Tag #119550 - Interview #78281 (Max Tauber)

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Nachdem meine Eltern geheiratet hatten, hat mein Vater sich selbständig gemacht. Die Schuhproduktion hat zwei Sparten, den Oberteil und die Sohle, das sind zwei fast verschiedene Berufe. Mein Vater beschäftigte sich mit der Oberteilherrichterei. Schuhmacher, die als Einzelpersonen Maßschuhe hergestellt haben, sind mit dem Material gekommen und haben die Schuhoberteile von meinem Vater machen lassen, dafür haben sie alles mitgebracht. Oder sie haben meinem Vater den Auftrag gegeben, er soll das Oberteil herstellen. Dann hat er selber das Leder und Zubehör besorgt. In dieser Zeit hat es in Wien viele kleine Schuhfabriken gegeben, die auch die Oberteile außer Haus haben machen lassen. Meine Mutter hat die Stepparbeiten gemacht und auch bei anderen Sachen geholfen. Das alles hat sich in unserer Wohnung abgespielt. Als meine Eltern geheiratet hatten, haben sie sich eine Einzimmer- Küche - Wohnung in der Schweglerstrasse Nummer 10 genommen. Die Toilette war am Gang, Waschgelegenheit gab es nicht, da ist man in die öffentlichen Bäder gegangen, um sich zu reinigen. Wir waren, ich hab es ausgerechnet, 15 Personen auf einer Toilette. So bin ich mit meinen Schwestern Grete und Berta aufgewachsen. Erst war nur ich da, aber dann sind meine zwei Schwestern dazugekommen. Das Wohnzimmer war vielleicht zwanzig Quadratmeter groß. Zwei Schränke und ein Doppelbett standen darin. Meine jüngere Schwester hat mit meiner Mutter und meinem Vater im Doppelbett geschlafen, die andere in einem großen Gitterbett. Später haben beide im Gitterbett geschlafen. Ich habe auf einem Campingbett geschlafen, das tagsüber zusammengeklappt wurde. Wir hatten Riesentuchenten [Federbetten], die hatte meine Großmutter mit Federn ihrer vielen Gänse voll gestopft. Das Wohnzimmer hatte zwei Fenster. Vor einem Fenster stand die Steppmaschine meiner Mutter, daneben war eine Kommode, die auch zugleich als Arbeitstisch diente. Am anderen Fenster stand der große Arbeitstisch. Als ich noch nicht in die Schule gegangen bin, hatte mein Vater zwei Lehrburschen und zwei Arbeiter. Alles hat sich in diesem Zimmer abgespielt. Das muss man sich folgendermaßen vorstellen: Bis Samstagmittag ist gearbeitet worden. Meine Mutter ist immer zwischen Arbeit und Haushalt hin - und hergependelt. Manchmal war das Essen deshalb etwas angebrannt. Unten im Haus ist ein Gasthaus gewesen und wenn es besonders hoch her gegangen ist, hat sie für uns dort das Mittagsmenü geholt. Samstag hat sie dann aber richtig gutes Essen gekocht.

Jeden Samstagvormittag ging mein Vater mit einem Riesenrucksack voller Oberteile zu einer Firma im 10. Bezirk. Da konnte es passieren, dass ihm dort im Büro gesagt wurde: 'Wir haben heute kein Geld, Sie bekommen es nächste Woche.' Die Arbeiter aber warteten bei uns in der Wohnung auf ihr Geld, denn Samstagmittag hat mein Vater immer den Lohn ausbezahlt. Dann hat jedes Mal meine Mutter von ihrer Maschine den Motor abmontiert, ist damit in die Pfandleihanstalt, und die nächste Zeit hat sie ihre Maschine auf Fußbetrieb umgestellt. So konnte mein Vater seinen Arbeitern wenigstens einen Vorschuss zahlen. Wenn die Arbeiter gegangen sind, hat meine Mutter die Dielen des Zimmers mit Seifenlauge abgerieben. Vor dem Mittagessen wurde am Boden ein Plüschläufer ausgebreitet, damit war der Feiertag eingeleitet. Am Samstagnachmittag ging die ganze Familie ins Tröpferlbad, und alle 14 Tage ging meine Mutter in die Waschküche im Haus unsere Wäsche waschen. Mein Vater hat seine Arbeit gemacht, aber sonst nichts. Ich frage mich heute noch, wie meine Mutter das alles geschafft hat. Dieses Leben funktionierte bis 1931, aber dann konnten wir von der Arbeit nicht mehr existieren.

In der Zwischenkriegszeit musste jeder, der ein Gewerbe ausgeübt hat, eine Meisterprüfung oder die Gesellenprüfung haben, um den Antrag auf Gewerbegenehmigung stellen zu dürfen. Er musste sich dann bei der jeweiligen Genossenschaft anmelden, dann war er erst berechtigt, das Gewerbe auszuüben. War er nicht Mitglied und hat trotzdem privat gearbeitet, hat er sich strafbar gemacht. Mein Vater war Mitglied der sozialdemokratischen Genossenschaft der Schuhmacher und seit 1929 ehrenamtlich gewählter Delegierter im Vorstand - also er war politisch engagiert. Jede Fachgruppe ist ein eigener politischer Körper gewesen. Unser Leben war ein reines dahinvegetieren, darauf warten, dass irgendein kleiner Schustermeister kommt und Arbeit bringt. Der Vorsitzende der Genossenschaft der Schuhmacher, Urbanek hat er geheißen, hat meinem Vater dann eine Teilzeitbeschäftigung, die mit 150 Schilling pro Monat dotiert war, verschafft: Jederzeit, wenn jemand einen Pfuscher entdeckt hat, einen der eine Werkstatt betrieben hat ohne Gewerbeschein, hat er die Genossenschaft verständigt. Dann ist der Kommissar der Gewerbebehörde zu meinem Vater gekommen, hat ihn abgeholt und zusammen sind sie zu der angegebenen Adresse gegangen und haben versucht, den Schuldigen sozusagen 'in flagranti' zu erwischen. Danach wurde ein Protokoll aufgenommen. Wenn der Pfuscher sich dann falsch verhalten hat, konnte er auch verhaftet werden. Das war eine scheußliche Zeit! Es war natürlich kein dankbarer Job, mein Vater hat natürlich viele Feinde gehabt, noch dazu war er auch Jude. Aber 150 Schilling bedeuteten die nackte Existenz. Zehn Schilling hat die Miete für unsere Wohnung gekostet, eine kleine Semmel hat fünf Groschen gekostet, und die so genannte Kaisersemmel hat sieben Groschen gekostet. Ich kann mich erinnern, in meiner Klasse war ein Bursch, dessen Vater war bei der Bahn Verschieber, und die waren fünf Kinder zu Hause. Der Mann hat 180 Schilling für seine Familie verdient. Aber der hatte das Geld fix, aber bei meinem Vater bestand immer die Gefahr, und das ist dann 1934 eingetreten, dass er vor dem 'Nichts' steht.
Period
Location

Wien
Austria

Interview
Max Tauber