Gerda Feldsberg

Gerda Feldsberg
Wien
Österreich
Interviewer: Tanja Eckstein
Datum des Interviews: Mai 2003

Gerda Feldsberg empfängt mich in ihrer modern eingerichteten und gemütlichen Wohnung im 2. Wiener Gemeindebezirk. Seit ungefähr einem Jahr hat sie ein großes Problem: sie muss oft nach den einfachsten Wörtern suchen.

Sie hat sich deswegen genau untersuchen lassen und es besteht der Verdacht, dass diese, für sie sehr unangenehme Erscheinung, eine Spätfolge ihrer Emigration ist.

Sie bereitet sofort einen guten englischen Tee und erzählt mir ihre Geschichte, die Geschichte von dem wohlbehüteten kleinen Mädchen, das sie einmal war, bis zu den Folgen des Holocaust, die jetzt massiv in Erscheinung treten und sie vielleicht bald verstummen lassen werden.

Gerda Feldsberg stirbt im Jahre 2008.

Meine Familiengeschichte

Mein Name ist Gerda Susanne Feldsberg. Ich wurde am 29. Juni 1930 in Wien geboren.

Mein Großvater väterlicherseits hieß Leopold Feldsberg und war Gemeindesekretär der Jüdischen Gemeinde in Nikolsburg [heute Mikulov, Tschechische Republik]. Er starb noch vor meiner Geburt.

Die Großmutter hieß Regine Feldsberg, war eine geborene Fuchs und hatte eine Schwester, die Lotti Fuchs hieß. Das weiß ich aus der Geburtsurkunde meines Vaters, weil diese Schwester der Großmutter Zeugin bei der Geburt meines Vaters gewesen ist.

Die Großeltern hatten fünf Kinder, drei Söhne - Emil, Max, Ernst - und zwei Töchter - Hansi und Erna.

Onkel Emil hat eine Ungarin geheiratet, die eine sehr schöne Frau war. Ich glaube, er hat mit ihr in Ungarn gelebt. Sie hatten eine Tochter, die hieß Szuszi. Onkel Emil starb im Ghetto in Budapest. Seine Frau und Szuszi überlebten den Holocaust.

Onkel Max lebte in Wien, und arbeitete in der Textilbranche. Er war mit Tante Mella verheiratet. Sie hatten eine Tochter, die hieß Ilse. Ilse war ungefähr fünf Jahre älter als ich. Wir waren oft mit ihnen zusammen, sie besuchten uns und wir besuchten sie. Onkel Max wurde ins KZ Auschwitz deportiert, kam dann in das KZ Bergen-Belsen [Deutschland] und wurde dort ermordet.

Tante Mella überlebte die KZ Auschwitz, Bergen-Belsen und Mauthausen [Österreich]. Ilse wurde mit einem Kindertransport nach Paris geschickt. Als die Deutschen nach Paris kamen, wurde sie weiter nach Amerika geschickt. Tante Mella hat Ilse sofort nach dem Krieg gesucht. Sie hat viele Briefe nach Amerika geschrieben, als sie sie endlich gefunden hatte, aber die Briefe kamen zurück.

Ilse lehnte den Kontakt zu ihrer Mutter ab. Sie hat die Trennung von ihren Eltern nie verwunden, und in Amerika nie Fuß gefasst. Sie hat einen Mann geheiratet, den sie nicht geliebt hat, hat Kinder bekommen und sehr wenig Geld verdient. Eines Tages ist sie während der Arbeit, sie hatte einen Job als Serviererin in einem Kaffeehaus, zusammengebrochen. Nach der Behandlung in einer psychiatrischen Klinik ist es ihr dann ein wenig besser gegangen.

Für Ilses älteste Tochter Marion wurde eine jüdische Pflegefamilie in Los Angeles gefunden. Sie war sehr glücklich dort; diese Familie wurde ihr zu Hause. Die Buben kamen zu einer anderen Familie. Nachdem Ilse aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bekam sie noch einige Kinder, aber die Familie lebte weiter in ärmlichen Verhältnissen.

Mella arbeitete auf dem Zentralfriedhof und war für Schreibarbeiten zuständig. Sie sparte Geld und flog zu ihrer Tochter nach Amerika. Sie blieb einige Zeit dort, konnte ihr aber nicht helfen. Als sie zurückkam erzählte sie: 'Ich bin erst nach London gefahren; ich konnte nicht weiter, ich war krank und musste einige Tage ins Spital.' 'Hast du mit ihr gesprochen', fragte ich.

'Ich habe ihr über Auschwitz erzählt und versucht zu erklären, dass ich sie davor retten wollte, dass sie den Holocaust wahrscheinlich nicht überlebt hätte. Und ich habe sie gefragt, ob sie nicht ihre Kinder genauso weggeschickt hätte?' Es ist schrecklich, aber es kam nie zu einer wirklichen Versöhnung. Tante Mella starb in Wien.

Tante Hansi war zwar verlobt, aber zu einer Hochzeit ist es nicht mehr gekommen. Sie hatte ein Doktorat gemacht, aber worin, weiß ich nicht. Tante Hansi blieb bei ihrer Mutter, meiner Großmutter Regina, und sie wurden beide im KZ Auschwitz ermordet.

