Erika Rosenkranz

Erika Rosenkranz

Erika Rosenkranz
Wien
Österreich
Datum des Interviews: Juli 2003
Interviewer: Tanja Eckstein

Erika Rosenkranz empfängt mich an einem sehr heißen Sommertag in ihrer Wohnung im 20. Bezirk in Wien. Sie trägt ihre noch immer vollen Haare kurzgeschnitten. Nachdem sie meine Hände betrachtet hat, bringt sie mir Sympathie entgegen, denn nach den Händen beurteilt sie die Menschen. Nicht danach, ob sie gepflegt sind oder nicht, sondern nach ihrer Form. Während des Interviews betont sie immer wieder, dass es ihr doch sehr gut im Vergleich zu anderen Juden während des Holocaust ergangen ist, dass sie viel Glück hatte, weil sie und ihre Eltern am Leben bleiben durften.

Meine Familiengeschichte
Meine Kindheit
Während des Krieges
Nach dem Krieg
Rückkehr nach Wien
Glossar

Meine Familiengeschichte

Väterlicherseits bin ich die fünfte Generation in Wien. Mein Großvater Karl Roth wurde 1869 geboren. Er war Geflügelhändler und starb im Jahre 1907 an einer Blutvergiftung, da war mein Vater neun Jahre alt. Ich könnte mir denken, dass er ein bewusster Jude war, aber ob er religiös war, weiß ich nicht.

Meine Großmutter hieß Valerie Roth und war eine geborene Weiss. Wann sie geboren wurde, weiß ich nicht, wir haben nie ihren Geburtstag gefeiert. Ich glaube, eine Ausbildung hatte sie nicht, sie hat sicher nur die Pflichtschule absolviert.

Ich weiß, dass meine Großmutter mehrere Geschwister hatte, aber ich kann mich nur an drei erinnern. Ein Bruder meiner Großmutter hieß Oskar, den lernte ich nie kennen, aber seinen Namen hörte ich öfter.

Eine Schwester hieß Johanna. Sie war mit einem Zahnarzt, dem Herrn Dr. Wachtel verheiratet. Sie wohnten in der Josefstädter Straße, im 8. Bezirk, und hatten keine Kinder. Ich habe sie gut gekannt und besuchte sie sehr gern, weil die Tante Johanna wunderbar eingelegte grüne Tomaten machte und ich eine Verfressene war.

Eine Schwester hieß Risa Weiss. Sie lebte allein in einer Wohnung im 3. Bezirk. Im Jahre 1933 oder 1934 hatte sie großen Liebeskummer, ich habe das damals mitbekommen. Sie fuhr darum nach Amerika, und dort belegte sie einen Kosmetikkurs. Als sie zurückgekommen war konnte ich zusehen, wie sie Creme in ihrer Badewanne hergestellt hat, die sie dann auch wirklich verkaufte.

Ich glaube, die Geschwister meiner Großmutter starben vor dem Holocaust.

Meine Großeltern hatten fünf Kinder: meinen Vater Alfred, Edith, Erich, Margit und Leopold. Alle Geschwister müssen zwischen 1899 und 1907 geboren worden sein, weil mein Vater der älteste der Geschwister war und der Großvater im Jahre 1907 gestorben ist.

Tante Edith, geborene Roth, war mit Moritz Singer verheiratet. Sie hatten keine Kinder, wohnten im 2. Bezirk, und die Tante hat ein Geflügelgeschäft in der Rotensterngasse besessen. Ich kann mich genau erinnern, dass sich hinter dem Verkaufsraum eine Küche befunden hat, und in der Küche erzeugte die Tante unter anderem Grammeln. Ihr Mann, der Onkel Moritz, hat ein Taxi besessen. Tante Edith hat mich sehr geliebt. Dadurch, dass sie selber keine Kinder hatte, und ich das älteste aller Kinder in der ganzen Familie war, war sie auf mich fixiert. Sie hat es geliebt, wenn ich bei ihr geschlafen habe, und ich nützte ihre Liebe zu mir weidlich aus. Wenn ich sie besuchte, war es ihre Pflicht, mit mir in den Prater zu gehen, und sie musste immer Grammeln für mich haben, denn die haben zu meinen Spezialitäten gehört. Tante Edith und Onkel Moritz wurden deportiert und kamen nicht mehr zurück [Edith Singer, geb. 1. September 1899 wurde am 30. September 1942 von Drancy in das KZ Auschwitz deportiert und ermordet. Moritz Singer, geb. 17. Juli 1887 wurde am 4. November 1942 von Drancy in das KZ Auschwitz deportiert und ermordet. Quelle: DÖW Datenbank]

Onkel Erich war mit Tante Bianca verheiratet. Sie hatten eine Tochter Gerda. Onkel Erich besaß eine Erzeugung von Zigarettenspitzen und Galanteriewaren im 6. Bezirk, in der Stumpergasse. Er verhalf meinem Vater 1938 blitzschnell zu einem französischen Visum, indem er ihn schriftlich zu seinem Vertreter für Zigarettenspitzen erklärte und mein Vater sofort ein Visum von der französischen Botschaft bekam. Die Familie emigrierte nach Lyon und von Lyon 1942 in die Schweiz, wo sie den Krieg überlebten. Nach dem Krieg gingen sie nach Frankreich zurück und übersiedelten dann gemeinsam in die USA. Gerda hat Albert Rosenthal geheiratet, sie haben einen Sohn Peter und eine Tochter Valerie bekommen. Gerda lebt mit ihrem Mann im Staate New York of Long Island. Valerie lebt in Connecticut und ist Vizepräsidentin einer Bank. Peter heiratete eine Schwedin und lebt als Genforscher in England. Onkel Erich ist vor ungefähr zehn Jahren gestorben und Tante Bianca vor ungefähr zwei Jahren.

Tante Margit, geborene Roth, war mit Hermann Lendner verheiratet. Sie hatten einen Sohn Heinz und wohnten im 2. Bezirk, in der Nähe der Großmutter. Der Onkel und die Tante haben mit der Großmutter gemeinsam am Geflügelstand gearbeitet. Sie sind zusammen mit der Großmutter nach Frankreich und von Frankreich im Oktober 1942 über die Berge in die Schweiz geflohen.

Onkel Leopold war mit Tante Blanka verheiratet. Sie hatten einen Sohn Karl. Karl wurde in Wien im Jahre 1935 geboren. Onkel Leopold war Angestellter, aber was er arbeitete, weiß ich nicht. Er war der Ärmste der Familie. Es waren damals schwere Zeiten [ [Anm: Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1937], aber die Familie Roth hat zusammen gehalten. Ich nehme an, meine Großmutter hat die Familie auch unterstützt. Auch Onkel Leopold und seine Frau Blanka sind nach Frankreich geflohen. Als es in Frankreich gefährlich wurde, weil die Deutschen einen Teil besetzt hatten, wollten sie in die Schweiz fliehen, aber es ist ihnen nicht gelungen. Man hat sie im Lager Drancy 1, in der Nähe von Paris, interniert. Von Drancy wurden sie ins KZ Auschwitz deportiert und ermordet [Leopold Roth, geb. 7. Oktober 1905, Blanka Roth, geb. 1. Mai 1910 wurden am 30. September 1942 von Drancy nach Auschwitz deportiert; Leopold am 25. Oktober 1942 ermordet. Quelle: DÖW Datenbank]. Ihren Sohn Karli konnten Französinnen retten, sie haben ihn im Lager behalten. Mehr weiß ich nicht, da Charlot, wie er sich nennt, nie darüber spricht.

Mein Vater hieß Alfred Roth. Er wurde in Wien am 5. Juni 1898 geboren und war das älteste Kind meiner Großeltern. Ich stell mir vor, dass sich meine mit fünf Kindern alleinstehende Großmutter sagte: Die Kraft, diesen Jungen vollständig auszubilden, hab ich nicht. Also soll er in ein Waisenhaus. Im Waisenhaus hat er eine kaufmännische Ausbildung bekommen. Er hatte eine wunderbar gestochene Handschrift, hat das Violinenspiel gelernt, das Zeit seines Lebens sein Hobby blieb, und wurde Steuerberater. Im 1. Weltkrieg war mein Vater in der k.u.k. Armee, ich vermute, er ist 1916, im Alter von 18 Jahren eingezogen worden.

Mein Urgroßvater mütterlicherseits hieß Bernhard Trebitsch. Er starb vor dem Jahre 1902. Mehr weiß ich über ihn nicht.

Mein Großvater hieß Karl Siegmund Trebitsch. Er wurde 1881 in Ungarn geboren, in welchem Ort, weiß ich nicht. Er hat Ungarn als junger Mann aus wirtschaftlichen Gründen verlassen und ist nach Deutschland gegangen. Über Geschwister meines Großvaters weiß ich nichts. In Deutschland hat er sich eine Existenz aufgebaut und meine Omama kennen gelernt. Ich weiß weder, was mein Opapa für eine Ausbildung hatte, noch weiß ich, was er sich damals für eine Existenz aufgebaut hat. Er war ein traditioneller Jude und ging nur zu den hohen Feiertagen in den Tempel. Und er war ein großer Zionist, aber ein Leben in Israel kam für ihn nicht in Frage. Darum hat er immer Geld gespendet, damit andere nach Israel gehen konnten.

