Friedrich Seliger

Friedrich Seliger im Kreise seiner Familie

Wien
2003
Name des Interviewers: Tanja Eckstein

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Nach dem Krieg
Glossar

Meine Familiengeschichte

Die Großeltern väterlicherseits habe ich nicht gekannt. Die Mutter meines Vaters starb noch vor dem Ersten Weltkrieg. Sie hieß Ettl Seliger. Mein Großvater hieß Moische Jehuda Seliger, er war Direktor einer Erdölstation und lebte in Galizien, in der Nähe von Zakopane [Polen]. Meine Großeltern hatten fünf Kinder. Meinen Vater Heinrich, Pinchas, Zivia, Rifka und Feige.
Als die Großmutter gestorben war, hat der Großvater noch einmal geheiratet. Er hat eine Frau geheiratet, deren Mann sich von ihr hatte scheiden lassen, weil sie zehn Jahre keine Kinder bekommen hatte. Der Großvater hat gesagt, er brauche keine Kinder mehr, er will eine Hausfrau und eine Mutter für seine Kinder, aber dann haben sie noch drei Kinder zusammen gehabt, Bronka, Fridza und Schlomo. Eine Halbschwester meines Vaters hat in Wien gelebt, sie ist auch in Wien gestorben, und der Jüngste hat auch in Wien gelebt und ist auch in Wien, vor dem Zweiten Weltkrieg, gestorben.

Rifka, die Schwester meines Vaters, heiratete Schlomo Dank. Bereits 1921 übersiedelten sie nach Palästina. Sie hatten zwei Kinder, Rachel und Amos. Rifka starb 1997 in Israel.
Eine meiner Tanten hatte einen Verlobten, er hieß Adolf Pippes. Sie waren zehn Jahre verlobt und lebten in Wien. Dann sind sie nach Amerika gezogen. Das war vor dem Krieg. Als der Krieg ausgebrochen ist, haben sie gesagt: ‚wir gehen nach Hause’. Und sie sind zurück nach Polen gegangen. Die Deutschen haben der Sowjetunion den Krieg im Juni 1941 erklärt und sind dann in die Gegend gekommen, die die Russen in Polen okkupiert hatten. Die Familie Pippes ist ermordet worden. Auch Polen haben Juden in grausamer Art und Weise ermordet. Zum Beispiel meinen Onkel Pinchas haben die Hunde zerrissen. Polen, die große Antisemiten waren, hatten Hunde auf ihn gehetzt. Der Großvater hat dann eine Postkarte geschrieben, aber er hat geschrieben, der Pinchas sei auf der Straße bei Eis ausgerutscht und gestorben. Er konnte so etwas Grausames nicht auf eine Karte schreiben.

Eine Schwester meines Vaters war Kommunistin. 1939 hatten sich die Russen und die Deutschen Polen geteilt [1; siehe Hitler-Stalin-Pakt]. Einer meiner Onkel war Forstverwalter, er war auch Kommunist. Zuerst kamen die Russen, dann mussten die Russen flüchten, und die Deutschen kamen. Die Deutschen haben die Familie umgebracht. Die ältere Schwester Zivia ist verschwunden. Sie hatte viele Kinder, die sind alle verschwunden. Niemand hat mehr etwas von ihnen gehört. Eine Schwester war nur kurz verheiratet, sie ist auch umgebracht worden. Mein Großvater und sein Bruder wurden umgebracht. Ich weiß nicht, wie und wo sie umgekommen sind, aber nach dem Krieg war niemand mehr da.

Mein Vater, Heinrich Seliger, sein jüdischer Name war Zwi, wurde am 3. Mai 1896 in Dzwiniacz [heute Ukraine], in Galizien, geboren. Seine Familie kam ursprünglich aus Russland. Er ist bei seiner Tante und seiner Großmutter aufgewachsen. Die Tante war eine Ledige und ein Krüppel, und die Großmutter war die Schwester vom Großvater.

Meine Großeltern mütterlicherseits hießen Feder. Sie kamen aus Galizien, aus Zalozce. Zalozce lag damals an der polnischen Grenze zur Ukraine. Heute gehört das Gebiet zur Ukraine. Ich habe nur meine Großmutter Pesie Feder, geborene Milgrom, kennengelernt. Im Jahre 1916, die Russen waren vormarschiert, Galizien gehörte zu Österreich, sind meine Großeltern nach Wien geflüchtet. Meine Großmutter hatte 15 Kinder geboren, von denen fünf Kinder, noch in Galizien, an Krankheiten gestorben sind. Mit acht Kindern verließen die Großeltern Galizien, ein Kind wurde 1916, unterwegs nach Wien, geboren und noch ein Kind 1917 in Wien.

Lea, die Älteste, war meine Mutter. Sie wurde am 30. Mai 1896 in Zalozce geboren und starb 1978 in Israel. Regina wurde 1897 in Zalozce geboren, lebte in Wien, flüchtete nach Palästina und starb in Israel. Isak wurde in 1899 in Zalozce geboren, lebte in Wien, flüchtete nach Australien und starb dort. Rosa wurde 1901 in Zalozce geboren, lebte in Wien, flüchtete nach Amerika und starb dort.
Miriam [Anm. Maria oder Mali genannt] wurde 1905 in Zalozce geboren, lebte in Wien, flüchtete nach Palästina und starb 1966 in Haifa. Hermann wurde 1906 in Zalozce geboren, lebte in Wien und wurde mit seiner Frau Toni während der Flucht nach Palästina, in Jugoslawien, ermordet. Sie waren auf dem bekannt gewordenen Kladovo-Transport 2. Hermann wurde erschossen, Toni wurde in einem Gaswagen vergast. Simon wurde 1908 in Zalozce geboren, lebte in Wien und flüchtete nach Australien, wo er vor einigen Jahren starb.
Leon wurde 1914 in Zalozce geboren, lebte in Wien, flüchtete nach Schweden und war mit der Nichte des österreichischen Operettenkomponisten Komponisten Leo Fall verheiratet. Er starb in Schweden. Klara wurde 1916, während der Flucht nach Wien, geboren. Sie flüchtete nach Palästina, von Palästina nach Australien, wo sie heute noch lebt.
Berta, die jüngste, wurde 1917 in Wien geboren. Sie flüchtete nach Amerika und lebt heute mit ihrer Tochter in England.

Meine Großeltern flüchteten vor dem Ersten Weltkrieg in ihre Heimat, nach Wien, denn Wien war die Hauptstadt der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Sie siedelten sich im 2. Bezirk, in der Perinetgasse 2, an. Mein Großvater, Salomon Feder, hatte in Wien eine Schwester, sie hieß Mina und war mit Julius Blaustein verheiratet. Die Blausteins waren wohlhabende Leute, dadurch ist mein Großvater nach Wien gekommen. Julius starb sehr früh, den habe ich nicht mehr kennengelernt. Mina Blaustein wohnte in der Oberen Donaustrasse 9, das liegt nur einige Meter von der Perinetgasse entfernt. Sie besaß einen Salon für Damenkleider. Sie hatte zwei Kinder Irma und Eduard und einen Papagei. Die Kinder sind nach Südamerika geflüchtet, die Schwester meines Großvaters wurde zusammen mit meiner Großmutter Pesie nach Theresienstadt 3 deportiert.

