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Am Yom Kippur haben meine Eltern gefastet, das war sehr lustig. Zurndorf ist von Gattendorf vielleicht 4 km entfernt. Man ist im Gänsemarsch zu Fuß nach Gattendorf gegangen, weil da die Synagoge war. Die Männer und die Erwachsenen haben gefastet. Es wurde ein Dienstmädchen mitgenommen, damit die Kinder auch genügend zu essen haben, und das Essen wurde in großen weißen Servietten verpackt, und zwar war das meistens Huhn und Challe und Obst, und wir wurden dann versorgt, während die Eltern in der Synagoge waren und gebetet haben. In Gattendorf trafen sich Juden aus der ganzen Umgebung, sogar aus Bratislava und Budapest, die man ewig nicht gesehen hatte. Wir Kinder sind mal in die Synagoge rein und wieder raus, wie das halt so üblich war. Der Rabbiner war gleichzeitig der Schächter. Rabbiner waren damals ja nicht sehr gut gestellt, und er kam regelmäßig nach Zurndorf und schächtete das Fleisch für die Umgebung bei meinem Onkel Nathan, dem Bruder meines Vaters, der eine Fleischerei hatte. Wir haben nur rituell geschlachtetes Fleisch gegessen, das gehörte bei uns zur Tradition. Das war etwas teurer, weil der Herr Jelenko ja dafür was bekommen hat, aber man hat gleichzeitig eine Mitzwe getan, indem man eben das koschere Fleisch gegessen hat, damit der Herr Jelenko was verdient. Der Rabbiner Jelenko hat sich, wie viele Juden, selber seine Gesetze gemacht. Meine Mutter wollte einmal ein Stück koschere Kalbsleber. Und da hat der Herr Jelenko uns eingeredet, wir wussten ja wenig vom Judentum, es ist ein Gesetz, daß die Kalbsleber dem Schächter gehört. Und wir haben das natürlich geglaubt, und viel später sind wir dann draufgekommen, daß das sein eigenes Gesetz war, weil seine Frau gerne Kalbsleber gegessen hat. Vor dem Fasten am Yom Kippur wurde immer das gleiche Essen gegessen. Das war Tradition. Es war das einzige Mal im Jahr, daß mein Vater beim Essen einen Hut aufgesetzt hat. Es gab Nudelsuppe, Huhn mit Selleriesauce und Kartoffeln, danach Zwetschken- und Apfelkompott. Und zur Krönung des Ganzen gab es einen Mokka, und mein Vater hat die letzte Zigarette geraucht.. Dann haben die Feiertage begonnen. Beim Onkel Nathan gab es genau das gleiche Menü und beim Onkel Willi gab es auch genau das gleiche Menü. In Zurndorf haben wir zuerst Religionsunterricht bei dem Rabbiner Friedjung, einem alten Herrn, gehabt. Bei ihm habe ich Hebräisch lesen gelernt und er hat uns viele Geschichten erzählt. Dann lernten wir beim Rabbiner Jelenko, und wenn wir schwänzen konnten, haben wir geschwänzt.
Interview
Hanny Hieger
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