Als ich ihn kannte, war er Mitbesitzer der 'Fisselthaler Mühle' bei Salzburg und Vitaminforscher. Es hat schon vor dem Krieg mit Vitaminen angereichertes Brot gegeben, und das beruhte auf der Idee meines Großvaters. Er ist immer ein fleißiger Geschäftsmann gewesen und viel durch die Welt gereist. Er hat während des 1. Weltkriegs 1914-1918 als Soldat in der k.u.k. Armee gedient, aber das weiß ich aber nur deshalb, weil ich ein Foto in Uniform von ihm besitze.

Mein Urgroßvater, der Großvater meiner Mutter, hieß Isak Kawalik und war Textilkaufmann. Er wurde 1843 geboren und starb am 6. Februar 1918 in Wien. Meine Urgroßmutter hieß Fanny, wurde 1844 geboren und starb am 31. Dezember 1926 in Wien. Beide liegen in einem Grab auf dem Zentralfriedhof.

Meine Omama hieß Clara Sascha Kawalik. Sie ist 1882 in Odessa geboren, ihre Mutter Fanny hat in Odessa eine Zigarettenfabrik besessen. Wann die Familie nach Deutschland und nach Österreich kam, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass es einen Neffen meiner Großmutter in Wien gelebt hat, der Frauenarzt war. Er wohnte im Haus von Professor Freud, im 9. Bezirk, in der Berggasse 19, und arbeitete im 'Krankenhaus der Kaufmannschaft' im 19. Bezirk. Meine Mutter hat sich von ihm behandeln lassen, und wir gingen dann immer zu Fuß von der Alser Straße, im 8. Bezirk, wo wir gewohnt haben, in die Berggasse zu ihm in die Sprechstunde.

Am 23. Januar 1902 haben meine Großeltern in London geheiratet.

Meine Omama war eine sehr vornehme und verwöhnte Frau. Sie war eine traditionelle Jüdin und war etwas religiöser als mein Opapa. Ich kann mich nicht erinnern, dass die Omama je selbst arbeitend in der Küche gestanden ist. Sie hat immer alle jüdischen Feste organisiert, und mein Opapa hat immer dafür gesorgt, dass sie nur einem Haus vorstehen musste. Meine Großeltern hatten drei Kinder, meine Mutter Hedwig Sara und ihre Brüder Maximilian Ernst und Rudolf Bringfried.

Mein Onkel Maximilian Ernst Trebitsch wurde am 1. Juni 1908 in Düsseldorf geboren. Was die Großeltern in Düsseldorf taten, weiß ich nicht. Onkel Ernst lebte bei den Großeltern und hat hauptsächlich mit meinem Großvater zusammen gearbeitet und die Geschäftsbriefe übersetzt. Der Opapa war ein Diktator und hat Niemanden wissen lassen, wie er was tat. Die Einzige, die der Opapa nicht diktieren konnte, war ich. Ich glaube, er hat gehofft, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse an mich weitergeben zu können. Onkel Ernst ging mit uns gemeinsam in die Emigration an die Cote Azur. Nach dem Krieg lebte er in Paris, wo er zweimal verheiratet gewesen ist. Eine Frau hieß Martha, mehr weiß ich nicht. Die andere war eine Französin, die ich nie gesehen habe. Mit dieser Frau hatte er zwei Kinder, Michele und Claire. Über die Kinder weiß ich auch nichts. Was mein Onkel nach dem Krieg gearbeitet hat, weiß ich nicht. Er ist vor ungefähr zwei Jahren gestorben.

Mein Onkel Rudolf Bringfried Trebitsch wurde am 3. Mai 1915 in Wien geboren. Ein jüdischer Bursch, der Rudolf Bringfield heißt, ist außergewöhnlich. Er war ein Zionist, wollte nach Israel gehen, aber es kam nie dazu. Bereits in der Mittelschulzeit war er Mitglied der rechten zionistischen Jugendbewegung Betar. Auch er ist nach Frankreich emigriert. Als sehr guter Rhetoriker hat er zum Beispiel während dieser schwierigen Zeit sein Geld folgendermaßen verdient: Er schraubte zwei Holzplatten zusammen, zwischen denen Rasierklingen steckten. Mit diesem Gerät wurden Parkettböden mit der Hand abgezogen, und es gab wirklich Leute, die so dumm waren, das zu kaufen. Als die Deutschen ganz Frankreich besetzt hatten, war er in Toulouse und arbeitete wahrscheinlich für die französische Widerstandsbewegung, die Resistance oder für die Engländer. Ich war seine Lieblingsnichte, aber er hat nie mit mir über diese Zeit gesprochen. Er hat nach dem Krieg eine Französin geheiratet, nachdem er sich von seiner ersten Frau Marianne, die heute noch in New York lebt, getrennt hatte. Mit seiner zweiten Frau Rollande hatte er vier Töchter und einen Sohn. Die eine Tochter heißt Carolin und der Sohn heißt Jerome. Weder von der Frau noch von den anderen Töchtern kenne ich die Namen. Nach dem Krieg hat er in Nizza gelebt, und Süßwaren, zum Beispiel Lollipops, erzeugt. Er ist Anfang der 60er Jahre in Nizza gestorben.

Meine Mutter hieß Hedwig Sara Trebitsch. Sie war das älteste Kind und wurde am 30. November 1904 in Prag geboren. Ihre Kindheit hat sie in Devin [heute Slowakei] verbracht, das heißt jetzt Theben und liegt bei Bratislava. Da steht ein Haus, und das ist noch immer als die 'Trebitsch Villa' bekannt. Die Großeltern haben mit ihren Kindern in Prag gelebt, besaßen eine Residenz in Wien und ein Haus in Salzburg. Ab der Pubertät wurde meine Mutter in einem Pensionat in Lausanne erzogen, wo sie Englisch und Französisch, Klavier spielen und einem Haushalt vorstehen erlernte.

In Wien gab und gibt es immer große Bälle. Onkel Erich, ein Bruder meines Vaters, besaß eine Karte für einen Ball und konnte oder wollte nicht zu diesem Ball gehen. Er hat die Ballkarte seinem älteren Bruder Alfred geschenkt, und auf diesem Ball trafen sich meine Eltern das erste Mal. Mein Vater ist ein bildhaft schöner Mann gewesen, groß, schlank, mit leicht gewellten schwarzen Haaren. Er hat auch sehr gute Manieren gehabt. Meine Mutter war 21 Jahre alt, blond und sehr hübsch. Sie haben sich unsterblich ineinander verliebt. Probleme aber waren vorprogrammiert. Mein Vaters Mutter war eine Ganslerin mit einem Marktstand und die Eltern meiner Mutter kamen aus dem Großbürgertum. Aber sie haben sich geliebt und 1925 im 8. Bezirk, im Tempel in der Neudeggergasse, geheiratet. Beide wollten aus ihren zu engen Familienverbänden heraus, begaben sich aber natürlich durch die Heirat in neue Abhängigkeiten.

Zu dieser Zeit hat es eine große Wohnungsnot in Wien gegeben, es war sehr schwer, eine Wohnung zu mieten. Da starb meine Urgroßmutter Fanny und meine Eltern zogen in ihre Wohnung im 8. Bezirk, auf der Alserstraße 59. Es war eine Zweieinhalbzimmer, Küche, Toilette Wohnung und die Mutti hat noch eine Dusche installieren lassen, für ein Bad war kein Platz. Die Toilette ist durch eine Mauer geteilt worden und die Dusche wurde gekachelt.

Meine Kindheit

Nach zwei Jahren, am 14. Februar 1927, wurde ich im 9. Bezirk, in der Privatklinik in der Pelikangasse, geboren. Mein Vater hatte sich einen Sohn, einen Stammhalter gewünscht, aber ich war 'nur' ein Mädchen. Meine Mutter nannte mich immer nur Baby, sie würde wahrscheinlich auch heute noch Baby zu mir sagen. Damals hat man amerikanische Musik gehört, zum Beispiel von dem Sänger Old Johnson, und jemanden, den man sehr lieb hatte, hat man Baby genannt.

Irgendwann hatte ich, da war ich noch sehr klein, mit meinem Vater Streit. Ich habe während dieses Streits zu ihm gesagt: Aber ich bin doch deine 'Selbste.' Das sollte heißen: Ich bin nicht nur 'dein', ich bin mehr. Ich gehöre integriert in dein Leben, in dein 'Sein' in dein Leid, in alles, was dich betrifft: Ich bin deine 'Selbste.' Ab diesem Moment rief er mich nur noch 'Selbste.'