Mein Großvater Salomon ist als Waisenkind aufgewachsen. Ich weiß nicht viel über ihn. Von Beruf war er Uhrmacher, besaß aber auch ein Geschäft mit Schreibwaren und Büchern. Er war ein sehr intelligenter und sehr angesehener Mann, weil er so gebildet war. Er sprach mehrere Sprachen, war der Abgeordnete des Dorfes in der Kreisstadt und hat die Krankenkassa geleitet. Mein Großvater war sehr viel herumgekommen, aber warum er soviel herumgekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht sind die Leute damals durch die Welt gewandert, um zu lernen. Er ist so ein Typ gewesen. Er war religiös, aber er trug keine Pejes 4. Einen kleinen Spitzbart hatte er. Als meine Großeltern mit ihren Kindern aus Galizien flüchteten, hatten sie Geld, aber durch die Inflation war das Geld nichts mehr wert. Im November 1918 starb der Großvater an der Spanischen Grippe. Die Großmutter blieb mit zehn Kindern allein. Das jüngste Kind war ein halbes Jahr alt, das älteste Kind war meine Mutter, die 20 Jahre alt war. Mein Großvater liegt in Wien am Zentralfriedhof am 4. Tor begraben.

Die Großmutter Pesie Feder kannte ich sehr gut. Das Leben muss sehr schwer für sie gewesen sein. Ihr Geld verdiente sie dann damit, dass sie auf der Nähmaschine Därme für Würste nähte. Damals gab man um die Wurst noch kein Plastik. Mit dieser Arbeit hat meine Großmutter ihre Kinder ernährt. Sie war sehr eine tapfere Frau. Meine Großmutter war schon nicht mehr sehr fromm. Sie ist zum Beispiel am Schabbat 5 mit der Straßenbahn gefahren, koscher 6 war sie aber. Ich habe sie sehr gern gehabt, meine Großmutter, sie war eine kluge Frau. Sie war oft bei uns zu Besuch, und als ich später im Ersten Bezirk gearbeitet habe, bin ich jeden Tag über den Donaukanal gelaufen, um Großmutters gute Suppe zu essen.

Mein Vater ist als Soldat der kaiserlichen Armee 1916, während des Ersten Weltkriegs, nach Wien gekommen. In Wien hat er meine Mutter kennengelernt, und 1920 haben sie geheiratet.

Meine Kindheit

Ich wurde am 26. Januar 1921 in Wien geboren. Wir haben in Ottakring [Anm.: 16. Bezirk], Grundsteingasse 52, gewohnt. Wenn meine Mutter mit mir im Kinderwagen ging, hing eine Schwester von ihr, sie war drei Jahre alt, an der einen Seite ihres Kleides, die andere Schwester, die sechs Jahre alt war, hing an der anderen Seite, und der Onkel, der 1914 geboren war, ist hinten gegangen, und jeder hat gesagt: ‚So eine junge Frau und so viele Kinder hat sie schon.’

Ich blieb das einzige Kind meiner Eltern. Mein Vater war ein normaler Beamter mit einem kleinen Gehalt, wovon wir aber gut gelebt haben. Er war in der Kultusgemeinde von 1925 bis zu seiner Übersiedlung nach Israel im Jahre 1952 angestellt. Er war im Währinger Tempel, in der Schopenhauergasse 39, zuständig für das Matrikelamt in Währing [18. Bezirk]. Dort war er all die Jahre angestellt. Einige Zeit hatten meine Eltern mal ein kleines Geschäft mit Eiscreme, das haben sie aber wieder aufgegeben.

Meine Mutter hatte die Matura und war sehr gebildet, sie hat auch mehrere Sprachen gesprochen. Es gibt so eine Geschichte: Meine Mutter hat, als ich beschnitten werden sollte, geträumt, sie hätte ihren heißgeliebten Vater auf der Straße getroffen. Sie hat ihn eingeladen, er muss zum Brit Mila 7 kommen. Er hat mit ihr gesprochen, er könne leider nicht kommen, er müsse mit den Toten beten, und er sagte: ‚öffne deine Hand, ich geb dir Geld!’ Und er hat ihr einige Kreuzer, das war noch das alte Geld, in die Hand gezählt. Sie hat ihre Hand geschlossen, und plötzlich ist er verschwunden. Als sie aufwachte, war sie sehr verstört. Meine Großmutter war ein sehr praktischer Mensch, sie hat gesagt: ‚Ah, Meshiggene [Anm.: Meschiggene: jiddisch für Verrückte], was hast du, ein Traum war das, nichts weiter.’ Meine Mutter hat die Kreuzer für einen Lotterieschein genommen – und, sie hat gewonnen!

Ich bin in einen Gemeindekindergarten gegangen, denn in Ottakring gab es keinen jüdischen Kindergarten. Damals ist man wirklich in die Nähe in den Kindergarten oder in die Schule gegangen, und nicht sonst wo hin. Heute würde man sagen, na gut, dann fährt man halt in den 2. Bezirk. In die Volksschule ging ich beim Schuhmeierplatz, nahe der Thaliastrasse. Die Hauptschule war in der Grundsteingasse. Meine Lieblingsfächer waren Geographie und Geschichte. Ich war in keiner jüdischen Schule, denn es gab nur ein jüdisches Gymnasium im 2. Bezirk. Ich habe zu meinen Eltern gesagt, jeder will ein Doktor oder ein Advokat werden, ich will das nicht.

Ich kann mich noch gut an die Unruhen im Sommer 1927 8 in Wien erinnern. Da war ich sechs Jahre alt. Ich war damals in Lainz [Lainz ist Teil des 13. Wiener Gemeindebezirks Hietzing] in einem Sommerferien-Kindergarten. Ein Verwandter hat diesen Kindergarten geleitet, deshalb durfte ich daran teilnehmen. Man hat uns von dort in Lastautos nach Hause gebracht, denn in den Straßen wurde geschossen. Der Justizpalast hat gebrannt.

Ich bin aufgewachsen in einem Haus mit 18 Parteien, 17 christliche Parteien, und wir waren die einzige jüdische Partei. Ich habe keine schlechten Erinnerungen an die Leute im Haus. Ich bin dort mit den Kindern aufgewachsen, wir haben zusammen gespielt, und wir gingen in dieselbe Schule. Auch meine Mutter hat sich sehr gut verstanden mit den Parteien. Oft waren alle Nachbarn mit meiner Mutter zusammen und haben Karten gespielt, da sah man nicht, das ist eine jüdische Frau und das sind christliche Menschen. So eng waren sie miteinander verbunden. Meine Mutter war sehr temperamentvoll, und sie hat sogar mit ihren christlichen Freundinnen Fasching gefeiert. Es hat sie auch nicht gestört, wenn sie die einzige Jüdin dort war. Zu Pessach 9 ist immer die beste Freundin meiner Mutter bei uns gesessen, das war die Mizzi Schöberl. Sie war keine Jüdin, ihr Vater war der Hausmeister.

Auch die Geschwister meiner Mutter sind oft zu uns gekommen. Meine Tante hatte eine schöne Stimme. Und wenn sie aus ‚Tosca’ gesungen hat, bin ich unter den Tisch gekrochen und habe geweint. Das hat man mir erzählt. Meine Mutter liebte Musik, mein Vater nicht so sehr. Mein Vater war ein sehr ruhiger und anständiger Mensch. Er war fromm, aber kein Fanatiker. Deshalb war er sehr beliebt. Er war nie extrem, immer sehr tolerant. Er hat mit allen Leuten gut gelebt. Unser Haus war immer voller Leute. Er hat meine Mutter nicht gestört. Mein Vater hat sich nie eingemischt. Alles war gut so.

Bei uns zu Hause wurde natürlich kein Weihnachten gefeiert, aber ich wurde immer eingeladen zum Weihnachtsbaum, zu den Geschenken, und in der Nacht bin ich immer mit zur Messe gegangen. Meinen Vater hat das nicht gestört. Wir hatten einen jüdischen Freund in der Familie, der war nur mit nichtjüdischen Mädchen zusammen, und die waren hochanständige Menschen. Mein Onkel hat auch eine Christin geheiratet, die zum Judentum übergetreten ist.

