Tag #119206 - Interview #79443 (Rachelle Muzicant)

Selected text
In Wien hatten wir inzwischen eine Dreizimmerwohnung in der Kettenbrückengasse. Oft war auch meine Mutter aus Israel bei uns über mehrere Jahre zu Besuch. Aber sie wollte immer wieder zurück nach Israel. Israel war ihre Heimat geworden. Die Wohnung war etwas klein für so viele Leute, aber damit hatte ich kein Problem. Es war eine sehr schöne Zeit. Im Wohnzimmer war eine Eckbank. Da haben wir gesessen, und mein Mann und ich haben da geschlafen. Ari und Desi haben ein Zimmer gehabt, in dem auch meine Mutter geschlafen hat, und der David hat ein Zimmer gehabt. Mein Sohn Ari, der vier Jahre jünger ist, hat den David immer als seinen großen Bruder vorgestellt. Meine Tochter Desi war klein, sie war fast noch ein Baby, ungefähr zwei Jahre alt. Für sie war es dann selbstverständlich, dass er da war. Ich werde nie vergessen, dass mein Sohn, ohne dass ich es ihm gesagt habe, den David so gut aufgenommen hat. Das war sehr berührend! Beide Kinder waren überhaupt nicht eifersüchtig.

Jetzt standen wir wegen der Schule vor einem Problem. David hatte ja erst begonnen Deutsch zu lernen. Mein Mann und ich haben Russisch gesprochen, die Kinder nicht. Wir haben ihn dann im Theresianum untergebracht. Das war die einzige Schule mit einem Internat, in dem auch Russisch als Fach unterrichtet wurde. Ich habe gesagt, wenn er zu Hause bleibt, wird er nur russisch sprechen, und so konnte er sich schneller integrieren. Das Theresianum war nicht weit von unserer Wohnung entfernt, und jedes Wochenende kam er nach Hause. Dort war damals ein phänomenaler Mensch Direktor. Mein Mann hat ihm den Fall geschildert. ‚Wie machen wir das’, hat der Direktor meinen Mann gefragt. Da hat ihm mein Mann gesagt: ‚Schauen Sie, wir haben einen großen Sack Kohle und müssen ihn in den fünften Stock bringen. Das können wir nur mit einem Kübel rauf bringen, das heißt langsam, langsam, und schauen wir uns das an.’
So hat mein Mann das gesagt, und das hat sehr auf ihn gewirkt, und sie haben ihn aufgenommen. Wir haben ihm Nachhilfelehrer genommen für jedes Fach, Deutsch bis zur Matura. Er hat auch Latein lernen müssen. Ich hab gewusst, was er gern isst, und ich bin immer ins Internat gegangen und habe ihm Esspakete gebracht, die er natürlich mit allen Kindern dort geteilt hat. Allerdings war das Theresianum damals noch antisemitisch, und er hat Deutsch mit einem jiddischen Akzent gesprochen. Ich nehme an, der jiddische Akzent kam daher, dass seine Verwandten in Russland vielleicht Jiddisch gesprochen haben. Aber im Theresianum wurde auch Russisch unterrichtet, und das war gut für ihn. Das war für ihn wenigstens ein bisschen was von zu Hause. Er war ein Phänomen in der Schule, und manche Lehrer waren sehr nett. Die Kinder haben ihn, das war die Chrustschow [21] Zeit, Chrustschow genannt. Sicher hatte er es nicht leicht. Wir waren fremd für ihn, und die Gesellschaft war ihm fremd. Wir haben uns wirklich bemüht, ihm soviel Wärme wie möglich und ein zu Hause zu geben.

David hat maturiert ohne ein Jahr zu verlieren. Das war eine großartige Leistung! Jedes Wochenende ist er nach Hause gekommen. Die Urlaube haben wir natürlich zusammen verbracht. Ich freue mich, dass alles gelungen ist. Mein Mann wollte ihn nach der Matura nach Israel schicken, aber ich habe mich widersetzt. Dort wäre er verloren gewesen. Er hätte wieder von vorn beginnen müssen, wieder in einer ganz fremden Gesellschaft. Und die Familie meines Mannes, die in Israel gelebt hat, hätte sich seiner nicht annehmen können, weil sie eigene Sorgen hatten. Das Leben in Israel war und ist nicht so leicht. Ich denke, er wäre wirklich untergegangen. Aber dann hat er Medizin inskribiert und ist ein „Hippie“ geworden. Er ist von zu Hause ausgezogen, wir haben ein paar Jahre nichts von ihm gewusst.
Period
Location

Wien
Austria

Interview
Rachelle Muzicant