Tag #120354 - Interview #79228 (Irene Bartz)

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Ich habe einige Jahre meiner Kindheit in Krakau verbracht, aber Krakau war mir nie Heimat, Polen ist mir nicht sehr nahe. Die Polen sind noch heute Antisemiten, obwohl es heute nur noch ungefähr 10 000 Juden in Polen gibt. Vor dem Krieg waren es Drei Millionen. Die meisten Juden leben heute in Warschau und Krakau.

Ich war seit 1957, seit ich in Wien lebe, nur noch ein einziges Mal in Krakau. Das war mit meinem Neffen Daniel, weil er sehen wollte, wo seine Mama damals gelebt hat. Ich wäre heuer doch gerne noch einmal gefahren, aber es hat nicht geklappt.

Ich liebe das Europäische, ich liebe Österreich, und ich liebe Wien. Man kann sich nicht vorstellen, was ich für Sehnsucht nach Wien hatte. Damals, als ich als Kind in Krakau war, habe ich das ja nicht beurteilen können, dass mir Wien fehlt. Auch nicht in Russland, aber als ich nach dem Krieg in Polen gelebt habe, hatte ich so schreckliche Sehnsucht nach Wien.

Ich hätte nie geglaubt, dass man so ein Gefühl haben kann, ein Landesgefühl, ein Zugehörigkeitsgefühl! Ich habe mich in Wien immer zu Hause gefühlt. Wien war für mich meine Heimat, und das ist bis heute so. Ich entdecke immer wieder wie schön Wien und seine Umgebung ist. Man kann in einer halben Stunde im Wald sein oder in den Weinbergen, und mitten in der Stadt ist so viel Grün. Für mich bedeutet Wien Kultur: Theater, die Oper, Konzerte und Ausstellungen.

Als ich einmal aus Amerika nach Wien zurückgekommen bin, ich war sechs Wochen in New York, habe ich beinah den Boden küssen wollen. Wie der Papst! Das ist komisch! Es gibt Leute, die hier leben und ewig auf Österreich schimpfen. Antisemiten gibt es überall, wir Juden haben nicht nur Freunde, und wir sind nicht sehr beliebt. Aber dass ich jemals hätte wegzufahren wollen, kann ich wirklich nicht sagen. Ich kann auch nicht sagen, dass in den ganzen Jahren mir jemand zu nahe getreten wäre, weil ich Jüdin bin.
Location

Austria

Interview
Irene Bartz