Als Kind in Polen hat mein Vater in einem Cheder 10 gelernt. Er hat alles gekonnt und verstanden. Er hat mich aber zu nichts gezwungen. Ich weiß nicht, warum er so tolerant war. Vielleicht, weil meine Mutter so war. Während der Schulzeit hatten wir jüdischen Kinder nachmittags zwei Mal in der Woche Religionsunterricht. Wenn die christlichen Kinder Religionsunterricht bei einem Pfarrer hatten, sind wir rausgegangen aus der Klasse, denn wir waren vom christlichen Religionsunterricht befreit, und dann sind wir in eine andere Schule gegangen. Dort hatten wir den jüdischen Religionsunterricht. Das war offiziell von der Regierung genehmigt.

Jüdische Geschichte haben wir gelernt und die Buchstaben zum Beten. Ich habe immer gern gelesen, aber wir haben nicht gewusst, was wir beten. Für mich war das so wie lateinisch oder spanisch. Ich konnte es lesen, aber ich hatte keine Ahnung, was es bedeutet. Die Israelis heute wissen genau was geschrieben steht, aber früher haben das die Leute nicht gewusst. Man hat das automatisch runter geleiert. Das hat mich gestört, dadurch hat mich die Religion nicht so interessiert.

Ich habe jeden morgen Tefillin 11 gelegt, jeden Tag in der Früh, solange ich zu Hause war. Nach der Bar Mitzwa 12 habe ich gebetet. Vorher braucht man nicht zu beten, nachher ist man dazu verpflichtet. Solange ich noch in Wien war, habe ich gebetet. Das war für mich selbstverständlich. Wir sind auch am Schabbat nicht gefahren, wir sind nur zu Fuß gegangen. In der Schule habe ich am Schabbat nicht geschrieben, ich war befreit davon. Das wurde akzeptiert. Aber das war so eine blöde Sache. Wir waren vier jüdische Burschen in der Schule. Zwei haben geschrieben, zwei, das waren die nichtreligiösen, haben nicht geschrieben. Und der Lehrer hat gefragt, wie ist das möglich? Zwei ja, und zwei nein?

Zu Hause war ein sehr religiöses Leben. Meine Eltern und ich sind regelmäßig in den Hubertempel in der Hubergasse 8 gegangen. Ich habe als Kind acht Jahre im Tempel im Chor gesungen. Im Bezirk meines Vaters waren viele arme Leute. Er hat von den Reichen Geld genommen, um den Armen etwas zu kaufen, zu Pessach Kartoffeln, Matza 13 usw. Er wollte die armen Leute nicht beschämen, niemand sollte wissen, dass sie Geschenke bekommen. Er hat die Säcke allein in die Wohnungen geschleppt. Meine Mutter und ich haben das nicht gewusst, nachher hat eine Frau meiner Mutter davon erzählt. Mein Vater hat uns nie solche Sachen erzählt. In Wien waren damals viele Leute arbeitslos. Uns vis a vis gab es ein Arbeitslosenamt. Auch Arbeitslose haben uns besucht.

Im Jahre 1934 13 waren wieder Unruhen. Das war genau eine Woche nach meiner Bar Mitzwa. Wir haben im Parterre gewohnt, da mussten wir uns auf den Boden legen, weil von der Straße reingeschossen wurde. Hinter unserem Haus war eine Kirche, das war Ecke Lerchenfelderstrasse und Kirchstetterngasse. Dort oben waren sie mit dem Militär, und von dort oben haben sie zu uns in den Hof hereingeschossen. Dadurch, dass wir mit den Christen so eng befreundet waren, hat uns eine Freundin meiner Mutter in ihre Wohnung genommen, ein, zwei Tage waren wir dann dort.

Ich bin neun Jahre in die Schule gegangen. Danach war ich zwei Jahre auf der Textilfachschule. Ich habe bei einer Textilfirma gearbeitet, das waren Tschechen, die hatten auch eine Fabrik in der Tschechoslowakei. Und ein großes en gros Geschäft in der Sterngasse 13, im 1. Bezirk. Der Filialleiter war aus dem 18. Bezirk, dadurch hat ihn mein Vater gekannt. Wir haben gefragt, ob er mich als Lehrling nehmen will, und dort habe ich zwei Jahre gelernt. Ich sollte drei Jahre Lehrling sein. Nach zwei Jahren, ich war ein guter Schüler und beliebt in der Firma, hat er mir schon das Zeugnis gegeben. Am selben Tag, als die Deutschen nach Österreich einmarschiert sind [Anm.: Samstag, 12. März 1938], habe ich mein Zeugnis bekommen. Das war Zufall. Im Juni wurden alle Juden entlassen. Die Firma ist arisiert worden.

Während des Krieges

1938 wollte mein Vater seinen Vater das erste Mal, nachdem er 1916 nach Wien gegangen war, besuchen. Koffer wurden gekauft, alles wurde vorbereitet. Ich weiß, es war ein Freitagabend, als der österreichische Bundeskanzler Schuschnigg 14 im Radio sprach, und wir erfuhren, dass Hitler in Österreich einmarschieren wird.

Die Leute in unserem Haus waren sehr anständig zu uns, sogar hochanständig! Ein Mann aus unserem Haus, der Nazi war, hat zwar mit mir nicht mehr gesprochen, aber er hat uns nie was getan. Ein anderer, der Nazi war, seine Frau war eine gute Freundin meiner Mutter, ist mit mir sogar illegal Stiefel kaufen gegangen. Als Jude durfte ich das nach dem Einmarsch der Deutschen nicht. Da ist er mit mir zusammen gegangen, um mich zu schützen. Dann war ein SS Mann bei uns im Haus, seine Mutter war bei uns die Wäscherin. Meine Mutter hatte sich ihr gegenüber immer so benommen, als wäre eine Freundin zu Gast. Sie hat auch mit uns zusammen zu Mittag gegessen. Meine Mutter war nicht klassenbewusst, und das haben die Leute verstanden. Als am 9. November 1938 das Pogrom 15 war, ist dieser SS Mann auf der Straße gestanden und hat gesagt: ‚Hier wohnen keine Juden’, dadurch waren wir in dem Moment geschützt.

Die Kultusgemeinde hat viele Leute als Ordner gebraucht. Viele Juden waren arbeitslos. Man hat doch alle entlassen, man hat ihnen die Geschäfte weggenommen und sie aus den Wohnungen vertrieben. Manche Leute hatten nicht einmal mehr was zu Essen.
In der Kultusgemeinde, im 1. Bezirk, gab es eine Ausspeisung, da sind sehr viele Leute gekommen. Und dann sind Leute gekommen, die nicht gewusst habe, was sie machen sollen. Die haben Hilfe für die Auswanderung bekommen. Die Leute haben kein Geld gehabt. Wenn jemand ein Visum für irgendwo hatte, hat die Kultusgemeinde ihm Geld vorgestreckt. Die Leute standen die ganze Nacht, um Geld zu bekommen. Ich habe dort freiwillig gearbeitet, ich habe das gesehen. Damals haben die Deutschen das Palais Rothschild in der Prinz-Eugen Strasse okkupiert. Das wurde die Zentralstelle für jüdische Auswanderung, weil sie ein wirkliches Interesse daran hatten, dass die Juden auswandern sollten. Sie haben viel gemacht, um den Leuten die Auswanderung zu geben, damit sie sich ordentlich bereichern konnten, denn mitnehmen durfte man nur wenig, außerdem hatten die meisten sowieso fast nichts oder gar nichts mehr. 