Die Familie meines Vaters war nicht reich, aber alle haben auf der Universität gelernt. Nur Erna war zu Hause und half der Mutter im Haushalt. Sie hatte eine Freundin und bekam von ihr ein Permit [Visum] für England, weil diese Freundin nur eines für sich bekommen hatte und nicht für ihren Bräutigam:

'Wenn er nicht gehen kann, gehe ich auch nicht, also sag es mir, ob du es willst, sonst gebe ich es wem anderen', sagte die Freundin. Also nahm meine Tante Erna das Permit und emigrierte nach England, nach Liverpool.

Mein Vater Ernst Feldsberg, wurde am 19. Mai 1894 in Nikolsburg geboren. Während des 1. Weltkrieges absolvierte er seinen Militärdienst in der k. u. k. Armee.

Die Wohnung der Großmutter in Nikolsburg war eine Parterrewohnung. Unlängst habe ich in der Kultusgemeinde ein Bild von Nikolsburg mit dem Haus gesehen, in dem meine Großmutter gelebt hat. Vor dem Haus steht eine Säule, daran habe ich es erkannt. Ich habe gelesen, dass es unter Denkmalschutz steht.

Meine Großmutter war eine sehr liebevolle Frau. Sie und Tante Erna führten gemeinsam den Haushalt. Die Großmutter war sehr fromm, hat koscher [nach jüdischen Speisevorschriften rituell; rein] gelebt, den Schabbat eingehalten und ist in den Tempel beten gegangen.

Ob sie eine Perücke getragen hat, weiß ich nicht. Ich habe ihre Haare schon etwas grau in Erinnerung, sie hatte sie immer hochgesteckt. Einmal im Jahr zu Pessach 1 hat sich die ganze Familie, die Verwandten aus Wien und jene aus Budapest, in Nikolsburg bei der Großmutter getroffen. Da habe ich auch Onkel Emil, seine schöne ungarische Frau und ihre Tochter Szuszi gesehen.

Meine Großeltern mütterlicherseits lebten in Wien. Der Großvater hieß Josef Stadler und wurde am 15. Oktober 1865 in Wien geboren. Die Großmutter hieß Emilie Stadler. Sie war die Tochter von Abraham Schwarz und wurde am 1. April 1868 geboren.

Meine Großeltern hatten eine sehr schöne Wohnung im 9. Bezirk, in der Servitengasse. Im 2. Bezirk besaßen sie ein Geflügelgeschäft. Der Großvater starb 1933 in Wien. Meine Großmutter stand danach allein im Geschäft. Ich bekam von ihr immer Grammeln [österr. für Grieben], ich durfte sie mir sogar selber nehmen. Die Großeltern hatten zwei Töchter: meine Mutter Zerline, und meine Tante Walli.

Tante Walli [Valerie] wurde am 3. September 1902 in Wien geboren. Sie war mit Max Knoll verheiratet. Meine Cousine Marion Knoll wurde im April 1938 geboren. Max Knoll wurde direkt von Wien nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Walli und Marion, wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert und ermordet. [Valerie und Marion Knoll wurden am 24. September 1942 nach Theresienstadt und am 9. Oktober 1944 nach Auschwitz deportiert; Totenbuch Theresienstadt].

Meine Mutter wurde immer Stella genannt, und ich habe viel später aus Dokumenten erfahren, dass sie Zerline hieß. Sie wurde am 2. August 1899 in Wien geboren. Ich kenne sogar die Geschichte, wie sich meine Eltern kennen gelernt haben:

Mein Vater hatte seine Mutter in Nikolsburg besucht und da hat ihn ein Nachbar seiner Mutter gebeten, ein Paket nach Wien für die Familie Stadler mitzunehmen. Mein Vater war einverstanden und hat das Paket in die Servitengasse mitgenommen, wo meine Mutter ihm die Tür geöffnet hat. Sie hatten sich aber nicht das erste Mal gesehen, denn sie haben in derselben Bank, dem Wiener Giro- und Kassenverein gearbeitet.

Mein Vater hatte in Wien Jus studiert, das Doktorat gemacht und dann begonnen, in der Bank zu arbeiten.

  • Meine Kindheit

Meine Eltern heirateten 1929 und ich wurde am 29. Mai 1930 in Wien geboren.

Wir hatten eine Wohnung in einem sehr schönen Haus in der Porzellangasse. Es war eine Parterrewohnung, und als ich klein war, bin ich nie durch die Tür eingetreten, sondern immer beim Fenster hineingestiegen; das hat mir großen Spaß gemacht.

Mein Vater war ein sehr religiöser Mann, er trug keine Pejes 2, aber er legte jeden Morgen vor dem Frühstück Tefillin 3 an und betete. Das Schlafzimmer meiner Eltern war sehr groß, und ich hatte mein Bett im Eck. Meine Eltern standen vor mir auf und waren sehr leise, um mich nicht zu wecken.

Wenn ich ins andere Zimmer kam, sah ich meinen Vater, wie er sich die Tefillin umwickelte. Er nahm sie sogar ins Ghetto nach Theresienstadt mit, da musste er sie natürlich verstecken. Meine Mutter zündete jeden Freitag Kerzen und sprach das Gebet. Das tat sie auch nach dem Krieg, solange sie lebte. Meine Eltern lebten koscher, und ich ging regelmäßig mit meinem Vater in den Tempel. Ich wurde natürlich religiös erzogen.

