Tag #119508 - Interview #78281 (Max Tauber)

Selected text
Mein Vater ist in die ganz normale Dorfschule gegangen, durfte aber samstags nicht schreiben. Mit dreizehn Jahren feierte er seine Bar Mitzwa [6], bekam Tallit [7] und Tefillin [8] und als er die Schule mit 14 Jahren, am 1. Juli 1905 abgeschlossen hatte, hat ihm mein Urgroßvater in ein Pinkel seine Habe eingepackt und am 2. Juli zu ihm gesagt: 'Jetzt gehst du nach Wien und suchst dir eine Lehrstelle. Ich brauch keine unnötigen Esser im Haus.

In Wien gab es eine jüdische Organisation, die junge jüdische Burschen vermittelt hat, und mein Vater kam zu einem Sattler - Pferdegeschirre waren damals noch sehr gefragt. Damals wurde ein Lehrbursch praktisch in die Familie integriert. Der Lehrherr war verpflichtet, für den Lehrling komplett zu sorgen. Der Sattler hat meinen Vater am ersten Tag unterwiesen, was er lernen muss, was er zu arbeiten hat. Nachts hat er mit anderen Gesellen in einem Bett - das war ein bisserl ein breiteres Bett - schlafen müssen. Am Abend hat er sich niedergelegt und nach ein paar Stunden fühlte er ein Krabbeln und ein Beißen, da war er übersät mit Wanzen. Um diese Zeit war das üblich in Wien, in vielen Wohnungen gab es Wanzen. Nach der zweiten Nacht, die nicht besser als die erste war, ist er auf und davon und zurück nach Weikendorf gefahren. Zur Begrüßung hat er erst einmal eine Watschen von seinem Großvater gekriegt: 'Willst im Hotel Sacher wohnen' hat er zu ihm gesagt. Dann hat mein Vater dem Großvater erzählt, dass er samstags bis zum Mittag arbeiten musste und kein koscheres Essen bekam, aber das hat den Großvater nicht interessiert. Er hat gesagt: 'Herrendienst geht vor Gottesdienst.' Nach einigen Tagen ist mein Vater wieder nach Wien gefahren und hat eine Schuhfabrik gefunden, in der ungefähr zwanzig Arbeiter angestellt waren. Der Besitzer der Schuhfabrik war ein ungarischer Jude, der Emanuel Deutsch hieß. Der hat ihn aufgenommen. Herr Deutsch war die Fortsetzung vom Urgroßvater: zur Begrüßung hat mein Vater eine Watschen bekommen. Der Herr Deutsch war kinderlos, gut situiert, aber er hätte sich nie keinen 14jährigen Buben ins Haus genommen. Mein Vater wurde bei einer Cousine meiner Großmutter als 'Bettgeher' - so hat das geheißen - einquartiert. Das bedeutet, er wurde verpflegt und hat am Abend kommen können, um dort zu schlafen - das war alles. Das Bett und die Kost hat der Herr Deutsch bezahlt. Nur an den christlichen Feiertagen, oder wenn er zufällig frei hatte, konnte mein Vater nach Hause fahren. Am Schabbat konnte er nie zu Hause sein, denn mein Urgroßvater hat akzeptiert, so religiös er auch war, dass mein Vater in Wien auch am Samstag arbeiten musste, aber wenn er gekommen wäre, hätte er nur zu Fuß kommen dürfen. Zu Hause, wenn mein Vater sich am Schabbat um G'ttes Willen nicht an alle religiösen Regeln gehalten hätte, wäre das für den Urgroßvater ein Kapitalverbrechen gewesen, aber in Wien spielte es keine Rolle. In dieser Zeit hat mein Vater begonnen, über die Verlogenheit der Religiosität nachzudenken.
Period
Location

Austria

Interview
Max Tauber