In der Pogromnacht 15 vom 9. zum 10. November 1938 bin ich zur Arbeit gegangen. Ich war ahnungslos. Die Seitenstettengasse [Anm.: Gasse, in der sich die Kultusgemeinde und der Wiener Stadttempel befindet] ist eine kurze Gasse. Sie war leer, aber am Anfang der Straße standen zwei Kriminalbeamte.
Ich hatte noch einen Burschen in der Straßenbahn getroffen. Ein Kriminalbeamter fragte uns: ‚Was wollt ihr hier?’ Wir sagten:
‚Wir arbeiten hier.’
Man stieß uns in ein Zimmer und sagte uns, wir sollten warten.
Nachher sind wir dort gesessen, es kamen die ganzen Beamten, jeder, der dort was zu tun hatte, und um drei Uhr brachte man uns in einen Saal, in dem Eichmann 16 saß.
Eichmann sagte:
’Meine Herrschaften’, er sprach das nicht beleidigend aus, sondern sehr zuvorkommend, sehr höflich.‚Ihr seid hier, um den Leuten beim Auswandern zu helfen. Wir wollen, dass die Juden auswandern, mehr nicht. Für den Fall, dass ihr belästigt werdet bei eurer Arbeit, gebe ich euch meine private Telefonnummer.’ Das war wirklich Adolf Eichmann!
Ich bin nach Hause gegangen, saß noch im Mantel, da kamen zwei SA Männer, die wollten meinen Vater mitnehmen. Mein Vater war krank. Mein Vater hatte einen Zettel von einem christlichen Doktor, dass er krank ist.
Sie fragten mich, wer ich sei. Sagte ich:
‚Ich bin der Sohn.’
Sie nehmen mich mit. Meine Mutter sagte ihnen, dass ich einen Zettel von Eichmann habe.
Aber sie nahmen mich trotzdem mit. Lizzi Schöberl, die Freundin meiner Mutter, hat sofort den Zettel genommen und hat mit dem Büro von Eichmann telefoniert.

Die SA Männer haben mich in die Hubergasse, im 16. Bezirk, mitgenommen. Dort war eine der Polizeistationen. Viele Menschen waren dort. Nach einiger Zeit hat man uns in die Karajangasse [Anm.: 20. Wiener Gemeindebezirk] geführt. In der Karajangasse 14 war eine Schule. Dort war es wie in einem KZ. Hunderte Menschen waren in den Turnsälen gefangen. Es war sehr gedrängt, es war sehr unangenehm. Die Leute wurden geschlagen. Ich habe einen meiner Onkel dort getroffen. Der hatte blau geschlagene Augen. Dann sind die Deutschen weg, und die österreichische Polizei ist gekommen. Die haben sofort Platz gemacht, noch Säle geöffnet, und es ist leichter geworden. Ein Beamten hat mit meinem Onkel gesprochen, und dieser Beamte ist zu meinem Onkel nach Hause gegangen, und hat ihm Essen geholt.
Gegen zwei Uhr in der Nacht, haben sie begonnen, fremde Staatsbürger aufzurufen, die konnten gehen. Dann alle Leute über 65 Jahre, dann alle unter 18 Jahren.
Ich war unter 18 Jahre. Ich wollte aber nicht gehen ohne meinen Onkel, aber mein Onkel schickte mich weg.

Ich hatte Angst herauszugehen, es war zwei Uhr in der Früh. Wir waren vier oder fünf Burschen, die hinaus durften. Wir hatten Angst, dass man uns vielleicht erschießt.
Gewohnt habe ich in Ottakring, nun war ich im 20. Bezirk. Das ist eine große Entfernung.
Heute ist in dieser Schule in der Karajangasse, in der wir gefangen waren, eine ständige Ausstellung über diese Zeit. Ich habe die Ausstellung gesehen.
Wir sind hinausgegangen, und dort stand ein Taxi.
Der Taxifahrer fragte uns: ‚Ihr kommt von der Polizei?’
Sagten wir: ‚Ja.’
Sagte er: ‚ Wollt ihr nach Hause fahren?’
Sagten wir: ‚Ja, aber wir haben kein Geld, man hat uns alles weggenommen.’
Sagte er: ‚Kommt, ich fahr euch nach Hause.’
Er hat jeden nach Hause geführt, ich war der letzte, weil Ottakring weit draußen liegt. Als er anhielt, sagte ich zu ihm:
’Warten Sie, ich werde bei meinen Eltern anklopfen und Geld holen.’ Da antwortete er:
‚Ich will von euch kein Geld’, und er fuhr weg.
Es gab auch solche Menschen.

Ich habe dann meinen Eltern gesagt: ‚Hier bleibe ich nicht!’ Am 19. November 1938 bin ich weggefahren. Damals hatte ich gespartes Geld. Der 19. November war ein Samstag. Alle Nachbarn, das Haus, in dem wir wohnten, war ein großes Haus, denn es war ein ehemaliges Landwirtschaftshaus mit einer großen Einfahrt für die Wagen mit dem Heu, standen im Spalier und haben geweint: unser Fritz muss wegfahren! Solche Nachbarn habe ich gehabt.

Ich bin von der Reichsbrücke in Wien auf ein Schiff gegangen. Dort standen Gestapo-Beamte. Es war unter der Aufsicht der Gestapo, sonst konnte man nicht hinaus fahren. Wir sind dort bis Mittwoch gestanden, weil man Leute aus dem KZ Dachau gebracht hat, die durch ein Einreisevisum nach Palästina entlassen worden waren. Dann sind wir auf der Donau bis nach Rumänien gefahren. Dort gingen wir auf ein anderes Schiff und waren einen ganzen Monat unterwegs. Ich wurde sehr krank. Zu Essen hatten wir verschimmeltes Brot. Tee haben wir getrunken und Meerwasser. Ältere Menschen haben sich noch an religiöse Dinge gehalten, aber ich war ein junger Bursche unter 18 Jahre. Aber für mich auf einem Schiff, ohne Essen, waren andere Dinge als Religion wichtig.

Die Wahrheit ist, wenn die Welt offen gewesen wäre, das ganze Judentum hätte gerettet werden können. Nur: die ganze Welt war verschlossen. Ich bin böse auf die Welt, weil sie das zugelassen haben.

Der Wohnungsinhaber unserer Wohnung in Wien war Professor an der Universität. Er ist persönlich zu meinen Eltern gekommen, um sich zu entschuldigen, dass er meine Eltern aus der Wohnung werfen muss, weil er den Befehl dazu bekommen hatte. Wir hatten diesen Mann all die Jahre nicht gekannt.

Meine Eltern mussten in eine Wohnung in der Seitenstettengasse ziehen, weil mein Vater Beamter der Kultusgemeinde war. Es war eines der Häuser, die der Kultusgemeinde gehören.

Mein Vater war damals für die Verpflegung der jüdischen Gemeinde in Wien verantwortlich. Die Juden in Wien haben damals keine Lebensmittelkarten bekommen. Das weiß ich durchs Erzählen.
Es waren Juden und Halbjuden [Anm.: Begriff der Nürnberger Rassegesetze; (jüdischer Mischling mit zwei volljüdischen Großeltern)], es waren Mischehen [Anm.: Christlich-jüdische Ehegemeinschaften], denen erlaubt war, unter verschiedenen Bedingungen weiter in Wien zu leben. Sie mussten den gelben Stern [Anm.: Im ‚Deutschen Rech’ ab 1. September 1941] tragen und für Kriegsinteressen arbeiten. Sie besaßen keine bürgerlichen Rechte mehr, nur die Kultusgemeinde hat ihnen Rechte gegeben. Vor dem Krieg gab es in Wien viele Synagogen und Bethäuser, es gab jüdische Schulen,  Kindergärten und ein jüdisches  Spital. Das Rothschild - Spital gab es auch. Und es gab das jüdische Altersheim in der Seegasse [Anm.: 9. Wiener Gemeindebezirk]. Allmählich aber verschwanden die meisten dieser Einrichtungen und ihre Bewohner auch.

