Tag #119723 - Interview #78282 (Otto Suschny)

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1934 war ich, auf Betreiben meiner Mutter, in die Mittelschule, ins Realgymnasium RG 20, in der Unterberggasse gekommen. Mein Vater wusste nicht, ob er mich wirklich ins Realgymnasium geben sollte. Er sagte, alle Juden gehen ins Gymnasium, das sei bürgerlich. Aber er hatte mich sehr gern, und wir hatten ein sehr gutes Verhältnis in der Familie. Er ließ sich dann überreden, weil meine Mutter und ich drauf bestanden.

In die Mittelschule ging ich in eine fast jüdische Klasse, es gab nur wenige nichtjüdische Mitschüler. Also haben die sich gehütet, uns anzugreifen. Da gab es keinen, der sich getraut hätte, irgendeine antisemitische Bemerkung zu machen.

Der spätere Lateinprofessor, Nicetas Draxler hieß er, soll ein schrecklicher Nazi gewesen sein. Das wurde mir nach dem Krieg erzählt. Mein Klassenvorstand, unser Mathematikprofessor, der mich förderte und mit dem ich im besten Einvernehmen war, soll ein illegaler Nazi gewesen sein. Auch das wurde mir nach dem Krieg erzählt. Das habe ich nicht wissentlich miterlebt. Mir gegenüber hatte er nie eine Bemerkung in diese Richtung gemacht, sogar im Gegenteil: Ich hatte einmal eine schlechte Note auf eine Schularbeit in Mathematik bekommen, das passierte selten. Ich war einer der Besten in Mathematik. Als er mir mein Heft zurückgab, sagte er: 'Es tut mir in der Seele weh, dass ich dich in dieser Gesellschaft sehe.' Er war streng, aber gerecht: wir haben ihn alle geschätzt. Weniger beliebt war der Geographie- und Geschichtsprofessor, Illichmann hieß er. Dem hätte ich zugetraut, dass er ein Nazi gewesen wäre. Den hat aber mein späterer Schwager in England im Internierungslager getroffen - der Professor hatte eine jüdische Frau.

1934 haben die Christlich-Sozialen ein Gesetz oder eine Verordnung bewirkt, dass jedes Kind an einem Religionsunterricht teilnehmen muss. Die Schulklassen waren nach Geschlechtern getrennt und nach Religionen. Es gab zwei Klassen mit Buben, weil damals sehr viel mehr Buben ins Realgymnasium gegangen sind als Mädchen. Eine Klasse war eine rein katholische Klasse. Die andere Klasse bestand zu 80 bis 90 Prozent aus jüdischen Kindern, zu denen man Altkatholiken, evangelische Schüler und konfessionslose Schüler dazugab. Ich war als Konfessionsloser in dieser Klasse. In einer dritten Klasse waren nur Mädchen, da waren die Religionen auch gemischt.

Ich konnte mir nach dem neuen Gesetz aussuchen, welchen Religionsunterricht ich wollte. Ich habe mir den jüdischen Religionsunterricht ausgesucht. Der Unterricht hat mich aber auch interessiert. Wir hatten einen sehr guten Religionslehrer, Prof. Leo Menscher hieß er. Er hat den Unterricht sehr gut gestaltet. Später ist er nach Israel gegangen. Er hat sich sehr um mich bemüht, weil ich für ihn so eine Art 'verlorenes Schaf' gewesen bin. Er hat Fragen über jüdische Geschichte gestellt und uns selbst auf Sachen draufkommen lassen. Die jüdische Geschichte und auch die Auslegungen von Bibeltexten fand ich spannend. Das habe ich gern gemacht. Wir sind auch in Nachmittagsgottesdienste in den Klucky-Tempel [20. Bezirk] gegangen. Ich habe gern den Religionsunterricht besucht. Die hebräische Sprache hat mich weniger interessiert. Es war für mich nur noch eine andere Sprache, die man lernen musste.

Für meinen Vater war Religion Opium fürs Volk, aber er hat mich natürlich akzeptiert. Als meine Mitschüler in der dritten Schulstufe Bar Mitzwah hatten, wurde ich häufig zu ihren Feiern eingeladen. Es gab Musik, Spiele und viel zu essen, und es wurden auch Gedichte vorgetragen. Ich musste immer 'Des Schadchens Fluch', eine Parodie in jiddisch auf 'Des Sängers Fluch' von Ludwig Uhland [1787 - 1862] aufsagen. Ich kann das heute noch. Ich wollte dann eine Bar Mitzwah haben und war bereit, alles Nötige dafür zu lernen. Aber ich verschob den Termin der damit verbundenen Lesung aus der Torah [fünf Bücher Mose] um eine Woche mit besonders kurzer Haftarah [Lesung aus den Prophetenbüchern im Anschluss an die Torahlesung].
Period
Location

Austria

Interview
Otto Suschny