Mein Vater war, was man einen 'bewussten Wiener' nennt - für ihn gab es nur eine Stadt und das war Wien. Von Beruf war er Steuerberater. Damals war ein Steuerberater meistens angestellt, das war mein Vater auch. Aber Bilanzen und solche Sachen machte er am Jahresende, beziehungsweise Jahresanfang, auch für andere Firmen. Nicht nur, dass mein Vater eine wunderschöne Handschrift gehabt hat, auch sein Stil war ganz der Zeit entsprechend.

Wir waren nicht reich, aber es war immer alles da. Meine Mutti ist sehr stolz gewesen, dass sie es geschafft hat, das Haushaltsgeld richtig einzuteilen. Am Vormittag ist sie einkaufen gegangen, die Nachmittage hat sie mit Freundinnen verbracht. Unser Dienstmädchen schlief mit in meinem Zimmer und hat gekocht und geputzt. Mein Vater hat den ganzen gearbeitet Tag und manchmal haben wir ihn von der Arbeit abgeholt. Wenn meine Mutter gesehen hat, dass sie gut mit dem Wirtschaftsgeld ausgekommen ist, durfte er in ein Delikatessengeschäft gehen und kleine Delikatessen zusammenkaufen, die er sehr geliebt hat.

Ich habe einen französischen Kindergarten in der Laudongasse, im 8. Bezirk, besucht. Die Inhaberin hieß Mademoiselle Camille Chigout. Ich weiß das so genau, denn als ich in die Schule kam, ging ich noch einmal eine Zeitlang zu ihr. Zuerst hatte meine Mutter mich in einem anderen Kindergarten untergebracht, aber dort wollte ich unter gar keinen Umständen bleiben. Bei Madame Chigout war ich zufrieden und glücklich.

Wir waren eine traditionell lebende, jüdische Familie. Wir waren weder koscher noch feierten wir den Schabbat, aber die hohen Feiertage wurden sehr festlich im Kreise der Familie begangen. Es wurden zwei Seder 2 zu Pessach 3 gefeiert, der eine bei meinen Großeltern mütterlicherseits und der andere bei der Großmutter väterlicherseits. Zu Rosch Haschana 4 waren wir auch einen Tag bei den Großeltern und einen Tag bei der Großmutter. Eingefastet zu Jom Kippur 5 wurde bei den Großeltern mütterlicherseits und ausgefastet wurde bei der Großmutter väterlicherseits. Zur Großmutter kam die ganze Familie meines Vaters, der Onkel Erich und die Tante Margit, die Tante Edith und der Onkel Leopold, also alle Geschwister meines Vaters, mit ihren Ehefrauen und den Kindern. Meine Großmutter hatte einen Sitz im Tempel im 8. Bezirk in der Neudeggergasse. Gegen Mittag sind wir zu Fuß in die 'Große Synagoge' im 2. Bezirk, in der Tempelgasse, gegangen, denn fahren durften wir aus religiösen Gründen nicht, aber wir mussten die Großmutter sehen und beglückwünschen. Sie war immer im Tempel in der Tempelgasse.

Die Familie meines Vaters war oft beisammen. Man traf sich zu vielen Gelegenheiten, wenn einer eine neue Wohnung hatte, wenn ein Kind geboren wurde, wenn jemand heiratete, es gab immer einen Anlass. Meine Mutter allerdings ist nicht gern zur Großmutter und den Geschwistern meines Vaters gegangen, aber sie ging mit. Es waren eben zwei verschiedene Welten, die Familie Roth und die Familie Trebitsch.

Meine Mutter konnte ein wenig Klavier spielen, aber mein Vater hat auf der Geige wie ein Zigeuner gespielt, ohne Noten, nur nach dem Gehör. Sein Lieblingsstück war der 'Csardas' von Monti. Es gab Perioden, da spielte er oft und Perioden, da spielte er weniger. Meine Eltern gingen auch gern ins Theater und in die Oper, aber das war eher selten. Und wenn sie ins Theater oder in die Oper gingen, dann war das ein großes Fest. Meine Mutter ließ sich unter Umständen sogar ein neues Kleid machen und ging zum Friseur. Auch ein Kinobesuch wurde geplant, das war eine Extraausgabe, denn sie hatten wenig Geld.

Meine Volksschule war in der Albertgasse, im 8. Bezirk. Ich war ein vielbeschäftigtes Kind, ging von einem Lernen zum anderen, und in der Schule sollte ich auch gut sein. Meine Mutter hatte darauf bestanden, dass ich soviel wie möglich lerne. Ich bin ab der zweiten oder dritten Volksschule zur Hakoah 6 schwimmen gegangen und Eis laufen musste ich auch. Meine Mutter war sehr sportlich und wollte, dass auch ich sportlich bin. Im Schwimmen war ich gut, im Eislaufen aber weniger. Ab Schulbeginn habe ich bei einem Fräulein, das zweimal in der Woche zu uns nach Hause gekommen ist, Violine spielen gelernt. Damit bin ich dann aber meiner Mutter tüchtig auf die Nerven gegangen, denn sie hat mich öfter gebeten, meine stundenlangen Übungen zu beenden. Ich hatte eine Freundin, die Trude Winter und sie hatte auch so viele Verpflichtungen wie ich. Wir hatten dadurch kaum Zeit zum Spielen, aber wenigstens in die Schule sind wir gemeinsam gegangen. Auch Trude hat Violine gespielt, ging Schwimmen und Eislaufen und das konnten wir dann miteinander tun. Als ich mir im Alter von ungefähr zehn Jahren die Hand gebrochen habe, musste ich meine Geigenspielkarriere beenden.

Meine Großmutter väterlicherseits hat im 3. Bezirk, in der Löwengasse 11 gewohnt. Sie hatte eine kleine 1 ½ Zimmer Wohnung, bei der sich die Toilette am Gang war. Wenn wir sie besucht haben, hat sie immer auf einem Fauteuil neben dem Ofen gesessen. Ganz in der Nähe ihrer Wohnung, am Radetztkyplatz, hatte die Großmutter ihren Geflügelstand, wo sie gerupfte Hühner, Enten, Gänse und Gansleber verkauft hat. Sie war klein und dick, aber eine sehr starke Frau. Da sie nach dem frühen Tod ihres Mannes allein geblieben war, musste sie sehr hart arbeiten. In Mauer bei Wien hat meine Großmutter im Sommer manchmal eine Wohnung gemietet und fuhr dahin auf Sommerfrische. Damals ist man ja nicht auf Urlaub wie heute gefahren. Man hat sich einfach eine Wohnung in einer schönen Umgebung gemietet. Das war billiger, und die ganze Familie konnte davon profitieren, weil man zu Besuch kommen konnte. Auch wir haben die Großmutter in Mauer besucht, und ich glaube, wir waren manchmal sogar einige Tage bei ihr. Sie hatte ein sehr schweres Leben, es ging immer um die Existenz. Sobald mein Vater und seine Geschwister erwachsen waren, hatten sie es nicht sehr gern, dass ihre Mutter am Geflügelstand eine so schwere Arbeit machen muss. Aber ihr hat die Arbeit auch Vergnügen bereitet. Sie hat gern mit Leuten gesprochen, und sie konnte sehr gut Geflügel einkaufen. Ich schäme mich jedenfalls nicht, von einer Ganslerin abzustammen. Ganz im Gegensatz dazu die Omama mütterlicherseits, die es sich leisten konnte, auf viele Formalitäten zu achten.

Während des Krieges

Antisemitismus habe ich erst in dem Moment, als die Deutschen in Österreich einmarschierten erlebt. An dem Tag nach dem Einmarsch, hat mich meine Mutter von der Schule abgeholt. Da ging die ganze Klasse, das waren ungefähr 25 Mädchen, nach dem Unterricht auf mich los. Ich weiß nicht, wie es ausgegangen wäre, wenn meine Mutter mich nicht beschützt hätte.

Die Mathematikprofessorin rief am nächsten Tag die Kinder zusammen und sagte zu ihnen, es wäre nicht ihre Sache, auf Juden loszugehen, das würden die Erwachsenen erledigen. Sie war schon vorher eine illegale Nazi [Anm.: Nationalsozialistin, in Österreich von 1933 bis 1938 verboten]. Die anderen jüdischen Mädchen kamen nicht mehr in die Schule, aber ich bin trotzdem weiter in meine Schule gegangen, bis ich nicht mehr durfte. Ich war in der ersten Klasse Gymnasium, elf Jahre alt, und es war schrecklich für mich. Ich habe leider keine Ahnung, was aus meiner Freundin Trude Winter wurde. Laut den letzten Nachrichten, ich weiß nicht, woher ich die hatte, konnte sie nach England emigrieren. Sie lebt vielleicht noch in England, aber ich kann sie nicht suchen, ich weiß ihre Geburtsdaten nicht und wahrscheinlich hat sie auch geheiratet und heißt nicht mehr Trude Winter.