Eine Tochter meiner Großmutter, das war die Tante Rosa, lebte in Amerika. Meine Tante Rosa hatte in den 1920er Jahren einen amerikanischen Touristen kennen, er hieß Morris Vogel. Anfang der 1930ger Jahre zog sie mit ihm in die USA. Sie hat ihrer Mutter, meiner Großmutter Pesie, alle Papiere für eine Einreise geschickt. Aber meine Großmutter hatte keinen Pass, weil sie vergessen hatte, nach dem Ersten Weltkrieg für Österreich oder für Polen zu optieren. So ging es vielen. Die polnische Regierung hatte alle polnischen Juden, die in Wien gelebt haben, ausgebürgert. Das hatten viele ehemalige polnische Juden nicht mitbekommen.
Vor der polnischen Gesandtschaft standen die Leute nach der Pogromnacht im November 1938 die ganze Nacht, und wenn sie hereinkamen, wurden sie gefragt: ‚Wann waren Sie das letzte Mal in Polen?’
Meine Großmutter antwortete: ‚Vor dem Ersten Weltkrieg.’
‚Haben Sie Steuern in Polen gezahlt?’
‚Nein’, sagte meine Großmutter.
‚Dann sind Sie keine polnische Bürgerin mehr.’
Man hatte sie ausgebürgert, sie waren staatenlos. Das ist, wie gesagt, nicht nur meiner Großmutter passiert. Die Amerikaner haben ihr das Visum gegeben. Ein Sohn ist mit ihr ins Auswanderungsamt gegangen, und die Deutschen haben gesagt: wir geben ihnen gerne einen Nansenpass. Damals hat es Pässe für einmalige Reisen gegeben, die hießen Nansenpässe. Das waren Pässe vom Völkerbund.
Die Deutschen haben gesagt:
‚Bringen sie uns das Visum von den Amerikanern, dann geben wir ihnen so einen Pass.’
Die Amerikaner aber haben gesagt: ‚Wenn Sie keinen Pass bringen, können wir kein Visum ausstellen.’ Ein Stückl Papier geben und darauf schreiben: Frau Feder hat eine Visum..., das haben sie nicht wollen, die Amerikaner. Und dadurch ist meine Großmutter nach Theresienstadt deportiert worden. Sie musste aus ihrer Wohnung, hat zuerst mit meinen Eltern zusammen in Ottakring, dann in der Seitenstettengasse, gewohnt. Und dann hat man sie nach Theresienstadt geschickt [Anm.: letzte Wohnadresse: 2. Bezirk, Hollandstraße 12. Pesie Feder wurde am 20. August 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert und von Theresienstadt am 26. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka, wo sie ermordet wurde. DÖW Opferdatenbank].

Meine Mutter hat mir über den Rabbiner Murmelstein 17 erzählt. Er war damals verantwortlich für alle Sachen. Er soll schrecklich gewesen sein. Sie sagte, sie hat sich vor ihm niedergekniet, ihm die Schuhe geküsst, er soll ihre Mutter bei ihr lassen. Es hat nichts geholfen.

Meine Mutter hat mir auch erzählt, dass in den Transporten viele alte Leute aus dem  Altersheim in der Seegasse waren. Sie hat für die alten Leute gebacken, und ein Mann hat die Pakete zum Bahnhof gebracht. Alois Brunner 18 hatte dort die Aufsicht. Er hat den Wagen mit den Paketen aufgehalten. Er fragte was in den Paketen sei.
Der Mann antwortete, dass die Pakete für die alten Leute sind. Brunner wollte wissen, von wem die Pakete seien. Er antwortete, dass sie von meiner Mutter seien.
‚Sofort bringen Sie die Frau Seliger zum Transport,’ befahl Brunner.
Der Mann lief schnell zum Telefon:
‚Verstecken Sie sich,’ warnte er meine Mutter. Dadurch hat er ihr Leben gerettet. Der Brunner hat dieses Ereignis dann vergessen.
Meine Eltern haben viele Pakete nach Theresienstadt geschickt. Sie haben Postkarten aus Theresienstadt von den Leuten bekommen, die sich bedankt haben und glücklich waren über den Inhalt der Pakete und dass meine Eltern sie nicht vergessen hatten.

Im Jahre 1944 hat man 10. 000 ungarische Juden nach Wien gebracht. Die haben hier gearbeitet, Wien vom Schutt der Bombardierungen gesäubert. Für diese Leute war mein Vater auch verantwortlich. Fast alle wurden dann deportiert und ermordet. Mein Vater hat gesagt, ich kann das nie vergessen: Ich werde Hitler überleben! Woher hat er die Sicherheit genommen? Er hat an den Herrgott geglaubt, und es ist ihm gelungen zu überleben.

Mein Vater hat mir erzählt, wie das damals war. Der Herr Löwenherz 19 hat ihn gerufen und hat ihm gesagt:
‚Herr Seliger, tut mir sehr leid, von heute an gehören Sie nicht mehr zur Kultusgemeinde, Sie gehören zum Sonderkommando.’ So hat das geheißen.
Das Lebensmittelmagazin befand sich in der Großen Pfarrgasse. Eines Tages, es war Samstag, klopfte jemand an die Tür. Hereingekommen ist ein SS Mann, der zu meinem Vater sagte: ‚Ich suche den Herrn Seliger.’ Sagte mein Vater:
‚Das bin ich.’ Meine Mutter war auch da, und der Mann sagte:
‚Warum ist es hier so finster?’ Sagte mein Vater:
‚Ich bin religiös, ich drehe das Licht am Samstag nicht auf.’ Der SS Mann sagte:
‚Wo ist der Schalter, dann mach ich das Licht an.’
Es entstand ein Einvernehmen. Der Mann war ein anständiger Mensch, er sagte zu meinem Vater:
‚Was Sie machen, interessiert mich nicht. Wichtig ist, dass nichts fehlt; keine ’schwarzen Geschäfte’. Und so war es, das war das Verhältnis zwischen ihnen. Jede Flasche Öl war ein Vermögen wert.

Der SS-Mann war kein überzeugter Nazi. Vor dem Krieg war er Kriminalbeamter im Sudetengebiet. Alle Berufspolizisten hat man in die SS gezwungen. Ich habe einen Brief, in dem steht, dass er 600 Juden das Leben gerettet hat. Diesen Brief haben ungarische Juden nach dem Krieg an meine Eltern geschrieben. Sie bedankten sich bei ihnen für die große Hilfe, ohne die sie nicht überlebt hätten und erzählen, dass Knoll, so hieß der SS Mann, in den letzten Tagen des Krieges 600 Juden gerettet hatte. Meine Mutter hat erzählt, als die Russen schon in Wien waren, meine Eltern gehörten zu den wenigen Juden, die wegen der Arbeit meines Vaters ein Telefon hatten, klingelte es in der Früh und der Knoll sagte:
‚Frau Seliger, wo ist Ihr Mann?’ Meine Mutter sagte:
‚Es wird geschossen, mein Mann ist das Magazin bewachen gegangen.’ Da sagte er:
‚Ich wollte mich verabschieden, lassen Sie ihn schön grüßen, Gott schütze Sie!’

Die letzten Tage versteckten sich meine Eltern mit anderen Menschen in den unterirdischen Kanälen Wiens, denn auf den Strassen wurde geschossen. Meine Mutter sagte, sie hätte damals in den zehn Tagen zehn Kilo abgenommen. Als sie raus kamen, waren die Russen da. Die Russen wollten sie sofort erschießen. Sie haben natürlich nicht gewusst, wer meine Eltern sind. Meine Mutter konnte russisch sprechen und rief:
‚Wir sind Juden!’
Da hat man sie gelassen. Dann sind meine Eltern nach Ottakring zur Mizzi, der Freundin meiner Mutter, gegangen, wo wir mal gewohnt hatten. Da blieben sie, bis sich die Situation beruhigt hatte. Mein Vater ging dann wieder in die Kultusgemeinde.

Ich hatte Glück! Nachbarn aus Ottakring  lebten in Tel Aviv.  Das waren Juden, die 1934 ausgewandert waren. Bei ihnen konnte ich eine Zeit lang bleiben. Dann hatte ich meine Tante Mali, die Schwester meiner Mutter, mit ihrer Familie in Haifa. Dadurch ging ich nach Haifa.