Wenn meine Eltern am Abend Besuch hatten - ich schlief immer mit offener Tür - machte ich oft Blödsinn. Ich habe mich unter dem Tisch versteckt und dann den Herrn die Schuhbänder aufgeschnürt. Irgendwann haben sie mich dann entdeckt, aber sie waren immer lieb zu mir. Noch eine andere Geschichte:

Wir hatten einen sehr großen Eiskasten, und damals brachte man das Eis für den Eiskasten mit einem Pferdewagen. Einmal, als der Mann das Eis zu uns in die Wohnung gebracht hat, bin ich zum Pferdewagen auf die Straße gegangen und habe es geschafft, das Pferd von dem Wagen zu befreien.

Dann habe ich das Pferd die Porzellangasse hinunter geführt, Richtung Franz-Josephs-Bahnhof. Als der Eisverkäufer nur den Wagen ohne Pferd vorfand, war er entsetzt. Aber ich war noch nicht so weit entfernt, und er hat mich mit seinem Pferd die Strasse entlang gehen sehen.

Er hat schnell meine Mutter geholt, und beide sind hinter mir her gelaufen. Meine Mutter wollte böse sein, musste aber lachen und hat mich gefragt: 'Warum hast du das gemacht?' Ich habe gesagt: 'Warum muss das arme Pferd so schwer arbeiten?' Dann hat meine Mutter gesagt: 'Wo wolltest du denn hingehen?' Das habe ich nicht gewusst, aber ich wollte dem Pferd das Leben erleichtern. Wir waren eine wunderbare, liebevolle Familie und niemand hat mir etwas Böses getan.

Wir hatten auch ein Mädchen, das für uns arbeitete. Hinter der Küche war ein Zimmer, in dem hat sie gewohnt. Ich hab sie sehr gern gehabt und ich erinnere mich auch, dass sie einen Bräutigam hatte.

Kurze Zeit ging ich in einen Kindergarten, weil meine Mutter auch arbeitete, aber meine Mutter holte mich immer sehr früh vom Kindergarten ab.

Ich besuchte die Volksschule in der Grüne Torgasse. In meiner Klasse waren noch vier jüdische Mädchen; alle wohnten in der Porzellangasse. Ich hatte eine sehr nette Lehrerin, und ich ging so gerne in die Schule, dass ich sogar am Sonntag in die Schule gehen wollte.

Die Mütter wechselten sich immer beim Abholen der Kinder aus der Schule ab. Einmal hat mich meine Mutter abgeholt und auch andere Mädchen mitgenommen, ein anderes Mal wurde ich von einer anderen Mutter mitgenommen, das war sehr schön.

Meine Eltern unternahmen viel mit mir, wir machten Ausflüge in den Wienerwald, und wir ließen auf einer Wiese Drachen steigen. Im Sommer waren wir oft auf Sommerfrische in Baden bei Wien, daran kann ich mich erinnern. Dort hätte ich Schwimmen lernen sollen, aber es hat nicht geklappt.

Der Schwimmlehrer hat mich an einer Angel gehalten und mir die Schwimmbewegungen erklärt. Meine Mutter stand neben ihm. Dann ließ er mich in ein Bassin mit Wasser herunter, und plötzlich war ich unter Wasser. Ich habe gezappelt und versucht zu schreien, das war schrecklich. Mein Vater fuhr immer jeden Tag nach Wien zur Arbeit, während meine Mutter mit mir einige Wochen in Baden blieb.

Meine Mutter liebte es zu reisen. Vor ihrer Ehe ist sie mit ihrer Schwester Walli und Freunden durch Italien und Griechenland gereist. Mit meinem Vater war sie auch in Griechenland. Dort haben sie einen Griechen kennen gelernt, einen gutaussehenden jungen Mann. Meine Eltern waren auch in Athen und haben seine Familie kennen gelernt und er hat uns auch einige Male in Wien besucht. Später hat er dann meinen Eltern Päckchen mit Lebensmitteln nach Theresienstadt geschickt.

Meine Eltern sind oft ins Theater, in die Oper und in Konzerte gegangen. Mein Papa ist allerdings immer eingeschlafen. Es wäre sehr nett gewesen, wenn Adolf [Hitler] nicht gekommen wäre! In der Porzellangasse war ein Zuckerlgeschäft mit fünf Stiegen und da habe ich jeden Tag nach der Schule etwas Süßes gekauft.

Einmal bin ich, wie jeden Tag, hineingegangen, habe meinen Schilling auf den Ladentisch gelegt und mir etwas genommen. Die Verkäuferin hat mich aber einfach hinausgeworfen. Ich habe geglaubt, sie macht einen Witz oder denkt, ich wolle nicht zahlen, und da bin ich wieder reingegangen und habe gesagt: 'Ich habe Geld!'

Daraufhin ist sie mit mir zur Tür gegangen und hat mich die Stiegen hinuntergestoßen. Als ich nach dem Krieg das erstemal wieder in Wien war, habe ich sie zufällig getroffen, und sie hat mir gesagt, dass das nicht ihre Schuld war, sie hätte das machen müssen.

