Tag #119554 - Interview #78281 (Max Tauber)

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In der Zwischenkriegszeit musste jeder, der ein Gewerbe ausgeübt hat, eine Meisterprüfung oder die Gesellenprüfung haben, um den Antrag auf Gewerbegenehmigung stellen zu dürfen. Er musste sich dann bei der jeweiligen Genossenschaft anmelden, dann war er erst berechtigt, das Gewerbe auszuüben. War er nicht Mitglied und hat trotzdem privat gearbeitet, hat er sich strafbar gemacht. Mein Vater war Mitglied der sozialdemokratischen Genossenschaft der Schuhmacher und seit 1929 ehrenamtlich gewählter Delegierter im Vorstand - also er war politisch engagiert. Jede Fachgruppe ist ein eigener politischer Körper gewesen. Unser Leben war ein reines dahinvegetieren, darauf warten, dass irgendein kleiner Schustermeister kommt und Arbeit bringt. Der Vorsitzende der Genossenschaft der Schuhmacher, Urbanek hat er geheißen, hat meinem Vater dann eine Teilzeitbeschäftigung, die mit 150 Schilling pro Monat dotiert war, verschafft: Jederzeit, wenn jemand einen Pfuscher entdeckt hat, einen der eine Werkstatt betrieben hat ohne Gewerbeschein, hat er die Genossenschaft verständigt. Dann ist der Kommissar der Gewerbebehörde zu meinem Vater gekommen, hat ihn abgeholt und zusammen sind sie zu der angegebenen Adresse gegangen und haben versucht, den Schuldigen sozusagen 'in flagranti' zu erwischen. Danach wurde ein Protokoll aufgenommen. Wenn der Pfuscher sich dann falsch verhalten hat, konnte er auch verhaftet werden. Das war eine scheußliche Zeit! Es war natürlich kein dankbarer Job, mein Vater hat natürlich viele Feinde gehabt, noch dazu war er auch Jude. Aber 150 Schilling bedeuteten die nackte Existenz. Zehn Schilling hat die Miete für unsere Wohnung gekostet, eine kleine Semmel hat fünf Groschen gekostet, und die so genannte Kaisersemmel hat sieben Groschen gekostet. Ich kann mich erinnern, in meiner Klasse war ein Bursch, dessen Vater war bei der Bahn Verschieber, und die waren fünf Kinder zu Hause. Der Mann hat 180 Schilling für seine Familie verdient. Aber der hatte das Geld fix, aber bei meinem Vater bestand immer die Gefahr, und das ist dann 1934 eingetreten, dass er vor dem 'Nichts' steht.
Period
Location

Wien
Austria

Interview
Max Tauber