Fast sechs Jahre diente ich im englischen Militär, dann im jüdischen Militär.

Im September 1944 bekam ich eine sehr schwere Ohrenentzündung. Ich war drei Monate im Spital. Damals gab es noch kein Penicillin. Die Ärzte glaubten, dass ich nicht überlebe. Ich hatte hohes Fieber, und man konnte mich nicht operieren. Doch plötzlich ist das Fieber runter gegangen, da wurde ich sofort operiert. Durch die Operation hatte ich ein Loch im Rücken, bis heute kann man es noch sehen. In der britischen Armee gab es ein Gesetz, wenn jemand mehr als 21 Tage nicht in seiner Einheit war, dann musste er ins Zentraldepot. Ich war bei der Royal Artillery. Das Zentraldepot war in Ägypten, ich blieb ein halbes Jahr in Ägypten.
Eines Tages wurde ich neu ausgestattet. Ich war der einzige Israeli dort, auf meiner Schulter stand ‚Palestine’, denn Israel gab es noch nicht. Ich musste zur Ehrenparade für den König Faruq, der von 1936 bis 1952 König von Ägypten war.

Nach dem Krieg

Ich wollte nach Europa, aber man schickte mich zurück nach Haifa in eine andere Einheit. Ich war noch eineinhalb Jahre in dieser Einheit. Insgesamt war ich fünf Jahre und neun Monate in der britischen Armee.

Dann arbeitete ich, wie viele andere, in der Landwirtschaft, am Straßenbau und andere Sachen. In den letzten Jahren habe ich in einer großen Firma als Prokurist gearbeitet.

Meine Frau war eine geborene Israelin und hieß Jochewet Nikrasowski. Ich war 24 Jahre alt, als wir heirateten. Meine Frau wurde am 9. August 1929 in Tel Aviv geboren. Sie starb 2000 in Ramat Gan.

Wir haben zehn Jahre in Beit Lechem Hagilit im Norden von Israel gelebt, das war ein Moschaw, in dem Templer gelebt hatten. Templer waren Mitglieder der deutschen Tempelgesellschaft, einer christlichen Religionsgemeinschaft, die sich im 19. Jahrhundert in Palästina niedergelassen hatten. Sehr viele von ihnen waren begeisterte Nationalsozialisten, sie wurden nach Beginn des Krieges interniert und nach dem Krieg nach Australien umgesiedelt.

Als der jüdische Staat gegründet wurde, wurde ich in Beit Lechem Hagalit ansässig. Dort habe ich auch einen Teil meines Berufslebens verbracht.

Meine Eltern sind im Jahre 1951 nach Israel auf Besuch gekommen. Dann, 1952, ist meine Mutter, danach mein Vater nach Israel übersiedelt. Alle Frauen meiner Familie waren gute Köchinnen. Sie waren jüdische Hausfrauen, sie haben gekocht und gebacken. Meine Tante Regina und ich hatten ein Restaurant und eine Pension in Zichron Yaakov aufgemacht, in der Absicht, wenn meine Eltern kommen, übernehmen sie das Restaurant und die Pension und ich arbeite etwas anderes. So war es auch. Meine Tante und ich haben etwas geschaffen, das hat ein paar gute Jahre gehalten. Mein Vater aber hat die Übersiedlung nach Israel nachher sehr bedauert. Er hatte von Anfang an nicht nach Israel gewollt. Er war fest verwurzelt in Wien, hatte Jahrzehnte für die jüdische Gemeinde gearbeitet, hatte die schwerste Zeit in Wien überlebt, und er hat dann meine Mutter schwer beschuldigt und gesagt:
‚Das hier ist kein Land für Juden. Alles ist falsch, alles ist ungerecht.’ Er hat sich nicht gut gefühlt in Israel.
Nur meinetwegen waren meine Eltern nach Israel gekommen. Sie hatten mir 1946 vorgeschlagen, nach Wien zurück zu kommen. Sie hatten für mich die Erlaubnis von den vier Besatzungsmächten in Wien für meine Einreise nach Wien bekommen. Aber ich wollte nicht fahren, damals war ich schon Zionist. Ich habe einen Brief geschrieben, den Brief hat man damals in der Zeitung veröffentlicht, ein zionistischer Brief ist das gewesen. Ich bedauere das heute. Ich glaube, in Wien hätte ich mehr Möglichkeiten gehabt, mich zu entwickeln als in Israel, und ich hätte auch keine fünf Kriege mitmachen müssen.

1954 ist mein Vater gestorben, er war noch keine 58 Jahre alt. Meine Mutter hat nach zehn Jahren noch einmal geheiratet, einen ungarischen Juden namens Awram Weißkopf. Auch er war ein sehr religiöser Mensch. Er war der Mashgiach auf dem Schiff Shalom. Das war ein großes jüdisches Passagierschiff. Mit ihm gemeinsam hat meine Mutter dann die Pension betreut. Sie haben sich gut verstanden, dann ist auch er gestorben, und meine Mutter ist zu ihrer Schwägerin nach Pardess Chana gezogen. Sie war die Schwester meines Vaters. Dann ist meine Mutter in ein Altersheim, auch in Pardess Chana, gegangen. Die letzten Jahre war sie sehr krank, 1978 ist sie gestorben.

Meine Frau und ich haben drei Kinder. Mein Sohn Pinchas Seliger wurde am 5. Januar 1950 in Tel Aviv geboren, er hebräisierte vor vielen Jahren seinen Namen in Pinchas Maor. Pinchas hatte mit seiner ersten Frau Lea einen Sohn. Er heißt Gay und lebt in Norwegen. Mit seiner zweiten Frau Ronit, die Lehrerin ist und in einem Kibbutz lebt, hatte Pinchas drei Kinder: Moran, sie lebt in Tel Aviv und ist Rechtsanwältin, Edan lebt und arbeitet in Afrika, in Nigeria, und Dorian war beim Militär und lebt jetzt bei seiner Mutter im Kibbutz. Pinchas war Manager in einer Fabrik, die Aircondition herstellt. Er starb 2004 an Krebs.

Mein Sohn Arnon Seliger wurde am 1. März 1953 in Zichron Yaakov geboren. Er ist mit Nechama verheiratet. Sie haben zwei Kinder, Sharon und Itai. Sharon ist mit Ejal verheiratet und hat auch zwei Kinder, Itai studiert noch. Arnon war lange Zeit beim Militär bei der Airforce tätig. Er wurde nach vielen Jahren am Bein verletzt und arbeitet jetzt als Manager in einem Einkaufcenter. Arnon lebt mit seiner Familie in Rosh Haaim, nahe Tel Aviv.

Meine Tochter Ajala wurde 1955 in Bethlehem geboren. Sie ist mit Meni Silberstein verheiratet. Ajala ist Bankdirektorin, Meni ist Computerfachmann. Sie haben zwei Töchter, Li und Gal. Li ist Architektin, Gal studiert. Ajala und ihr Mann leben in Or Yehuda, in der Nähe von Netanya.

Ich habe acht Enkelkinder.

Ich kann wegen meiner Kinder nicht nach Wien zurück. Man hat mir erklärt, wenn ich in Wien wohnen würde, würde ich die doppelte Pension bekommen. Aber ich kann meine Kinder nicht allein lassen. Ich habe sehr gute Kinder, meine Tochter telefoniert, wenn ich zu Hause bin, zwei mal am Tag mit mir.

