Tag #118762 - Interview #78295 (Stella Semenowsky)

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Mein Mann war gerade 14 Tage in Wien. Er hatte bei der Heimwehr [16] eine hohe Funktion und hatte schreckliche Angst, dass alle Heimwehrleute sofort verhaften werden. So ist er zwei, drei Tage nach dem Einmarsch der Deutschen über die March, einen kleinen Fluss an der Grenze zur heutigen Slowakei, geschwommen. Mein Vater hat ihm dabei geholfen, denn er kannte Leute von den Donauschiffen. Einer von ihnen hat Marc bis zur March geführt und ihm gesagt: 'Da drüben ist die Tschechoslowakei, schwimm hinüber.' Als er aus dem Wasser gestiegen ist, wurde er angeschossen, und man hat ihn in Bratislava ins Gefängnis gesperrt. Ein tschechischer Zahnarzt-Kollege kannte einen Gefängniswärter, hat ihn bestochen und meinen Mann aus dem Gefängnis geholt. Ein tschechisch- jüdischer Kollege nahm ihn auf, der in Wien mit ihm an der Poliklinik gearbeitet hatte. Der hatte von illegalen Transporten nach Palästina gehört, die aus Griechenland weggehen sollten. Mein Mann ist mit der Bahn nach Athen gefahren und traf auf dem Bahnhof in Athen einen Freund aus Innsbruck. Sie hatten Hunger, aber kein Geld. Also sind sie zur jüdischen Gemeinde gegangen, wurden aber hinausgeschmissen. Die jüdische Gemeinde wollte prüfen, ob mein Mann wirklich jüdisch ist, und sie haben ihn aufgefordert, das 'Schma Israel' [17] zu sagen. Das hat er nicht gekonnt.

Dann ist meinem Mann die großartige Idee gekommen, zur weißrussischen Gemeinde zu gehen. Die haben ihn freudig aufgenommen, denn russisch konnte er ja. Sie haben ihnen zu essen gegeben, und am Hafen haben mein Mann und sein Freund dann das Schiff gefunden, das nach Palästina ging. Als sie dort ankamen, konnten sie nicht anlegen, weil die Engländer keine Juden herein gelassen haben. Aber sie sind dann bei Netanya [Anm.: Stadt in Israel] an Land geschwommen.

Ich bin mit einem illegalen Palästina-Transport aus Wien weggefahren. Wir wurden in Arnoldstein, an der italienischen Grenze, aufgehalten, weil das Schiff, das uns in Bari abholen sollte, nicht angekommen war. Die Italiener haben uns nicht herein gelassen, und so mussten wir auf der deutschen Seite bleiben. Der Zug ist drei Wochen an der Grenze gestanden - ohne Essen, ohne Trinken, ohne Toiletten. Aber das habe ich erst später erfahren. Nach ein paar Tagen ist mein Vater plötzlich am Bahnhof in Arnoldstein erschienen: Nachdem ich aus Wien weggefahren war, ist mein Zertifikat [18] nach Palästina gekommen. Mein Vater hat den ganzen Zug abgesucht, bis er mich gefunden hat. Daraufhin hat der Leiter des illegalen Transports gesagt: 'Da musst du jetzt aussteigen. Du gehörst nicht mehr zu uns.' So sind mein Vater und ich die ganze Nacht am Bahnhof gesessen. Obwohl es September war, war es nicht kalt. Die Bahnhofsbeamten haben uns Kaffee gebracht und waren furchtbar nett zu uns. In der Früh sind wir mit dem ersten Zug nach Wien zurückgefahren. Ich bin aufs Palästinaamt [19] gegangen, habe meine Papiere in Ordnung gebracht und bin dann ein paar Tage später legal nach Italien gefahren. Als ich Arnoldstein passierte, stand der Zug noch da. Die mussten dann zurück nach Wien und über die Donau nach Palästina.

Meine Schwester Helene ist zum Bruder meines Vaters nach Amerika geflüchtet.

Else ist mit einem illegalen Transport nach Palästina gekommen. Auch sie ist in Netanya in der Nacht heimlich vom Schiff ans Land geschwommen.

Blanka, die Jüngste, hat ganz großes Pech gehabt. Sie ist im November 1939 aus Wien mit einem Schiff die Donau hinunter gefahren. Das Schiff blieb in Jugoslawien liegen [20]. Blanka wurde gerettet, denn sie war unter 18, und die 15-18jährigen wurden gerettet. Alle anderen wurden ermordet, auch ihr Freund. Die Männer wurden erschossen, die Frauen und Kinder in Lastwagen vergast.

Blanka hat dann in Palästina bei einer Schifffahrtsgesellschaft gearbeitet.

Auch meine Mutter ist mit einem illegalen Transport über die Donau nach Palästina gekommen. Das Schiff wurde von den Engländern aber gekapert, und die Flüchtlinge wurden im Anhaltelager Atlith, bei Haifa, eingesperrt. Von dort wurden sie mit einem Schiff nach Mauritius, im Indischen Ozean, deportiert. Meine Mutter kam dann 1945 nach Palästina.
Interview
Stella Semenowsky
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