Drei Wochen nach dem Anschluss ist mein Vater nach Frankreich geflohen. Sein Pass war in Ordnung, und er hat ja sofort mit Hilfe seines Bruders ein französisches Einreisevisum bekommen. Für meine Mutter und mich war es schrecklich, als mein Vater weggefahren ist. Erstens, weil er wegfuhr, zweitens, weil er ohne uns wegfuhr und drittens, weil wir nicht wussten, wie es weitergehen sollte.

Meine Mutter wollte mit mir nicht allein in unserer Wohnung bleiben, also sperrte sie alles zu, und wir zogen zur Omama, die mit Onkel Ernst im 1. Bezirk am Michaelerplatz gewohnt hat. Wir hatten noch viele Sachen in unserer Wohnung. Wir haben bei der Omama gewohnt und geschlafen, gingen aber auch noch in unsere Wohnung.

Onkel Rudy, der jüngste Bruder meiner Mutter, war schon vor dem Einmarsch der Deutschen nach Frankreich gegangen. Er verspürte frühzeitig den Drang, sein Elternhaus zu verlassen. Mein Großvater reiste aus geschäftlichen Gründen vor meinem Vater nach Budapest. Danach hatte er noch geschäftlich in Prag zu tun. 'Papa, es ist nicht die Zeit zurückzukehren nach Wien, bitte komm nach Paris.' Das hat mein Vater zu meinem Opapa gesagt. Mein Opapa konnte es sich sogar leisten, von Prag mit dem Flugzeug nach Paris zu fliegen. Dort traf er ungefähr 14 Tage nach meinem Vater ein. Mein Opapa und mein Vater verstanden sich nicht sehr gut, aber das war in diesem Moment nicht wichtig. Beide stellten in Paris fest, das dort das Leben wegen der vielen Emigranten sehr schwer sein würde. Darum gingen sie gemeinsam nach Monaco.

Jüdische Kinder durften nicht mehr in normale Schulen, sie mussten in 'Judenschulen'. Meine Schule befand sich im 6. Bezirk, in der Stumpergasse. Jeden Tag bin ich nun zu Fuß vom Michaelerplatz in die Stumpergasse gegangen, das ist ein weiter Weg. Ich kann mich daran erinnern, dass in Wien viele Hakenkreuzfahnen hingen. Hin und hat mich Onkel Ernst von der Schule abgeholt. Ich weiß nicht, warum ich nicht fahren durfte, vielleicht hatten wir wenig Geld. Ich musste aber jeden Tag noch viel mehr gehen, denn wir hatten einen Hund, einen Foxterrier namens Schufti. Schufti musste Gassi gehen, und wer konnte das besser als ich? In dieser Zeit war ich vom Gehen immer sehr müde.

Meine Mutter, Onkel Ernst und meine Omama warteten auf die Visa, die der Papa und der Opapa uns schicken wollten. Da unsere Pässe aber abgelaufen wären, wenn wir länger gewartet hätten, verließen die Omama, meine Mutter, der Onkel Ernst, der Hund Schufti und ich Wien am 5. Juni 1938 ohne die Visa. Das einzige Land, wohin man ohne Visum fahren konnte, es gab das 'J' für Jude noch nicht im Pass, war Italien. Und so fuhren wir von Wien nach San Remo. Ich weiß das noch ganz genau, unser Zug ging um 9.55 Uhr vom Südbahnhof.

Für mich war das ein riesiges Abenteuer, obwohl ich schon oft mit dem Zug unterwegs gewesen war, denn meine Großeltern besaßen in Salzburg ein Haus und meine Mutter und ich hatten sie ein - bis zweimal im Jahr dort besucht.

Zuerst blieben wir in San Remo und dann trafen wir uns mit meinem Vater und dem Opapa an der französischen Grenze in der Stadt Menton. Mein Vater und mein Opapa waren auf der einen Seite und meine Mutter, meine Omama, Onkel Ernst, Schufti und ich auf der italienischen Seite. Als es Abschied nehmen hieß, habe ich zu weinen begonnen. Ich war ja ein Kind, und für mich war es schrecklich, mich wieder vom Papa und Opapa trennen zu müssen. Der französische Zollbeamte konnte meine Tränen nicht ertragen und ließ mich und Schufti ohne gültige Papiere nach Frankreich einreisen. Zwischen Frankreich und Monaco gibt es keine richtige Grenze. Ich war dann mit meinem Papa und Opapa in Monte Carlo im Hotel, aber sie hatten keine Zeit für mich. Meine Mutter war immer viel strenger als der Papa, und es ging mir in dieser Zeit sehr gut. Da mein Opapa sehr viel mit dem belgischen Konsul in Monaco zu tun hatte, habe ich dessen Sohn kennen gelernt und hatte sofort einen Verehrer. Wir sind gemeinsam schwimmen gegangen, oder er lud mich zu einem Getränk oder ins Kino ein.

Nach 14 Tagen kamen meine Mutter, die Omama und der Onkel Ernst nach Monaco. Alle zusammen haben wir dann Monaco verlassen und gingen nach Cap d`Ail, einem kleinen Dorf, sehr nahe der Grenze zu Monaco, das aber schon in Frankreich liegt. Mein Großvater mietete eine Wohnung und meine Eltern lernten dort Papa Chardonneaux kennen, einen Mann, der im Bürgermeisteramt arbeitete und uns Aufenthaltsbewilligungen besorgte.

Es war September und ich ging in die Schule und lernte dort sehr schnell Französisch. Aber dann sind meine Großeltern und Onkel Ernst geschäftlich nach Belgien gefahren. Mein Vater ist auch weggefahren, nach Paris, um sich um seine Mutter und um seine Geschwister zu kümmern, die in Paris waren und um auch für uns eine Existenz dort aufzubauen.

Als dann meine Mutter hinterher fuhr, ging das nicht gut. Es war schrecklich! Meine Mutter hatte Probleme mit der Familie meines Vaters und es gab keine Arbeitsbewilligungen, weil die Flüchtlinge in Frankreich wie Touristen behandelt wurden. Bald hatten wir kein Geld mehr. Mein Opapa kam nach Paris und versprach uns wie immer finanzielle Hilfe. Meine Mutter wollte nicht mehr in Paris bleiben, und wir zwei fuhren nach Cap d`Ail zurück.

Einige Tage später begann der 2. Weltkrieg. Meine Mutter und ich waren in Cap d'Ail sowohl von meinem Vater, als auch von den Großeltern abgeschnitten. Das Geld ging zur Neige und meine Mutter war sehr verzweifelt. Nur durch die großzügige Hilfe von Papa Chardonneaux hatten wir wieder ein Auskommen. Er mietete für meine Mutter und mich in der Dordogne, ein Haus mit einem großen Garten. Dort hatten wir Fisolen, Gurken, Tomaten und Pfirsiche. Die Mutti arbeitete im Garten, ich habe das Obst und Gemüse auf dem Markt verkauft. Nachdem wir keine Waage hatten, verkaufte ich die Pfirsiche Stückweise.

Nach kurzer Zeit kam Marianne Fuchs aus Wien. Sie war die damalige Braut und spätere Frau von Onkel Rudy. Dann kam auch Onkel Rudy, aber das Haus war sehr klein und bald gab es Streitereien, woraufhin die zwei uns wieder verließen.

Ich stellte keine Ansprüche, ich hatte immer einen vollen Magen und was ich bekam, war gut. Das Wichtigste für mich während dieser ganzen Zeit war; ich war fast immer mit meiner Mutter zusammen. Ich weiß nicht, wie meine Mutter es schaffte, aber wir fristeten unser Leben dort.

Im Mai 1940 griff Deutschland auch Belgien an und der Opapa , die Omama und Onkel Ernst schafften es, aus Belgien zu flüchten und zu uns zu kommen. Meine Omama wollte nicht in so einem Haus wohnen wie wir, denn wir hatten ja nicht einmal Fließwasser, sondern nur einen Brunnen vor dem Tor. Mein Opapa mietete ein großes Haus mit einem eigenen Flughafen, auf dem viele Schwammerln [Pilze] wuchsen. Die kochten und davon lebten wir. Dann kam die Zeit der Weinlese, und wir konnten den Weinbauern helfen und bekamen ein wenig Geld dafür. In dieser Zeit bin ich jeden Tag fünf Kilometer zur Schule hin und fünf Kilometer zurückgegangen. Ich habe gemeinsam mit Bauernkindern gelernt, die auch alle arm waren. Mittags hat es in der Schule eine Suppe und ein Stück Brot gegeben, nachmittags habe ich manchmal in einem Gashaus Gemüse putzen dürfen und dafür eine ordentliche Mahlzeit bekommen.