Ich hatte eine Schubkarre und einen Puppenwagen, und meine Mutter ist mit mir immer in den Votivpark gegangen. Dort habe ich mit anderen Kindern in der Sandkiste gespielt, und die Mütter sind zusammen gesessen und haben sich unterhalten. Ich erinnere mich an einen Tag - das war 1938 - da wollte ich, wie immer, in der Sandkiste spielen.

Plötzlich haben sich ein paar Buben auf mich gestürzt, und dann sind auch die Eltern gekommen. Sie wollten mich schlagen und aus der Sandkiste ziehen. Meine Mutter hat auf einer Bank gesessen, ist aufgesprungen, hat mich geschnappt und ist schnell mit mir weggelaufen. Ich bin sehr erstaunt über meine Mutter gewesen, weil ich geglaubt habe, sie müsse diesen Leuten sagen, dass sie das nicht machen dürfen.

Nach dem März 1938 4 bin ich in die Schule gegangen und habe mich wie immer auf meinen Platz gesetzt. Da kam ein Lehrer herein und sagte: 'Da kannst du nicht sitzen, die jüdischen Mädchen sitzen hinten!' Wir haben gedacht, das ist ein Spiel. Aber es war kein Spiel, wir mussten die Mäntel woanders hin hängen und ganz hinten sitzen.

Eine sehr nette Lehrerin war da und hat gesagt: 'Was haben die Kinder getan?' Man hat sie aus der Schule geworfen und uns jüdische Kinder auch. In eine normale Schule durfte kein jüdisches Kind mehr gehen. Meine Lehrerin war keine Jüdin, aber sie musste dann eine Art Zwangsarbeit leisten, sie hat sehr schwer arbeiten müssen.

Sie hat den Krieg überlebt, und als meine Eltern aus dem Ghetto Theresienstadt zurückgekommen sind, hat sie sie sofort besucht. Vor einem Jahr hat sie noch in einem Altersheim im 19. Bezirk gelebt.

Ich besitze ein Zeugnis des Giro- und Kassenvereins, das meinem Vater 1938 anlässlich seiner Entlassung ausgestellt wurde: 'Es wird hierdurch bestätigt, dass Herr Dr. Ernst Feldsberg, geboren am 19. Mai 1894 zu Nikolsburg, Tschechoslowakei, vom 12. April 1921 bis 30. Juni 1938 in unserem Institut beschäftigt war.

Herr Dr. Feldsberg, der als Beamter in unser Institut eintrat, wurde bald aufgrund seiner juridischen Kenntnisse zum Sekretär ernannt. Nach Inkrafttreten der gesetzlichen Devisenvorschriften wurde Dr. Feldsberg mit der Leitung der ins Leben gerufenen Clearing-Abteilung betraut und ihm wurde die Prokura verliehen.

Er ist allen an ihn gestellten Anforderungen, die größte Umsicht und volle Beherrschung der Materie erforderten, in sehr zufriedenstellender Weise gerecht geworden. Das Dienstverhältnis mit Herrn Dr. Feldsberg wurde im Zuge der Neuordnung im Lande Österreich gelöst.

  • Während des Krieges

Im habe Wien 1939 mit dem letzten Kindertransport 5 der Kultusgemeinde nach England verlassen. Die Eltern durften die Kinder nicht bis zum Zug bringen, aber mein Vater war schon damals im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde und hat mich und meine drei jüdischen Freundinnen aus der Porzellangasse zum Bahnhof begleiten können. Meine Mutter musste zu Hause bleiben, in der Nacht war es sehr gefährlich.

Ich werde den Abschied nie vergessen: Meine Mutter konnte nicht reden. Sie hat nicht gewusst, ob sie mich je wiedersehen wird. Ich kann es heute noch nicht glauben, ich sehe noch immer, wie ihre Tränen rinnen. Meine Eltern hatten gesagt, dass sie nachkommen würden.

Aber als der Zug losgefahren und mein Vater am Bahnsteig gestanden ist, war es schrecklich. Meine Eltern hatten ein Permit 6 für England beantragt und hätten es wahrscheinlich auch bekommen, aber am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg, und die Grenzen wurden geschlossen. Mein Vater war Sozialdemokrat, aber den Holocaust konnte er nicht voraussehen.

In England sollte mich ein Freund meiner Mutter vom Bahnhof abholen, aber ich musste zwei Stunden auf ihn warten. Einige Leute haben mich angesprochen und wollten mir helfen, aber ich habe ja nichts verstanden. Den ganzen Tag hatte ich nichts gegessen. Endlich kam der Bekannte meiner Mutter, ging mit mir Essen, und ich konnte auf die Toilette gehen.

Dann setzte er mich in einen Zug nach Liverpool. Im Zug von Wien nach London waren wir nur Kinder gewesen, in diesem Zug war ich aber vollkommen allein. Das waren vier schreckliche Stunden. Ich war ein achtjähriges Kind! Mitten in der Nacht kam ich in Liverpool an.

Ein sehr netter Mann holte mich vom Bahnhof ab, er sprach Jiddisch. Wir sind zu einer großen Villa gefahren. Der Mann hatte eine Frau und zwei Söhne, es war eine sehr fromme Familie. Ein Sohn war elf, der andere vierzehn Jahre alt. Aber nur der Mann sprach mit mir. Es war seine Idee gewesen, ein Kind aufzunehmen, die Frau war damit nicht einverstanden gewesen.

