politische Vertretung der Exil-Österreicher in Großbritannien; im November 1941 gegründet. Als Dachorganisation von 37 Vereinigungen wirkte das von Kommunisten dominierte Movement bis Kriegsende als politische Gesamtvertretung. Wichtigste Aufgabe war die Organisierung des militärischen und zivilen Einsatzes der österreichischen Flüchtlinge gegen
Nazi-Deutschland.


12 Umsturz: Jugoslawien ging nach dem Zweiten Weltkrieg einen eigenen Weg zum Sozialismus. Dieser so genannte Titoismus brachte das Land in Gegensatz zu den sowjetischen Hegemoniebestrebungen und führte 1948 zum Bruch zwischen Tito und Stalin. Die Auseinandersetzung wurde mit erbitterter Härte geführt. Stalin versuchte vergeblich, die jugoslawische Partei gegen Tito aufzuhetzen und drohte ihm mit Mord. Die Einladung Stalins, in Moskau die Differenzen „freundschaftlich“ zu besprechen, lehnte Tito folglich ab. Am 29. November 1949 riefen die Kominform-Mitglieder offen zum Sturz von Tito auf.


13 Tito [Josip Broz, 1892 – 1980] Jugoslawischer Politiker. Als Broz 1934 Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Jugoslawiens wurde und in den politischen Untergrund ging, nahm er das Pseudonym Tito an. Tito führte im 2. Weltkrieg die kommunistischen Partisanen im Kampf gegen die deutschen Besatzer. Nach dem Krieg wurde er zunächst Ministerpräsident und schließlich Staatspräsident, ein Amt, das er bis zu seinem Tod bekleidete.


14 Stalin, Josef geb. als Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili [1879-1953], sowjetischer Politiker. Seit 1922 war er Generalsekretär des Zentralkomites der Kommunistischen Partei der Sowjetunion [KPdSU], seit 1941 Vorsitzender des Rates der Volkskomissare, seit 1946 Vorsitzender des Ministerrats und in den Jahren 1941 bis 1945 Oberster Befehlshaber der Roten Armee. Nachdem er sich im Machtkampf innerhalb der KPdSU durchgesetzt hatte, behielt er diese Ämter bis zum Tod 1953, Mit der beginnenden ‚Entstalinisierung’ wird das Prinzip der Alleinherrschaft zugunsten einer Kollektivführung der Partei eingeschränkt. Außerdem werden Verbrechen aus der Stalin-Zeit veröffentlicht und verurteilt.