Meine Mutter und ich sind wieder einige Zeit zur Familie Chardonneaux gezogen. Dort bin ich wieder in meine alte Schule gegangen, bin jeden Tag im Meer geschwommen und war sehr glücklich. Aber meine Mutter und mein Vater, der aus Paris zu uns gekommen ist, haben beschlossen, dass wir uns in Nizza ansiedeln. Da wir sehr wenig Geld hatten, mieteten wir uns in Nizza eine schlechte Wohnung. In der neuen Schule hat es mir nicht gefallen. Mein Vater hatte keine Arbeitsbewilligung Papa Chardonneaux half uns wieder. Wir verließen die Wohnung in Nizza, zogen alle zu ihm und dann borgte er uns Geld, damit wir in Nizza eine vernünftige Wohnung mieten konnten.

Diesmal mieteten wir eine sehr schöne Wohnung und konnten sogar ein Zimmer untervermieten. Mein Papa hatte Verbindungen zu Geschäften und meine Mutter buk kilometerweise Strudel, die mein Vater verkaufte. Es gab viele Emigranten in Nizza, die an die französische Küche nicht gewöhnt waren, und meine Eltern kamen auf die Idee und haben einen Mittagstisch für diese Leute eröffnet. Das Essen war billig und gut und so hatten wir bis zu 40 Leute zum Mittagessen. Meine Eltern haben gekocht, ich habe nach der Schule serviert und das Geschirr gewaschen. Sonntags blieben die Leute länger, es gab sehr viele alleinstehende Männer, und mein Vater hat auf der Geige Wiener Lieder und alte Schlager gespielt, und es wurde sogar getanzt. Das waren echte 'Wiener Nachmittage' für die Emigranten.

In der Schule war ich nun sehr glücklich, schrieb schöne Aufsätze und war ein akzeptiertes Kind.

Im Januar 1940 wurde von der französischen Polizei angeordnet, dass alle männlichen Emigranten sich in Les Milles melden sollten, um interniert zu werden. Wenn man in kein Internierungslager wollte, gab es zwei Möglichkeiten: Man musste sich zur Fremdenlegion oder zum unbewaffneten Arbeitseinsatz gegen den Feind melden. Das tat mein Vater. Als er zu dieser Arbeit in eine Fabrik nach Rouen in Nordwestfrankreich kam, waren die Deutschen schon im Anmarsch und man sagte ihm: 'Hier können Sie nicht arbeiten, schauen Sie, dass Sie zurückkommen nach Nizza.' Mein Vater wollte sich einen Passierschein bei der französischen Gendarmerie für das unbesetzte Frankreich holen, wurde aber von den Franzosen verhaftet, denen er verdächtig war, weil er ordentliche Papiere besaß. Gemeinsam mit anderen Juden wurde er auf einem Fußballplatz in Rouen interniert. Als die Deutschen immer näher kamen, trieb man sie quer durch Frankreich. In Naunt fielen sie den deutschen Truppen in die Hände. Mein Vater hatte Glück, er wurde interniert und nicht gleich deportiert. Er verfasste ein Schreiben an die nächste Kommandantur, er hatte ja eine wunderbare Schrift, darin schrieb er, dass er irrtümlich festgehalten werde. Daraufhin wurde er wirklich freigelassen.

Er fuhr nach Paris, in Paris lebte noch sein Bruder Leopold, die anderen Geschwister waren nach Lyon übersiedelt. Sein Bruder gab ihm Kleidung, und mein Vater fuhr zur großen Demarkationslinie. Frankreich war halb besetzt, halb frei und bis dahin kam er. Sein Ziel war Nizza, weil er sich sagte, meine Frau und mein Kind sind in Nizza, nur da kann ich sie treffen. Um die Demarkationslinie passieren zu dürfen, brauchte man Papiere, die er aber nicht bekommen hatte. Er sah auch keine Möglichkeit, sie sich zu beschaffen. So nahm er einen Schubkarren, der am Rande stand, krempelte sich die Ärmel hoch und war Franzosen beim herüberbringen ihrer Koffer über die Demarkationslinie behilflich. Die Wachposten interessierten sich nicht für ihn. Er hatte Mut und Glück, so war mein Vater! Im unbesetzten Frankreich stieg er in den Zug nach Nizza.

In dieser Zeit, im Juni 1940, erklärte Italien Frankreich den Krieg. Auch mein Großvater und Onkel Ernst wurden in Internierungslager eingesperrt. Die Mutti, die Omama und ich waren allein. Dann gab es eine Verordnung, dass alle Ausländer sich nur noch mindestens 50 Kilometer hinter Marseille aufhalten dürfen. Das jüdische Hilfskomitee in Nizza stellte einen Zug dafür zur Verfügung. Nachdem wir drei Frauen waren, kein Geld hatten, also ziemlich hilflos waren, stiegen wir in diesen Zug. Der Zug wurde hinter Marseille plombiert und wir fuhren direkt in das Internierungslager Gurs 7 in den Pyrenäen.

Gurs war ein ganz schreckliches Lager, wir wateten bis zu den Knöcheln im Schlamm, zu Essen gab es nichts, und wir mussten auf Stroh schlafen. Da waren Baracken mit 120 Frauen. Meine Omama war überzeugt davon, der Opapa würde uns herausholen. Das Lager bestand aus vielen Inseln mit Baracken darauf, die mit Stacheldrahtzäunen voneinander getrennt waren. Nur ein kleiner Zug, der die Latrinen leerte, durfte die Stacheldrahtzäune passieren. Ein Spanier fuhr diesen Zug und ich bin mit ihm bekannt geworden. Jesus hieß er, das klingt vielleicht komisch, entspricht aber der Wahrheit. Er hat Brot, Zucker und Zigaretten gebracht, die ich für ihn im Lager verkauft habe, und dadurch hatten wir etwas zu essen. Am nächsten Tag, wenn er wieder mit dem Zug kam, haben wir abgerechnet. Er hatte großes Vertrauen zu mir, und so konnte ich das erstemal für meine Familie sorgen.

Nach fünf Tagen wurden wir freigelassen, aber meine Omama wollte nicht weg, weil sie sagte, der Opapa würde bestimmt kommen und uns suchen; und so war es. Drei Tage später kamen der Opapa und mein Onkel Ernst. Durch die gute Organisation meines Opapas fuhren wir nach Toulouse. Toulouse war voller Flüchtlinge. Wir gingen in ein großes Hotel, und dort trafen wir in der Halle meinen Onkel Rudy. Meine Mutter hatte sich schon große Sorgen um ihn gemacht. Die meisten Flüchtlinge gingen die ganze Nacht spazieren, weil sie keine Unterkunft hatten. Meine Mutter wollte nach Nizza, weil sie hoffte, dort meinen Vater zu treffen. So fuhren meine Mutter und ich insgesamt 24 Stunden ohne Sitzplatz im Zug nach Nizza. In Nizza angekommen schloss meine Mutti mit ihren Schlüsseln die Wohnung auf, und wir waren wieder zu Hause. Die Mutti verkaufte ihren Verlobungsring, damit wir leben konnten, und dann kam auch mein Vater. Meine Mutter hat dann wieder kilometerlange Strudel gebacken und wir hatten wieder einen Mittagstisch für Emigranten. Ich ging wieder in die Schule. Nachdem die Direktorin meiner Schule meiner Mutter nach meiner positiven Abschlussprüfung der Grundschule, sagte, sie solle mich aus der Schule nehmen, da es besser sei, dass ein jüdisches Mädchen einen Beruf erlernt, begann ich mit einer Friseurlehre. Selbstverständlich hätte ich die Leistungen gebracht, um meine Matura bestehen zu können. Dann haben die französischen Behörden befohlen, dass die Emigranten nicht mehr in Nizza leben dürfen. Wir zogen nach Beaulieu, einem kleinen Badeort, acht Kilometer von Nizza entfernt. Dort gefiel es mir sehr gut. Wir hätten nicht nach Nizza fahren dürfen, aber meine Eltern hatten die Wohnung nicht aufgegeben und fuhren trotzdem täglich mit dem Zug nach Nizza. Ich besuchte meinen Friseurkurs weiter und mein Vater sorgte für unser Überleben. Eines Tages fanden wir im Postkastl eine Vorladung zur Polizei. Wir hätten die Vorladung gar nicht finden dürfen, denn wir durften ja nicht nach Nizza, aber mein Vater folgte der Vorladung. Da hieß es dann, wir dürfen nur noch in Nizza leben und Nizza nicht verlassen. So zogen wir wieder zurück in unsere Wohnung. Das war dann schon 1941.

1941 starb meine Omama in Nizza an TBC. Sie wurde in Monaco am Friedhof begraben.

Mein Opapa und Onkel Ernst lebten wieder in Cap d'Ail in einer großen Villa mit einem wunderschönen Garten. An den Wochenenden fuhren wir sie besuchen. Meinem Opapa ging es gut, sein 'Vitalin' Brot wurde in Monaco verkauft und er war, wie immer ein fleißiger Geschäftsmann. Onkel Ernst half ihm, war wieder für seine Geschäftspost verantwortlich. Im November 1941 besetzten die deutschen Truppen den bisher unbesetzten Teil Frankreichs.