Ich war nach der langen Reise so müde, dass ich überhaupt nichts mehr gesehen habe. Ich weiß nur, einer der Burschen zeigte mir mein Zimmer. Ich musste Stiegen hinauf gehen, und man gab mir meinen Koffer hinein. Niemand kümmerte sich mehr um mich, ich bekam nicht einmal ein Glas Wasser.

Die Engländer sind sehr höflich; auch zum Briefträger sind sie sehr freundlich, sie sind zu jedem freundlich. Aber eine Mutter von zwei Söhnen, die einem kleinen Mädchen nach einer langen Reise nicht einmal ein Glas Wasser bringt, die ist schon sehr kaltherzig. Außer dem Gärtner, dem Chauffeur und dem Ehemann dieser Frau, der fast nie da war, hat niemand in diesem Haus mit mir gesprochen.

Ich schlief die erste Nacht sehr gut, weil ich so müde war. Am nächsten Morgen kam ein Hausmädchen in Uniform und zeigte mir das Badezimmer. Ich habe mich gewaschen und angezogen - meine Mutter hatte mir so schöne Sachen mitgegeben.

Dann aber wusste ich nicht, was ich tun sollte: hinuntergehen oder nicht. Ich bin hinuntergegangen; das Hausmädchen servierte das Frühstück; ich habe gegessen. Ich weiß nicht mehr, was ich danach gemacht habe, wahrscheinlich nichts.

In dem Alter lernt man sehr rasch, und nach zwei, vielleicht drei Wochen, bin ich in die Schule gegangen. In der Schule war es gut, da gab es normale Leute und ich war da sehr glücklich. Ich habe gut gelernt und war immer die Beste in Englisch.

Meine Mutter hatte mir ein Dirndl mit Schürze gekauft und das habe ich nach England mitgenommen. Ich habe das Dirndl geliebt und es eines Tages auch zur Schule angezogen. Die Kinder in der Schule haben sich über mich schrecklich lustig gemacht, gelacht und gerufen: 'Sie hat eine Schürze an'.

Sie kannten das nicht, eine Schürze trug man dort nur zum Kochen. Später trugen wir Schuluniformen. Da ich in den zwei Jahren, die ich in Liverpool war, niemanden kennen gelernt habe, der Deutsch gekonnt hat, habe ich nur Englisch gesprochen.

Ich bin immer zeitig schlafen gegangen, und eines Tages, nachdem ich ins Bett gegangen war, wurde plötzlich die Tür zu meinem Zimmer von außen abgesperrt. Ich war eingesperrt. In der Früh schloss eine der Angestellten die Tür wieder auf.

Ich konnte das nicht verstehen und dann sagte die Dame zu mir: 'So kannst du nicht horchen, wenn ich mit meinem Mann spreche!' Nun hatte ich ein schreckliches Problem. Meine Mutter hatte mir eine schöne Schale für meinen Kamm und die Haarbürste mitgegeben, die wurde zu meinem Nachttopf.

Am Morgen habe ich das Fenster geöffnet und den Nachttopf ausgeschüttet. Dann habe ich das Gefäß im Badezimmer ausgewaschen und wieder in die Lade gelegt. Nur Gott hat mir in dieser Zeit geholfen; ich habe immer mit dem lieben Gott gesprochen.

Ich hatte auch ein Gebetbuch dabei, das hatte mir mein Papa mitgegeben. Eines Tages habe ich gehört, wie die Dame den Gärtner, der immer so nett zu mir war, anschrie: 'Schauen sie sich das an, das ist braun!' Unter meinem Fenster befand sich ein Rosenstock. Ich habe sofort gewusst, warum der Rosenstock braun ist.

Ich hatte Angst, dass der Gärtner meinetwegen gekündigt wird, dass sie ihn wegschicken wird, und da habe ich am Abend zum lieben Gott gesagt: 'Weißt du, wenn sie ihn wegschickt, dann werde ich zu ihr gehen und sagen, dass das meine Schuld ist mit den Rosen. Aber wenn sie ihn nicht wegschickt, dann werde ich nichts sagen.' Jeden Tag vor dem Frühstück bin ich in den Garten gelaufen, und ich hatte Glück.

Er hatte den Rosenstock versetzt und einen neuen Rosenstock unter mein Fenster gepflanzt. Der neue Rosenstock bekam rosa Blüten und die Blütenblätter hatten Zacken. Er war sehr schön und ich habe mich sehr beim lieben Gott bedankt. Wenn ich meinen Glauben nicht gehabt hätte, weiß ich nicht, was mit mir passiert wäre.

Nach zwei Jahren ist der Mann ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Seine Frau ist sofort zum Refugee Committee gegangen und hat gesagt, dass ihr Mann gestorben sei und dass sie mich jetzt nicht mehr ernähren könne; sie müsse zu ihren Eltern ziehen.

Die Organisation fand für mich eine Familie in Manchester, drei Schwestern und ein Bruder, alle Singles. Sie waren nicht reich und mussten arbeiten gehen. Eine hat sich um das Haus gekümmert. Sie hatten einen schönen Hund, einen Golden Retriever. Das Haus war sehr groß und sehr kalt, ich hab dort schrecklich gefroren.