Ich komme jedes Jahr nach Wien. Die Mizzi Schöberl ist gestorben. Ich habe sie noch lebend gesehen, als ich das erste Mal in Wien war. Sie war damals sehr krank, sie hatte Krebs. Sie hatte niemanden mehr, aber früher hatte sie viele Freunde. Und dann ist sie gestorben. Mit Helga, der Enkeltochter von der Mizzi Schöberl, die in Wien die beste Freundin meiner Mutter war, bin ich gut bekannt. Mit ihrer Mutter war ich im selben Alter, wir sind im selben Hof aufgewachsen.

Ich war dort, das Haus existiert nicht mehr. Dort wurde eine Schule gebaut. Es waren drei Häuser, von demselben Hausbesitzer, die hat man alle niedergerissen.

Ich war im Januar 2002 in Australien. Dort hatte ich auch meinen Onkel Izu aus Wien, der ist bereits gestorben.

Vor vielen Jahren war ich mit meiner Frau in Bad Tatzmannsdorf. Dort habe ich einen Regierungsrat kennengelernt. Wir sind gute Freunde geworden. Er ist mit mir nach Rechnitz gefahren. Er hat mir erzählt, dass es dort einen Gedenkstein für die ermordeten Juden gibt. Die SS hatte tausende Juden von Ungarn nach Österreich getrieben [Anm.: Am 24. März 1945 wurden 600 ungarische Juden von Güns in Ungarn per Bahn nach Burg (Burgenland) transportiert, wo sie beim ‚Südostwallbau’ als Zwangsarbeiter eingesetzt werden sollten. 200 der deportierten, völlig erschöpften Menschen wurden jedoch wieder zum Bahnhof Rechnitz rückgeleitet, da sie für den Arbeitseinsatz teils zu krank, teils körperlich zu stark geschwächt waren. In der Nacht darauf wurden rund 180 dieser Juden von Teilnehmern des im Schloß Bátthyány abgehaltenen Kameradschaftsfestes beim sogenannten Kreuzstadel in Rechnitz ermordet]  Die sind am Abend dort angekommen und man hat sie in eine Scheune geführt. Die SS Leute waren bei einer Baronin eingeladen und sie hat gesagt, wozu wollt ihr die Juden weiterführen, die werden sowieso umgebracht, bringt sie hier um. Alle wurden erschossen. Bis heute will niemand sagen, wo die Juden verscharrt wurden.

Ich liebe die Operetten von Franz Lehár [Anm.: österreichischer Komponist ungarischer Herkunft]. Wenn ich bestimmte Arien höre, läuft es mir kalt den Rücken herunter. Ich liebe Musik. Ich war bei einem Aufenthalt in Wien in der Slowakei und habe dort ‚Die Czardas Fürstin’ gesehen.

Ich lebe hauptsächlich mit meiner Familie. Freunde findet man, wenn man jung ist. Später ist es schwer, sich mit Leuten zu verbinden. Ich habe für meine Kinder organisiert, dass sie die österreichische Staatsbürgerschaft haben können. Früher ist das nicht so einfach gewesen. Die Österreicher hatten mich doch ausgebürgert damals. 1948, wenn man die israelische Saatbürgerschaft nicht abgelehnt hat, ist man automatisch Israeli geworden. Dadurch habe ich die österreichische Staatsbürgerschaft verloren. Ich habe 1993 die österreichische Staatsbürgerschaft zurückbekommen. Ich bin zum Magistrat in Wien gegangen und wollte für meine Frau auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Die sagten mir, dass meine Frau erst in zehn Jahren die Staatsbürgerschaft erhalten kann, weil sie nie österreichische Bürgerin vorher war. Da habe ich ihnen gezeigt, dass das nicht wahr ist. Ich habe 1947 geheiratet, damals war ich noch österreichischer Bürger, es gab noch keine israelische Staatsbürgerschaft. Dadurch war meine Frau auch österreichische Staatsbürgerin.
Meine Frau war ein Jahr lang österreichische Staatsbürgerin, aber sie wusste es nicht. Trotzdem sollte meine Frau zehn Jahre warten. Wir wollten warten, aber meine Frau ist zu früh gestorben.

Meine Kinder beeilen sich nicht mit der österreichischen Staatsbürgerschaft. Ich sage ihnen ständig: holt euch die Staatsbürgerschaft, es ist alles in Ordnung. Meine Tochter sagt: was willst du, soll ich nach Österreich ziehen, soll ich in Wien wohnen? Ich will nicht! Aber ich sage: weißt du, das ist gut für schlechte Zeiten. Wer weiß, was bei uns passieren kann.

Glossar

1 Hitler-Stalinpakt

Als Hitler-Stalin-Pakt bezeichnet man den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der am 23. August 1939 in Moskau von dem deutschen Außenminister von Ribbentrop und dem sowjetischen Außenminister Molotow unterzeichnet wurde. In einem geheimen Zusatzprotokoll legten die Länder die Aufteilung Nordost- und Südeuropas fest, sofern es zu einer ‚territorialen Umgestaltung‘ kommen sollte. Im Zentrum stand die Teilung Polens.

2 Kladovo-Transport

Der vom ‚Mossad le Alija Bet’ im November 1939 organisierte Transport auf Donauschiffen war, das wussten die etwa tausend Flüchtlinge, illegal. Sie kamen bis an die rumänische Grenze, bis in den kleinen Donauhafen Kladovo. Dann brauchte man die Schiffe für Wichtigeres, und die Flüchtlinge wurden auf Kohlenschleppern donauaufwärts zurückgeschickt. Im Frühjahr 1941 fielen sie in Šabac in die Hände der Deutschen, vor denen sie seit achtzehn Monaten auf der Flucht waren. Anfang 1942 wurden bis auf zweihundert Jugendliche alle ermordet.

3 Theresienstadt [Terezin]

Ende des 18. Jahrhunderts gegründete Garnisonsstadt in der heutigen Tschechischen Republik, die während der Zeit des Nationalsozialismus zum Ghetto umfunktioniert wurde. In Theresienstadt waren 140.000 Juden interniert, die meisten aus dem Protektorat Böhmen und Mähren, aber auch aus Mittel- und Westeuropa. Nur etwa 19,000 der Menschen, die in Theresienstadt waren, überlebten.

4 Pejes od

Peies [hebr: Peot]: die jiddische Bezeichnung für die von frommen Juden getragenen Schläfenlocken. Das Tragen des Bartes und der Schläfenlocken geht auf das biblische Verbot zurück, das Gesicht mit scharfen und schneidenden Gegenständen zu berühren.

5 Schabbat [hebr

: Ruhepause]: der siebente Wochentag, der von Gott geheiligt ist, erinnert an das Ruhen Gottes am siebenten Tag der Schöpfungswoche. Am Schabbat ist jegliche Arbeit verboten. Er soll dem Gottesfürchtigen dazu dienen, Zeit mit Gott zu verbringen.
Der Schabbat beginnt am Freitagabend und endet am Samstagabend.

6 Koscher [hebr

: rein, tauglich]: den jüdischen Speisegesetzen entsprechend.

7 Brit Mila [auch

Berit Mila, Mila; hebräisch Berith: Bund, Mila: Beschneidung] ist die partielle Entfernung der Vorhaut des männlichen Glieds und wird im Judentum als Eintritt in den Bund mit Gott angesehen. Die Brit Mila findet am achten Lebenstag des Knaben statt.

8 Der Brand des Wiener Justizpalastes 1927, auch die Julirevolte in Wien genannt, begann am 15

Juli 1927 als Unmutsäußerung gegen ein als skandalös empfundenes Urteil eines Geschworenengerichts und endete mit Polizeischüssen in die demonstrierende und das Justizgebäude angreifende Menge. Es gab 89 Todesopfer unter den Demonstranten und fünf auf Seiten der Polizei; dazu hunderte Verletzte auf beiden Seiten.

9 Pessach

Feiertag am 1. Frühlingsvollmond, zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, auch als Fest der ungesäuerten Brote [Mazza] bezeichnet.

