Tag #119556 - Interview #78281 (Max Tauber)

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Die Hauptschule war dann in der Schweglerstrasse. Damals war Karl Popper [14] dort Hilfslehrer. Ich hatte ihn ein Jahr lang als Physiklehrer - er war großartig! Er trug immer verhatschte Schuhe und einen Anzug, der ausgeschaut hat, als hätte er darin geschlafen. Das letzte Jahr meiner Schulzeit wurde die Klasse aufgeteilt, und ich musste in eine Schule in der Goldschlagstrasse, Ecke Zinkgasse gehen. Dort gab es schon ein paar Typen, die bei der illegalen HJ [15] waren. Pohl hat einer geheißen, der war etwas Höheres bei der HJ, der hat mir sogar einmal illegale Schriften aus Deutschland zum Lesen gebracht. Das kann man sich kaum vorstellen, aber diese Gehässigkeit gegen die Juden begann ja erst 1938, nach dem Einmarsch der Deutschen. Man hatte vorher auch die Hakoah [16] akzeptiert. Sie war ja eine der Spitzenmannschaften in Wien. Sicher gab es einen gewissen moderaten Antisemitismus, aber es kam nicht zu Ausschreitungen. 1938 war die totale Wende.

Von der ersten Klasse bis zum Schulaustritt hatte ich Religionsunterricht. Das war immer an einem Wochentag, meistens an einem Mittwoch, in der Volksschule eine Stunde und später in der Hauptschule zwei Stunden. Zuerst einmal haben wir die Grundbegriffe, das Schema Israel [jüdisches Hauptgebet], also die Gebete, gelernt. Im Laufe der Jahre sind wir das ganze Alte Testament durchgegangen, die jüdischen Riten, alles, was zur Jüdischkeit gehört. Der Lehrer hieß Antscherl, der Vorname ist mir entfallen. Er war in gewisser Hinsicht ein Genie: Wir haben miterlebt, wie Adam und Eva sich im Paradies bewegt haben, wie Kain den Abel erschlagen hat, denn so anschaulich hat er das geschildert. Er hat uns die einzelnen Buchstaben erklärt, das Aleph ist nach allen Seiten offen, die Ziffer 5 sieht genauso aus wie der Buchstabe A, jeden Buchstaben hat er uns so erklärt, dass wir ihn uns einprägen konnten.
Period
Location

Wien
Austria

Interview
Max Tauber