Als ich am ersten Abend schlafen gegangen bin - ich habe mit zwei der Schwestern in einem Zimmer geschlafen - ist die Tür offen geblieben, weil ich sie nicht geschlossen hatte. Ich bin eingeschlafen und als ich aufgewacht bin, war die Tür noch immer offen. Ich konnte das kaum glauben, aber so war es.

In der zweiten Nacht musste ich zur Toilette. Ich habe kein Licht gemacht, weil ich geglaubt habe, das wäre verboten. Als ich fertig war - alles war dunkel - habe ich den Hund gehört und gedacht, er werde mich für einen Einbrecher halten.

Ich habe mich nicht aus der Toilette getraut und bin dort am Fußboden eingeschlafen. Als die Schwestern schlafen gegangen sind, war ich nicht im Bett. Sie haben mich im ganzen Haus gesucht, dann haben sie die Toilettentür geöffnet und mich schlafend auf dem Boden gefunden. 'Warum schläfst du hier, magst du dein Bett nicht?' Ich habe gesagt: 'Entschuldigung', und sie schauten mich verwundert an:

'Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen. Warum machst du kein Licht? Du kannst zehnmal auf die Toilette gehen, wenn du willst.' Sie sind mit mir in die Küche gegangen - auch der Hund ist mitgekommen - und haben Tee zubereitet. Dann habe ich ihnen alles erzählt, und sie waren über meine Geschichte so erschüttert, dass sie schrecklich weinten.

Ich bin weiter in die Schule gegangen, aber es war natürlich ganz anders, als es bei meinen Eltern gewesen wäre. Wenn man als Kind zum Beispiel etwas für die Schule braucht, sagt man: 'Papa, ich brauche das, und ich brauche das' und wenn er 'nein' sagt, dann ist es okay. Aber wenn ein fremder Mensch dich erhält, dann ist es unangenehm.

Ich habe dann meine Matura gemacht und wollte Medizin studieren, aber die Familie war nicht sehr reich, und so habe ich begonnen, in einem Büro zu arbeiten. Ich war in Manchester Mitglied mehrerer jüdischer Vereine, zum Beispiel im Habonim 7; da waren aber meistens Kinder reicher Leute.

Meine Tante Erna, die mit dem Permit ihrer Freundin nach England gekommen war, musste als Hausmädchen schwer arbeiten. Nach dem Krieg besuchte ich sie. Inzwischen hatte sie bei einer anderen Familie in der Nähe von London gearbeitet. Das war eine jüdische Emigrantenfamilie aus Österreich, die in einem großen Haus mit drei Stockwerken lebte. Tante Erna hat sich sehr über meinen Besuch gefreut, die Hausdame war nicht da, aber ich konnte mir das Haus ansehen.

Dann hörte ich eine Glocke: 'Was ist das', habe ich sie gefragt. 'Der Chef ist da und möchte seine Jause haben', sagte Tante Erna. Tante Erna hat sich eine weiße Schürze umgebunden und dem Hausherrn seine Jause gebracht. Der Hausherr wollte mich sehen, und so bin ich zu ihm gegangen. Er wollte mich zur Jause einladen, aber das hat mir alles nicht gefallen: Meine Tante hat nicht dazugehört, sie war das Dienstpersonal. Aber Erna hat gesagt: 'Sag nichts, sag bitte nichts!'

Dann ist sie nach London zu einer anderen Familie und dort war es viel besser für sie. Als sie Jahre später krank wurde und operiert werden musste, sagte mein Vater: 'Du gehst dort weg, du kommst nach Wien und man wird dich hier operieren.' Sie kam nach Wien zurück, aber danach wollte sie wieder nach England. Papa hat gesagt: 'Ich nehme dir den Pass nicht weg, aber bleib hier', aber sie wollte nicht. Ich habe daraufhin im Jewish Chronicle 8 nach einer Stelle für sie gesucht.

Da fand ich eine Annonce, das Haus war in einer sehr schönen Gegend von London, und in dieser Gegend wohnten außerdem viele Juden. Das Inserat lautete: 'Vater und Sohn suchen Hausgehilfin.' Ich habe denen einen Brief geschrieben, und sie riefen an und fragten: 'Wann kann sie kommen?' Dort war meine Tante dann sehr lange, der Vater war schon alt und sie hat ihn geliebt. Er hat ihr jeden Abend Geschichten erzählt, und sie war die Dame im Haus. Als er starb, blieb sie mit dem Sohn allein, bis auch sie alt und müde war.

Jedes Jahr im Sommer ist Tante Erna für drei Wochen nach Wien gekommen. Nach dem Tod meines Vaters ist sie zu mir, in meine Wohnung, gekommen. Sie ist so gern ins Schwimmbad im Prater gegangen; sie ist nie geschwommen, aber sie ist auf einem Sessel gesessen, hat gestrickt und war glücklich. So konnte sie ganze Tage verbringen.