10 Cheder [hebr

Zimmer]: die Bezeichnung für die traditionellen Schulen, wie sie bis Beginn des 20. Jahrhunderts im osteuropäischen Schtetl üblich waren. Der Unterricht fand im Haus des Lehrers statt, der von der jüdischen Gemeinde bzw. einer Gruppe von Eltern finanziert wurde, und war in der Regel nur Jungen zugänglich. Der Unterricht fand in kleinen Gruppen mit Jungen verschiedener Altersgruppen statt.

11 Tefillin

lederne ‚Gebetskapseln‘, die im jüdischen Gebet an der Stirn und am linken Arm getragen werden und Texte aus der Torah enthalten.

12 Bar Mitzwa

[od. Bar Mizwa; aramäisch: Sohn des Gebots], ist die Bezeichnung einerseits für den religionsmündigen jüdischen Jugendlichen, andererseits für den Tag, an dem er diese Religionsmündigkeit erwirbt, und die oft damit verbundene Feier. Bei diesem Ritus wird der Junge in die Gemeinde aufgenommen.

13 Matza [hebr

‏מצה‎, matzá; dt. Matze; Plural hebr. ‏מצות‎, matzót; dt. Matzen - auch jiddisch ‏מצה‎, mátze; dt. Matze; Plural jiddisch ‏מצות‎, mátzes; dt. Matzen], auch ungesäuertes Brot genannt, ist ein dünner Brotfladen, der von religiösen und traditionsverbundenen Juden während des Pessachfestes gegessen wird. Matze wird aus Wasser und einer der fünf Getreidearten Weizen, Roggen, Gerste, Hafer oder Dinkel ohne Triebmittel gefertigt.

14 Schuschnigg, Kurt [1897 – 1977]

österreichischer christlichsozialer Politiker. Er folgte 1934 dem von Nationalsozialisten ermordeten Dollfuß als Bundeskanzler. Er versuchte, Österreich zum ‚besseren deutschen Staat‘, als es das Deutsche Reich war, zu machen.
Am 9. März 1938 setzte er für den 13. März eine Volksabstimmung über den Erhalt der Eigenstaatlichkeit Österreichs an. Am 11. März 1938 trat er unter dem Druck Nazideutschlands zurück. Nach dem Anschluß wurde Schuschnigg inhaftiert und blieb bis Ende des Zweiten Weltkrieges in Haft. 1948 wanderte er in die USA aus und war bis 1967 Professor für Staatsrecht an der Universität St. Louis/Missouri.

15 Pogrom, Novemberpogrom

Bezeichnung für das [von Goebbels organisierte] ‚spontane‘ deutschlandweite Pogrom der Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Im Laufe der ,Kristallnacht’ wurden 91 Juden ermordet, fast alle Synagogen sowie über 7000 jüdische Geschäfte im Deutschen Reich zerstört und geplündert, Juden in ihren Wohnungen überfallen, gedemütigt, verhaftet und ermordet.

16 Eichmann, Otto Adolf [1906-1962]

SS-Obersturmbannführer, organisierte die Vertreibung und Deportation der Juden aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten. Nach dem Anschluss im Jahre 1938 baute er in Wien die Zentralstelle für jüdische Auswanderung auf, welche die zwangsweise Ausreise der jüdischen Bevölkerung aus Österreich betrieb. Ab 1941 war Eichmann für die Organisation der Deportation der Juden aus Deutschland und den besetzen europäischen Ländern zuständig und mitverantwortlich für die Ermordung von sechs Millionen Juden. 1960 wurde Eichmann von Mossad-Agenten in Argentinien gefasst und nach Israel gebracht, wo er wegen Verbrechen gegen das jüdische Volk vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet werde.

17 Murmelstein, Benjamin [Lemberg, 1905- Rom, 1989] war ein österreichischer Rabbiner, Gelehrter, Mitglied des Judenrats in der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, sowie letzter ‚Judenältester’ im Ghetto Theresienstadt

Murmelstein war als Judenältester bemüht, durch Kooperation mit den Nationalsozialisten möglichst viele der internierten Juden zu retten. Er gilt bis heute als ambivalente Persönlichkeit, da es bis in die heutige Zeit umstritten bleibt, inwieweit er mit den Nationalsozialisten kollaborierte beziehungsweise kooperieren musste.

18 Brunner, Alois

ehemaliger SS-Hauptsturmführer und einer der wichtigsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns bei der Realisierung der „Endlösung der Judenfrage“. Als Leiter des SS-Sonderkommandos war Brunner zwischen 1939 und 1945 mitverantwortlich für die Deportation von weit über 100.000 Juden aus Wien, Berlin, Griechenland, Frankreich und der Slowakei in die KZs und Vernichtungslager des Dritten Reiches.Nach dem 2. Weltkrieg flüchtete Brunner nach Syrien, dessen Regierung seinen Aufenthalt stets dementierte. Von französischen Militärgerichten wurde er 1954 in Abwesenheit zweimal zum Tode verurteilt. 2001 wurde er in Frankreich nochmals zu lebenslänglichem Gefängnis verurteilt, und 2007 wurden in Österreich für Hinweise zu seiner Ausforschung und Ergreifung 50.000 Euro Belohnung ausgesetzt.

19 Löwenherz, Josef [1884 – New York, 1960] war Rechtsanwalt und Amtsdirektor der Israelitische Kultusgemeinde Wien während der Zeit des Nationalsozialismus

Nach dem Ersten Weltkrieg war er als Rechtsanwalt in Wien tätig. Von 1924 bis 1937 war er Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und danach hauptamtlich Direktor der jüdischen Gemeinde Wiens. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Österreich wurde die jüdische Gemeinde Wiens am 18. März 1938 durch SS-Angehörige geschlossen und Löwenherz mit anderen Führungsmitgliedern der Gemeinde sowie weiteren jüdischen Funktionären verhaftet. Löwenherz entging der Deportation in das KZ Dachau, da er durch Adolf Eichmann Anfang Mai 1938 mit dem Wiederaufbau der nun als ‚Jüdische Gemeinde Wien’ bezeichneten Israelitischen Kultusgemeinde beauftragt wurde. Sein Stellvertreter wurde 1940 Benjamin Murmelstein. Löwenherz war in der Ausübung seiner Amtsgeschäfte den Anweisungen von SS und Gestapo vollkommen unterworfen. Ab dem 1. November 1942, nach der durch die Nationalsozialisten verfügten Auflösung der ‚Jüdischen Gemeinde Wiens’, leitete er als so genannter Judenältester den ‚Ältestenrat der Juden in Wien’. Die verbliebenen jüdischen Institutionen, zunächst die „Jüdische Gemeinde“ und später auch der ‚Ältestenrat’, wurden letztlich für Deportationen, Beschlagnahmung und Verfolgung der Juden in Österreich durch die NS-Behörden instrumentalisiert. Dennoch versuchte Löwenherz weiter, jüdischen Mitbürgern die Ausreise zu ermöglichen. Im Mai 1945 wurde Löwenherz von Soldaten der Roten Armee wegen Kollaboration mit der NSDAP verhaftet und war danach für drei Monate in der Tschechoslowakei interniert. Ein gegen ihn in Prag eingeleitetes Ermittlungsverfahren wurde eingestellt und die Beschuldigungen gegen Löwenherz fallengelassen. Anschließend stellte er sich noch einem jüdischen Ehrengericht in London, welches ihn von jeglichem Kollaborationsanschuldigungen freisprach. Löwenherz zog über die Schweiz mit seiner Frau Sophie zu seinen Kindern in die USA und lebte in New York City. Im Rahmen des Eichmann-Prozess in Jerusalem wurde er im Dezember 1960 durch den israelischen Konsul gebeten, eine schriftliche Zeugenaussage für das Verfahren abzugeben. Löwenherz, der unter den Erlebnissen der NS-Zeit litt, starb nur drei Tage danach an einem Herzinfarkt.