Unten im Haus, in dem wir wohnten, gab es eine Bäckerei. Von einem Wochenende in Cap d'Ail zurück, kam der Bäcker, und richtete uns aus, der Opapa habe angerufen und ließe uns mitteilen, wir sollten sofort nach Cap d'Ail zurückkommen. Der Papa ärgerte sich, er wollte nicht sofort wieder zurück fahren, aber wir fuhren dann doch. Durch seine guten Beziehungen war der Opapa vor einer großen Razzia gewarnt worden. Er hatte ein Zimmer beim Pfarrer nebenan für uns vorbereitet. Es wurde davor gewarnt, die Tür zu öffnen wenn es läutet, die Tür. Onkel Ernst öffnete trotzdem die Tür, wurde verhaftet und in die Nähe von Dijon deportiert.

Der Papa sagte, das sei 'kein Zustand' sich verstecken zu müssen. Einmal habe ich sogar eine Ohrfeige von ihm bekommen. Ich war hingefallen und in die Apotheke zum Verbinden gegangen. Er hatte in dieser Zeit so große Angst, dass mir etwas passiert ist, dass er mich vor Schreck mit einer Ohrfeige empfing, als ich nach Hause kam.

Daraufhin hat die Familie beschlossen, dass wir in die Schweiz flüchten. Visa hat's ja keine gegeben, man ist über die Berge. Wir hatten eine italienische Bedienerin und von der habe ich erfahren, dass ihr Bruder im Grenzgebiet zur Schweiz lebt.

Wir fuhren mit dem Zug nach Aix-les-Bains. Es waren viele Flüchtlinge im Zug und alle hatten Angst. Niemand hatte gültige Papiere und manche verließen schon vor der Grenzstation den Zug. Als die Kontrolleure kamen und die Geige von meinem Vater sahen, ließen sie uns ohne Papiere weiterfahren. Viele Leute haben alles was sie noch besaßen gegeben, um über die Grenze gebracht zu werden. Der Bruder der Bedienerin lebte in Chamonix, er holte uns vom Zug ab. Sein Sohn führte uns über die Berge bis zur Schweizer Grenze. Wir mussten nicht einmal etwas bezahlen, er trug für uns noch das bisschen Gepäck, das wir mitgenommen hatten. Dann erklärte er uns den weiteren Weg und verabschiedete sich. Meine Eltern waren nicht mehr sportlich, und mir ging es auch nicht sehr gut. Wir hatten aber nur sehr wenig Gepäck, trugen aber mehrere Schichten Wäsche am Körper. Ein Hirte sagte uns, dass wir nur noch ein Stück gerade gehen müssen und dann in der Schweiz wären. Endlich hatten wir es geschafft. Wir meldeten uns beim nächsten Militärposten, waren in einem schrecklichen Zustand, trotzdem versprach der Papa den Soldaten noch einen 'Wiener Abend' mit seiner Geige. Aber ein Soldat warnte uns, es sei zu gefährlich, wenn die Grenzbeamten uns erwischten, wüsste er nicht, ob sie uns nicht vielleicht doch zurückschicken würden. Er sagte, wir sollten sofort zum Zug gehen, das wären 1 ½ Stunden zu Fuß und mit dem Zug so weit wie möglich in die Schweiz hinein fahren.

Wir sind natürlich sehr müde gewesen, aber wir nahmen unsere Sachen und gingen zum Zug nach. Mein Opapa hatte uns Schweizer Franken mitgegeben und wir fuhren nach Bex-les-Bains. Im Hotel konnte die Mutti endlich ohne Angst schlafen. Der Papa und ich gingen zu den frommen Brüdern Ascher, von denen mein Opapa Hilfe für uns erwartete. Durch die Aschers wären wir an das Kapital meines Opapa gekommen und hätten die Kriegsjahre in der Schweiz frei verbringen können. Aber die riefen die Fremdenpolizei an, für jeden Illegalen, der gemeldet wurde, bekam man eine Summe Geld. Wir wurden interniert.

Papa kam nach Büsserach bei Basel und Mutti und ich in das Auffanglager in Bex-les-Bains. Einige Monate später im Januar 1943 wurde meine Mutter in das Arbeitslager in Brissago im Tessin verlegt. Mein Vater war in das Arbeitslager nach Hedingen bei Zürich versetzt worden. Mich schickte man in ein Heim der Jugend Aliah in die Nähe von Genf.

Meine Großmutter väterlicherseits, Tante Margit, die Schwester meines Vaters und ihr Mann, der Onkel Hermann Lendner und ihr Sohn Heinz lebten in Genf. Sie hatten die beschwerliche Flucht von Frankreich über die Berge in die Schweiz geschafft, obwohl Tante Margit hochschwanger war. In Genf wurde ihre Tochter Georgette geboren. Mit dem Baby mussten sie in kein Internierungslager, aber sie waren so arm, dass sie nicht einmal genug Brot zu essen hatten. Nach dem Krieg lebten sie zusammen in Frankreich, in Toulouse. Meine Großmutter starb 1958 in Toulouse und auch Tante Margit und Onkel Hermann sind schon lange tot. Heinz Lendner hatte in Toulouse ein Konfektionsgeschäft, ist Pensionist und Witwer. Er hat eine Tochter. Seine Schwester Georgette Brauer lebt seit langer Zeit in Israel, ist Witwe und hat drei Kinder.

Meine Eltern und ich hatten die Möglichkeit einander zu treffen, wollten aber wieder zusammen sein. Meine Mutter fand für mich einen Platz bei einer Familie in Ascona und ich musste dort die Wohnung sauber halten und das Kind betreuen. Eigentlich sollte ich von der Familie betreut werden. Meine Mutter kam mich jede Woche besuchen. Dadurch überstand ich auch das und dann kam ich in das Arbeitslager nach Brissago. Diese Arbeitslager war eine Großwäscherei für fünf Männerlager. Die Internierten lebten in Zimmern und arbeiteten in der Wäscherei oder im Garten. Jeden Tag in der Früh, frisierte ich die Lagerleiterin, ich hatte ja Friseuse gelernt und war sehr privilegiert.

Einen gemeinsamen Urlaub benutzten wir dazu, so wie wir in die Schweiz gekommen waren, nämlich über die Berge, wieder zu verschwinden. Das war im März 1945. Wir schlossen uns einer Gruppe Menschen an, die alle nach Frankreich wollten.

Meinem Opapa ging es sehr gut, er besaß eine zweite Villa und wir wurden von ihm und Onkel Ernst im Auto mit einem Chauffeur vom Bahnhof in Nizza abgeholt. Für uns hatte er ein Haus am Rocher [Anm.: Felsen] von Monaco gemietet.

Nach dem Krieg

Irgendwo in Frankreich war Karli, der Sohn von Onkel Leopold und Tante Blanca, ein Kind aus unserer Familie. Meine Großmutter ging, als der Krieg zu Ende war, täglich zur Bahn, wenn Transporte aus Frankreich mit Kindern, die zur Erholung in die Schweiz geschickt wurden, ankamen, immer in der Hoffnung, sie findet ihr Enkelkind. Alle Leute fragte sie nach ihrem Enkel, dem Karli. Und eines Tages sagte eine Dame: 'Ja, ich kenn den Karli Roth.' Wir waren ja schon wieder in Frankreich, mein Vater fuhr sofort in den Ort in Mittelfrankreich und holte den Karli, der bei Nonnen lebte und Charlot hieß, zu uns und meine Eltern adoptierten ihn. Karli war damals elf Jahre alt und wurde mein Bruder und wir sind zueinander wie Geschwister.

Er lebt in New York und ich liebe ihn sehr. Er war verheiratet und hat einen Sohn Daniel. Seine Frau starb und New York ist eine große Stadt, und man kann sehr einsam sein. Daniel ist ein phantastischer junger Mann, der in Boston studierte.

In Nizza ging ich wieder in die Schule und maturierte. Ich bewältigte vier Klassen in zwei Schulsemestern. Meinen ersten Verlobten lernte ich in Nizza kennen. Er hieß Jerry Cziner, war amerikanischer Soldat und Jude. Er kam zu meiner Mutter und fragte sie, ob er mich in die Oper ausführen dürfe. Es begann eine lustige Zeit für mich. Mit einem Amerikaner an der Seite spielte Geld halt keine Rolle, das war auch mal schön.

Nach der Matura wollte ich politische Wissenschaften studieren. Der Opapa sagte: 'Ich zahl dir dein Studium schon, aber du musst Lebensmittelchemie studieren.' Das wollte ich nicht, aber ich studierte für kurze Zeit Philologie. Charlot besuchte das Lycee du Parc Imperial und wurde Flugzeugmechaniker.

Mittlerweile hatte mein Vater ein Unternehmen aufgebaut. Wir verkauften Vanillezucker, den wir aus Würfelzucker selber anfertigten, Pudding, Kartoffelmehl, das wir in Säckchen und Kartons verpackten und schon damals Suppen in Sackerln. Erst machten wir alles händisch, dann kauften wir eine Maschine und verkauften an Lebensmittelgroßhändler. Unsere Ware nannten wir 'A la Oetker.'