Als ich einmal in London war, habe ich sie in einem jüdischen Heim angemeldet, sagte ihr aber nichts davon. Als sie das letzte Mal nach Wien gekommen ist, hat sie zu mir gesagt: 'Weißt du, vielleicht sollte ich doch ins Heim gehen', und ich habe geantwortet:

'Das wäre sehr, sehr schön, dann musst du auch dein Essen nicht mehr allein kochen.' Sie ging noch einmal zu dem Sohn, der inzwischen auch ein alter Mann war, und sagte ihm, dass sie in ein Heim geht. Am Nachmittag hat sie dann an seine Zimmertür geklopft. Er hat aber nicht geöffnet. Sie ging hinein, und er war tot. Tante Erna starb 1998 in London.

  • Nach dem Krieg

Der Krieg war vorbei. Das erste Wiedersehen mit meinen Eltern, die Theresienstadt überlebt hatten, war problematisch. Meine Eltern kamen nach London, und nach den acht Jahren, die vergangen waren, hatte ich große Angst vor dieser Begegnung.

Ich konnte kein Deutsch mehr, konnte mit meinem Vater nicht reden und meine Mutter musste dolmetschten. Mit meiner Mutter war es einfach, wir haben uns in die Arme nehmen und küssen können, aber mein Vater war so entsetzt, dass er nicht mitreden konnte. Das hatte er nicht erwartet!

Meine Mutter war eine schöne Frau, und sie hatte wunderschöne Hände. In Theresienstadt hat sie schwer arbeiten und Ziegelsteine schleppen müssen. Plötzlich konnte sie einen Arm nicht mehr bewegen. Da ist sie zum Doktor in Theresienstadt gegangen: 'Du willst bloß nicht arbeiten', hat der Arzt zu ihr gesagt.

Nach der Befreiung, wieder in Wien, konsultierten meinen Eltern einen Arzt, aber die Behandlungen, die er verschrieb, haben nicht geholfen. Nachher wurde diagnostiziert, dass meine Mutter Knochenkrebs hatte. Man musste ihr den Arm abnehmen. Sie starb am 11. Juli 1949 in Wien.

Ich hatte in England einen Freund, einen jüdischen Burschen. Wir haben uns sehr gut verstanden und wollten heiraten. Ich bin damals jeden Sommer nach Wien gefahren und als ich einmal nach drei Wochen aus Wien zurückgekommen war, bin ich am nächsten Tag seine Eltern besuchen gegangen. Er war auch dort. Und als ich wegging, fühlte ich, da ist etwas nicht in Ordnung.

Im Jewish Cronicle habe ich dann den Grund gesehen. Da war ein Foto von meinem Freund und einem Mädchen: 'Congratulations', zur baldigen Hochzeit. Ich habe geglaubt, die Welt bricht zusammen. Die Familie meines Freundes war nicht reich, aber seine Schwester hatte einen reichen Mann geheiratet, und die Mutter hatte ähnliche Pläne für ihren Sohn.

So hat er dann dieses Mädel aus reichem Hause geheiratet. Alle meine Freunde aus dem jüdischen Sportverein Maccabi, auch meine beste Freundin, haben gesagt, ich soll zur Hochzeit gehen: 'Wenn du nicht gehst, glauben sie, du sitzt zu Hause und kränkst dich.' Aber ich bin nicht hingegangen, sondern nach Wien gefahren. Ich habe meinen Job gekündigt und wollte ein Jahr in Wien bleiben. Das war 1957.

In diesem Jahr fand ich aber einen Job bei der Britischen Botschaft in Wien, und die Arbeit hat mir sehr gefallen. Es war auch wunderbar, dass meine Familie aus England dann nach Wien zu mir kam und mich besuchte.

Nachdem meine Eltern und meine Großmutter aus Theresienstadt nach Wien zurückgekommen waren, hatten sie im selben Haus, aber im ersten Stock, eine sehr große Wohnung mit Balkon bekommen. Als ich das erste Mal nach dem Krieg in Wien war - meine Mutter lebte noch - bin ich mit einem englischen Soldaten ins Theater gegangen und er hat mich danach nach Hause gebracht.

Meine Mutter mich gefragt: 'Warum hast du ihn nicht rauf gebeten?' 'Darf ich das?' Da war meiner Mutter alles klar und sie sagte: 'Was heißt das denn? Du kannst zehn Leute mit rauf nehmen, das ist deine Wohnung, das ist dein Haus!' Das war ganz wunderbar und ich brachte oft Freunde mit nach Hause. Mein Vater hatte es sehr gern, wenn junge Leute da waren. Ich ging, ich kam, lud ein, ich kannte das vorher nicht.

Zuerst war ich viel in der Britischen Botschaft; da gab es oft Parties. Einige aus der Botschaft sind noch immer meine Freunde, und über meinen Vater kannte ich viele Leute in der Gemeinde. Mein Vater war seit 1928, insgesamt siebenunddreißig Jahre, für die Israelitische Kultusgemeinde tätig.

Davon war er 17 Jahre Vorstandsmitglied, und von 1963 bis 1970 war er Präsident des Bundesvorstandes der Israelitischen Kultusgemeinden. Er arbeitete aber auch noch als Jurist in der Bank, in der Creditanstalt. Und außerdem war er Laienbeisitzer am Handelsgericht Wien, natürlich mit fachmännischen Kenntnissen.

Ich bin immer mit meinem Vater zusammen in die Kultusgemeinde gegangen. Keinen Abend ist er zu Hause gewesen, er war immer unterwegs. Das mache ich jetzt genauso, das habe ich von ihm geerbt.

