Tag #119187 - Interview #79443 (Rachelle Muzicant)

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Irgendjemand hat mir dann gesagt, wenn ich jüdische Gesellschaft suche, soll ich ins Gartenbau-Cafe gehen, da treffen sich die Frauen der Wizo [18], die spielen Karten. Ich hatte in Israel durch die geschäftlichen Verbindungen meines Mannes viel ältere Gesellschaft. Diese Damen waren sehr tüchtig, sie waren sehr gute Hausfrauen. Ich war lange Zeit allein, bis meine Mutter nach Wien gekommen ist, und dann hat sie bei mir gewohnt. Das war von Israel damals noch eine Weltreise um nach Wien zu Besuch zu kommen. In Wien musste ich neue Bekanntschaften finden. Die polnischen Juden waren die größte Gruppe unter den Juden in Wien. Sie kamen 1946 aus Lagern nach Wien. 1956, gerade als wir gekommen sind, war in Ungarn Revolution, und da sind viele Ungarn, darunter auch Juden nach Wien gekommen. Die Polen hatten schon einen höheren Lebensstandard. Gewohnt haben sie aber alle noch immer in Untermietzimmern aus Koffern, weil sie bis zum Staatsvertrag 1955 nicht gewusst haben, ob die Russen bleiben und sie wieder flüchten müssen. Das war mir alles so fremd, daran hab ich mich erst gewöhnen müssen.

Ein paar Damen, ehemalige Wienerinnen, haben mir imponiert. Da war eine gewisse Frau Eigler. Ihre Eltern waren noch vor Hitler gestorben, und eine Schwester hatte nach Australien geheiratet. Sie war mit einem Rumänen verheiratet, und den Krieg haben sie zusammen in Bukarest überlebt. Nach dem Krieg ist sie mit ihrem Mann nach Wien gekommen. Für diese Zeit damals waren sie wohlhabend. Sie hatten ein herrliches Appartement in der Karlsgasse. Diese Frau Eigler war die Erste, die mich zu einem Tee in ihre Wohnung eingeladen hat, denn in Wien hat man sich doch nur im Kaffeehaus getroffen. Und man musste auch anrufen, ob man kommen darf. Auch das war für mich so fremd, weil in Israel alles offen war, und alle Leute gesagt haben: komm zu uns nach Hause; es war auch alles formloser. Herr und Frau Eigler hatten eine Wohnung mit einem Kamin, vielen Möbeln, Stuckatur an der Decke…so etwas hatte ich noch nirgendwo gesehen. Durch sie habe ich dann noch andere Wiener Juden kennen gelernt. Sie waren während des Krieges emigriert und sind nach dem Krieg nach Wien zurückgekommen. Das war eine sehr nette Gesellschaft. Von diesen Damen lebt heute leider nur noch eine.
Period
Location

Wien
Austria

Interview
Rachelle Muzicant