Es ging uns sehr gut und dann hatte mein Vater die Idee 'Manner Schnitten' herzustellen. Ich weiß bis heute nicht, wieso 'Manner Schnitten' so knusprig bleiben, uns ist das nicht gelungen. Mein Vater gründete eine zweite Firma, und was er lieferte und was nicht in Ordnung war, das schrieb er auf die erste Firma und das war meine Firma. Diese Firma hieß 'Fabrique de Produits Alimentaires' und ich war die große Chefin.

Da sich die Zeiten normalisiert hatten, wollten die Menschen auch gute Ware kaufen und nicht Mannerschnitten, zum Beispiel, die nicht knusprig waren, sie mussten ja nicht bei uns kaufen!

Zuerst bewies ich dem Papa, dass meine Firma tadellos funktioniert. Ich war 21 Jahre alt und eine große Zionistin, und dann beschloss ich, nach Palästina zu gehen. Mein Vater gab mir seinen Segen und so fuhr ich los. Kurz nach meiner Ankunft im Jahre 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen.

Ich kam mit dem Schiff in Haifa an, Verwandte meines Stiefbruders holten mich vom Hafen ab und fuhren mit mir nach Tel Aviv. Dort fand ich ein Zimmer in der Gordon Street, dass ich mit einem Mädchen teilte. Innerhalb von acht Tagen hatte ich mich eingelebt und ich hatte sofort begonnen, als Friseuse in der Ben Yehuda Street zu arbeiten. Da es mir unangenehm war, die ganze Zeit zu stehen, arbeitete ich als Manucure. Die jungen Männer umschwärmten mich, ich hatte großen Erfolg. Das war ein wunderbares Leben mit so vielen Verehrern.

15 Pfund bezahlte ich für mein halbes Zimmer mit Frühstück, mein Mittagessen bezahlte ich von meinem Trinkgeld, und am Abend hatte ich Verehrer, die führten mich aus.

Mein Opapa starb 1949 an einem Blinddarmdurchbruch. Er liegt mit der Omama gemeinsam in einem Grab in Monaco.

Trotzdem es mir in Israel sehr gut ging, bekam ich Sehnsucht nach meiner Mutter und nach Nizza und wollte zurück. Ich brauchte ein Visum und als ich das Visum in der Botschaft holen wollte, lernte ich meinen ersten Mann, Benjamin Mattatia, auch er wollte ein Visum beantragen, kennen.

Wir heirateten ohne meine Eltern und ohne seine Eltern, nur er und ich. Die Zeugen holten wir von der Straße. Es gab keine Feier, obwohl seine Familie in Israel lebte. Sie wollten mich nicht sehen, sie waren sephardische Juden aus Ägypten und ich bin eine Ashkenasi.

Als ich 1951, einen Tag nach meiner Hochzeit nach Paris fuhr, meine Eltern lebten zu der Zeit in Paris, bemerkte ich, dass ich schwanger war. Ich fuhr nach Israel zurück, weil mein Mann nicht nach Paris kommen wollte.

In Israel, in Kfar Saba, nahe Tel Aviv, wurde am 8. Juli 1951 mein Sohn Karl Awraham geboren. Zuerst wohnten wir unter schrecklichen Zuständen in einem Zelt; zusammen mit Skorpionen. Etwas später bekamen wir eine Holzhütte, das war schon besser, und ich servierte das Essen auf Porzellan mit Silberbesteck, etwas anderes hatte ich nämlich nicht.

Dann wurde ich sehr krank. Ich verlor sämtliche Zähne und der Arzt sagte, wenn ich überleben wolle, müsse ich nach Europa. Mittlerweile waren meine Eltern in Wien und sie sagten, ich solle erst einmal zu ihnen kommen. Ich fuhr mit meinem Sohn nach Wien und dann nach Italien, um für meinen Mann einen Posten zu finden. Dort wäre wirklich eine Möglichkeit gewesen, aber er wollte nicht aus Israel weg. Mein Mann war gut aussehend und Bankdirektor, er wollte nicht weg, und ich konnte nicht mehr in Israel leben. So kam es zur Scheidung.

Rückkehr nach Wien

Ich blieb bei meinen Eltern in Wien, die im 4. Bezirk, in der Neugasse wohnten. Mein Vater arbeitete in Wien als Vertreter. Eine zeitlang arbeitete ich in der Dokumentenabteilung einer Bank, da hätte es mir schon gefallen. Ich hörte, wie meine Kollegen über einen Kunden sagten: 'Der Jud ist schon wieder da und ist nicht zufrieden!' Ich sagte meinem Kollegen, dass ich das nicht sehr taktvoll fände, ich wäre auch Jüdin. Nach dem Probemonat sagten sie, ich kann zu wenig Deutsch, und ich musste gehen. Sie wollten mich wahrscheinlich lossein.

Ich war schon vor dem Krieg Mitglied der Hakoah und besuchte wieder die Klubabende. Dort lernte ich eines Tages meinen Mann Kurt Rosenkranz kennen. Er brachte mich an einem Abend nach Haus und schlug mir vor, übers Wochenende mit ihm wegzufahren. Ich war 28 Jahre alt, hatte einen Sohn und mein Vater sagte: 'Wie stellt der sich das vor, mit meiner Tochter?' Kurt musste mich von zu Hause abholen und da sagte mein Vater zu ihm: 'Wie stellen Sie sich das vor, mit meiner Tochter das Wochenende verbringen, sie ist eine anständige Frau.' Und Kurt antwortete darauf: 'Entschuldigen Sie, aber ich habe ganz ernste Absichten.' Und damit war ich verlobt. Und bevor wir noch das erste Mal zusammen wegfuhren, wurde ich zu seinen Eltern eingeladen. Es war alles so, wie es sich gehört.

Mein Schwiegervater, Michael Rosenkranz, besaß in Wien eine kleine Schuhfabrik. Auch vor dem Krieg besaß er in Wien eine kleine Schuhfabrik. Er wurde in Polen, in Mircia, und seine Frau, in Galizien geboren. Meine Schwiegereltern und ihre beiden Söhne, Kurt und Herbert, flohen 1938 aus Wien nach Riga in Lettland und wurden 1941 zuerst in Nowosibirsk in Russland und dann in Karaganda, in Kasachstan interniert. Sie kamen 1947 nach Wien zurück.

Kurt arbeitete mit meinem Schwiegervater zusammen in der Schuhfabrik und als mein Schwiegervater von unseren Heiratsabsichten erfuhr, sagte er: 'Alles schön und gut, aber ihr könnt nur heiraten, wenn die tote Saison ist und das ist im Januar.' Und so heirateten wir am 5. Januar 1956 in der Synagoge im 1. Bezirk in Wien, in der Seitenstettengasse.

Auf unserer Hochzeitsfeier waren 100 Menschen, das waren sehr viele Leute für diese Zeit. Meine Schwiegereltern bereiteten die Hochzeit vor und bewirteten die Gäste. Es gab gesulzene Karpfen, Hühner und Gänse.

Die erste Zeit haben wir bei den Schwiegereltern gewohnt, weil wir nicht das Geld für eine eigene Wohnung hatten. Das Einzige was wir hatten, waren 3000 Schilling Schulden, weil wir Möbel kaufen mussten, denn wir hatten ja auch ein Kind.

Ich habe mich auf der Wiener Universität erkundigt, ob ich mit meinen Französisch, Englisch und Italienisch Sprachkenntnissen irgendeinen akademischen Grad haben kann. In Wien ist das sehr wichtig. Man hat mir gesagt, ich kann sofort zur ersten Staatsprüfung antreten, aber ich muss mein Maturazeugnis bringen. Das konnte ich aber nicht bringen, denn die Schule war bombardiert worden und alles wurde vernichtet. Außerdem habe ich mir dann gesagt, mein Mann ist ein Schuster, und soll ich dann Frau Doktor oder Frau Magister sein?

Ich begann als Fremdsprachenkorrespondentin zu arbeiten und mein Sohn Karli, der von allen sehr geliebt wurde, ging in den Kindergarten. Die Schwiegereltern und meine Eltern halfen uns bei der Betreuung unseres Sohnes, und Karli wurde auch Kurts Sohn.

Wir wollten natürlich auch ein eigenes Kind, aber es wurde festgestellt, dass die Gefahr besteht, dass unser Kind behindert zur Welt kommt. Wir gingen das hohe Risiko ein, und am 14. Juli 1959 wurde in Wien unsere völlig gesunde Tochter Lydia Charlotte geboren.

Wir haben unsere Kinder sehr jüdisch erzogen, sie wurden bewusste Juden. Wir feierten mit ihnen alle jüdischen Feiertage und als meine Schwiegereltern noch lebten, begingen wir bei ihnen jeden Schabbat.

Mein Vater starb am 21. Dezember 1973 in Wien. Meine Mutter starb am 5. April 1982 in Wien.