Mein Vater ist am 21. August 1970 in Wien gestorben. Sechs Monate später fanden wieder Wahlen in der Kultusgemeinde statt. Ich habe kandidiert und war bis vor vier Jahren im Vorstand der Gemeinde. Ich bin eine gläubige Jüdin und ich gehe regelmäßig beten. Das habe ich immer gemacht.

Ich gehe auch zu sehr vielen Veranstaltungen; es macht mir Freude und natürlich treffe ich dort viele Menschen, die ich kenne. Im Herzen ist mir die Gemeinde sowie alles, was mit Juden zu tun hat, am wichtigsten. Man weiß ja nie, was kommt. Ich lebe sehr gern in Wien, ich bin eine Operngeherin. Man kann sehr gut in Wien leben, wenn man uns in Ruhe lässt. Dass wir Juden in Österreich nicht sehr beliebt sind, das ist klar, aber wo sind wir schon beliebt!

Ich fahre jedes Jahr nach Israel, ich habe dort Freunde. Das erste Mal bin ich 1961 zu Freunden meines Vaters nach Israel gefahren, und wenn ich sehr viel jünger wäre, würde ich in Israel leben wollen.

1994 wurde ESRA 9eröffnet. Ich habe dort Hilfe gesucht und gefunden, denn ich hatte lange sehr große Probleme durch meine Emigrationszeit. Ich bin sehr eng mit Professor Engel befreundet und habe sehr viel gelernt, aber er hat mich nicht therapieren können, weil einen nur jemand therapieren kann, der einen nicht kennt. Heute ist es viel einfacher einen Therapeuten zu finden, aber früher gab es sehr wenige Möglichkeiten.

Als ESRA mit seiner Arbeit begonnen hat, war ich in der ersten Gruppe. Das war die Gruppe, die den Holocaust erlebte. Wir waren zwölf Leute, aber es war nicht das, was ich wirklich wollte. Ich wollte eine Einzeltherapie. Ich wollte nicht über den Holocaust reden, das habe ich eigentlich nie müssen; ich kann es, aber ich muss es nicht.

Meine Probleme waren vor allem Platzangst und Minderwertigkeitsgefühle. Galja arbeitet bei ESRA und ist ein Schatz und genau die Richtige. Ich weiß, sie ist keine Antisemitin, sie hat den Holocaust nicht erlebt, und sie wurde in Israel geboren. Ich kann mit ihr über alles reden, ich brauche gar keine Angst haben, und - es ist ja ein bisschen spät - ich hätte nie gedacht, dass mir noch geholfen werden kann.

Ich feiere alle jüdischen Feste. Dieses Jahr am Sederabend 10 war ich in der Arche Noah [Jüdisches Restaurant], da war es sehr nett, sehr lustig und am zweiten Feiertag im Maimonides Heim [Jüdisches Alters- und Pflegeheim sowie Tagesstätte]. Am zweiten Feiertag kommen nicht so viele Leute, aber am ersten ist es wunderschön.

  • Glossar

1 Pessach: Feiertag am 1. Frühlingsvollmond, zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, auch als Fest der ungesäuerten Brote [Mazza] bezeichnet.

2 Pejes od

Peies [hebr: Peot]: die jiddische Bezeichnung für die von frommen Juden getragenen Schläfenlocken. Das Tragen des Bartes und der Schläfenlocken geht auf das biblische Verbot zurück, das Gesicht mit scharfen und schneidenden Gegenständen zu berühren.

3 Tefillin: lederne 'Gebetskapseln', die im jüdischen Gebet an der Stirn und am linken Arm getragen werden und Texte aus der Torah enthalten.

4 Anschluss: Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Schuschnigg am 11. März 1938 besetzten in ganz Österreich binnen kurzem Nationalsozialisten alle wichtigen Ämter. Am 12. März marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Mit dem am 13. März 1938 verlautbarten 'Verfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich' war der 'Anschluss' de facto vollzogen.

5 Kindertransport: Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rief die britische Regierung eine Rettungsaktion ins Leben, um Kinder vor dem Nazi- Terror zu bewahren. Zehntausend größtenteils jüdische Kinder aus deutsch besetzten Gebieten wurden nach Großbritannien gebracht und von britischen Pflegeeltern aufgenommen.

6 Permit [engl.: Erlaubnis]: Visum, Einreisegenehmigung

7 Habonim - Zionistische Jugendbewegung, 1930 in London mit dem Ziel gegründet, jüdische Kultur, Hebräische Sprache und Pionierdasein in Eretz Israel zu fördern. Habonim hat eine starke Verbindung mit der Zionistischen Arbeiter- und der Kibbutzbewegung.

8 Jewish Chronicle: Gegründet in 1841, ist das britische Jewish Chronicle weltweit die am längsten ohne Unterbrechung erscheinende jüdische Zeitschrift.

9 ESRA: 1994 gegründet, bemüht sich das psychosoziale Zentrum ESRA um die medizinische, therapeutische und sozialarbeiterische Versorgung von Opfern der Shoah und deren Angehörigen sowie um die Beratung und Betreuung von in Wien lebenden Juden; weiters bietet ESRA Integrationshilfen für jüdische Zuwanderer.

10 Seder [hebr.: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.