Als mein Sohn maturierte und meine Tochter in die erste Mittelschule kam, wollte ich arbeiten. Mein Mann hat bei Freunden eine ältere Dame kennen gelernt, die eine Trafik besaß und sie verkaufen wollte. Das war das, was ich wollte. Meine Eltern und die Schwiegereltern halfen uns und gaben ihr erspartes Geld, damit ich die Trafik kaufen konnte, die ein gutgehendes Geschäft wurde. Mit 60 Jahren ging ich in Pension.

Meine Kinder haben in Wien maturiert. Mein Sohn hat Psychologie und meine Tochter Logopädie studiert. Karli machte Aliah, hat ungefähr fünf Jahre in Israel gelebt und als Schulpsychologe gearbeitet. Dann ging er in die Schweiz, in die Nähe von Basel und arbeitete als Direktor eines jüdischen Altersheimes. Die letzten Jahre in der Schweiz war er Direktor mehrerer Heime für Behinderte. Er ist geschieden und Vater von vier Kindern: Rafi, Ruth, Esther und Rachel.

Mein ältester Enkel Rafi lebt in Amerika, in Los Angeles, ist verheiratet mit Melanie und hat uns eine Urenkeltochter geschenkt. Sie ist die Königin der Familie, die Chawiwa, Ev Chawiwa, man ruft sie Evi.

Seit einem Jahr lebt mein Sohn wieder in Wien und arbeitet mit Computern. Er besitzt eine eigene Firma mit einem Kompagnon zusammen, da gibt er Computerkurse auf hohem Niveau, und er arbeitet bei der Firma 'Novartis' in Wien. Mein Sohn hatte eine Periode, da war er ultrafromm, aber das ist vorbei, und das geht mich auch schon nichts mehr an.

Meine Tochter hat nach dem Studium ein Praktikum in Mainz absolviert und arbeitet in Wien als Logopädin in ihrer eigenen Praxis, und sie arbeitet in einer Zahnklinik. Sie ist verheiratet mit Gad Fischman und hat zwei Söhne, Dan und Doron.

Als ich Anfang der 1950er-Jahre nach Wien kam, war jeder Österreicher in meinen Augen ein Nazi. Das verging nach einiger Zeit. Während der Waldheim- Affäre 8 fühlte ich mich sehr gut. Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Ich lebe hier in einer Gegend mit sehr vielen Sozialisten. Die grüßten mich auf einmal sehr freundlich, weil sie sahen, Waldheim lügt und ich hatte gelitten.

Es gab immer wieder Zeiten, da habe ich geglaubt, hier in Österreich nicht leben zu können. Aber wohin hätte ich gehen sollen? Südfrankreich ist für mich so etwas wie eine Heimat, aber dort gibt es auch Antisemitismus, das ist nicht besser als in Österreich. Ich liebe Israel, aber dort ist es sehr gefährlich, immerzu gab es Kriege und die Auseinandersetzungen mit den Palästinensern hören nicht auf. Ich hab Frieden geschlossen, ich nehme es, wie es ist. Ich bin jetzt schon zu müde, um irgendwohin zu gehen. Außerdem will mein Mann, sofern es irgendwie geht, unbedingt in Wien bleiben.

Ich bin gläubig, aber nicht religiös. Mein Herrgott ist überall und immer mit mir, und er versteht jede Sprache, nicht nur hebräisch. Für mich sind das A und O die zehn Gebote und- meine Familie. Wenn der Herrgott mit mir zufrieden ist, verläuft mein Leben schön langsam und leise, so wie es gut für mich ist. Wenn er unzufrieden ist, dann zeigt er es mir auf irgendeine Art und Weise. Ich gehe in den Tempel, weil mein Mann dort im Chor singt. Mein Mann ist sehr bekannt, er arbeitet schon seit Jahrzehnten in der Gemeinde mit, er gründete 1989 das 'Jüdische Institut für Erwachsenenbildung', und ich helfe ihm gern bei der Arbeit für das Institut. Es ist ein Institut für Nichtjuden, die über Judentum etwas wissen wollen. Es gibt dort sehr viele Veranstaltungen und man kann Hebräisch und Jiddisch lernen.

Ich habe ein Buch über mein Leben geschrieben, das unter dem Titel 'Und ich fand es herrlich. Erinnerungen einer Vertriebenen', 2001 im Czernin Verlag erschien. Es ist ein absolut positives Buch. Viele, die das Buch gelesen haben sagen, ich hätte doch viel mitgemacht, aber ich empfand das nicht so. Ich hatte zu 90 Prozent meine Mutter bei mir und wenn sie nicht bei mir war, war es auch wirklich nicht gut. Ich wuchs nicht mit dem Schönsten, Besten und Neuestem auf. Wenn mein Magen voll war, war es egal, ob der voll war mit einem Steak und mit einem Stück Brot. Noch heute esse ich gerne ein Stück trockenes Brot und trinke dazu eine ganz gewöhnliche Tasse Tee, das ist für mich etwas Herrliches. Und so sehe ich das Ganze.

Glossar

1 Drancy und Les Milles

Im August 1941 wird in Drancy bei Paris ein Komplex großer Wohnblocks im Rohbau als Sammellager für Juden bestimmt. In den ersten zwei Jahren verwaltet die Polizeipräfektur von Paris das Lager, im August 1943 wird es von der Gestapo übernommen. Die meisten der aus Frankreich deportierten Juden gehen durch diese Schleuse. Am 22. Juni 1942 verlässt der erste von insgesamt 61 Deportationszügen Drancy, am 31. Juli 1944 der letzte. Über 62.000 Menschen werden von hier nach Auschwitz und Sobibor verschleppt.

2 Seder [hebr

: Ordnung]: wird als Kurzbezeichnung für den Sederabend verwendet. Der Sederabend ist der Auftakt des Pessach-Festes. An ihm wird im Kreis der Familie (oder der Gemeinde) des Auszugs aus Ägypten gedacht.

3 Pessach

Feiertag am 1. Frühlingsvollmond, zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei, auch als Fest der ungesäuerten Brote [Mazza] bezeichnet.

4 Rosch Haschana [heb

: Kopf des Jahres]: das jüdische Neujahrsfest. Rosch Haschanah fällt nach dem jüdischen Kalender auf den 1. Tischri, der nach dem gregorianischen Kalender auf Ende September oder in die erste Hälfte des Oktobers fällt.

5 Jom Kippur

der jüdische Versöhnungstag, der wichtigste Festtag im Judentum. Im Mittelpunkt stehen Reue und Versöhnung. Essen, Trinken, Baden, Körperpflege, das Tragen von Leder und sexuelle Beziehungen sind an diesem Tag verboten.

6 Hakoah

Die Wiener Hakoah (Hebräisch für 'Kraft') zählt zu den traditionsreichsten Sportorganisationen Wiens und auch Österreichs. In der Geschichte der Hakoah spiegelt sich auch die Geschichte der Wiener Juden des 20. Jahrhunderts wider. Gegründet wurde dieser jüdische Sportverein im Jahre 1909. Dies war Folge einerseits des gestiegenen Selbstbewusstsein des liberalen Judentums und dessen geänderter Einstellung gegenüber der Körperkultur, andererseits auch der Ausgrenzung der Juden durch Arierparagraphen bei anderen Sportvereinen. Aufgrund der damals relativ hohen Anzahl jüdischer Wiener Bürger (180.000) entwickelte sich ein reger Zustrom. Zahlreiche Sektionen wurden gegründet: Fechten, Fußball, Hockey, Leichtathletik, Ringen, Schwimmen.

7 Gurs

In Gurs, am Nordrand der Pyrenäen, 80 km von der spanischen Grenze entfernt, lässt die französische Regierung im April 1939 das größte von zahlreichen Internierungslagern bauen. Die ersten Insassen sind Flüchtlinge aus Spanien. Anfang 1940 werden deutsche Emigranten ins Lager gebracht. Ende des Jahres folgen aus Deutschland deportierte Juden. Die Zahl der Internierten beträgt 30.000 Menschen, davon 10.000 Frauen. Im Winter 1941/42 sterben hier 800 Gefangene an Epidemien. Zwischen August 1942 und Herbst 1943 werden aus Gurs 6.000 Menschen über Drancy nach Auschwitz und Sobibor deportiert.

8 Waldheim, Kurt [geb

1918]: österreichischer christlich-demokratischer Politiker. 1968 - 1970 Außenminister; 1964 - 1968 und 1970 - 1971 war er Botschafter Österreichs bei den Vereinten Nationen. Als Waldheim-Affäre wird die Aufdeckung der NS-Vergangenheit Waldheims im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfes 1986 bezeichnet. Waldheim konnte die Mitgliedschaft in der SA sowie im NS-Studentenbund nachgewiesen werden. Des Weiteren hat er über seinen Dienst in der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gelogen. Andere Unterstellungen [Beteiligung an Kriegsverbrechen] erwiesen sich jedoch als haltlos.