Tag #118365 - Interview #78311 (Richard Kohn)

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Im Lager hatte uns ein Pole gesagt, es seien 75 km bis zur russischen Grenze. Eines Tages hatten wir am äußersten Rand des Lagers zu tun. Wir mussten Baumstämme schleppen, und ich und ein deutscher Kommunist nutzten die Gelegenheit, in den Wald hinein zu laufen. Zuerst war er mir verdächtig, aber dann gewöhnte ich mich an ihn, er war ein ganz guter Kerl. Es gab im Lager zwei Hunde und vor denen hatte ich große Angst. Das waren wahrscheinlich die schrecklichsten Minuten in meinem Leben. Wir liefen und liefen, was sehr schwer war, weil soviel Kot auf den Wegen lag, aber andererseits beruhigte es mich, denn durch den Kot konnten die Hunde uns nicht so leicht finden.

Es ging schon auf den Abend zu, und es wurde dunkel, das hat uns geholfen. Wir liefen in Richtung Sowjetunion, in den Teil, der vor 1918 Galizien war. Wir liefen und liefen und es wurde Nacht, und wir kamen in eine kleine finstere Stadt. Wir wussten nicht, wohin wir gehen sollten, da sahen wir einen Tempel. Ich dachte, wenn hier ein Tempel steht, wohnen daneben bestimmt Juden, die müsste man fragen. Wir klopften ganz leise. Und dann sahen wir durchs Fenster ein Petroleumlicht. Plötzlich hörten wir eine ängstliche Stimme, die fragte: Kto tam [Wer ist dort]? 'Machen Sie bitte auf, lassen Sie uns bitte herein.' Er sagte auf Jiddisch:

'Nein, nein, wer seint ihr?' Ich antwortete: 'Wir sind Juden aus dem Lager.' Er hatte Angst, er glaubte mir nicht, weil ich nicht jiddisch sprechen konnte, aber nach einiger Zeit öffnete er die Tür. Er war ein orthodoxer Jude mit einem Bart, und er stand zitternd mit der Petroleumlampe vor uns. Ich sagte zu ihm: 'Haben Sie keine Angst, wir sind Juden! Wir sind aus dem Lager geflohen.' Da es keine Lagerkleidung gegeben hatte, trugen wir unsere Zivilbekleidung. Er ließ uns herein, und ich erzählte ihm alles. Er hörte mir genau zu und verstand. Dann brachte er ein sehr großes Stück Brot und etwas Honig. Wir aßen mit großem Appetit. Er wollte wissen, was wir vorhätten, und ich sagte, wir wollten nach Russland. 'Hier ist Russland', sagte er. Es war das Gebiet Polens, das die Sowjetunion durch den Hitler-Stalin-Pakt [9] im Sommer 1939 erobert hatte.

In derselben Nacht brachte er uns zu einem Polen, der in der nächsten Nacht einen Juden mit seiner Mutter zur Grenze führen sollte. Die Mutter war schwerkrank, sie lag auf dem Pferdewagen, und er war ein großer Jude mit einer Kippa auf dem Kopf. Wir sprachen miteinander und er erzählte, dass ein ganzer Zug mit Deutschen in die Luft geflogen sei. Er sagte: 'Das ist Emes.' Ich verstand ihn nicht. Jetzt verstehe ich jiddisch und etwas hebräisch. Emes heißt: Es ist wahr, es ist wirklich wahr!

Am nächsten Tag, in der Früh, sagte der Pole, der Jude übersetzte für uns, dass nicht weit entfernt ein kleiner Bach sei und auf der anderen Seite des Baches schon das Territorium der Sowjetunion. Es war ein Wald, ein sehr dichter Wald mit Gebüsch. Wir gingen neben dem Pferdewagen. Der Pole bekam von dem Juden Geld, aber wir hatten kein Geld. Der Jude schleppte seine kranke Mutter, und wir verabschiedeten und trennten uns. Wir gingen und wollten einen Bach überqueren, auf einmal sahen wir auf einer Erhöhung russische Soldaten. Sie saßen auf Pferden, und einer hielt das Gewehr auf uns und sagte: 'Dawai iditje nasad!' Das waren die ersten russischen Wörter, die ich hörte. Das heißt: Schnell geht zurück! Wir verstanden: wenn wir weiter gehen, werden wir erschossen. Wir gingen zurück, was sollten wir machen? Als es dunkel wurde, wir hatten nichts zu essen und waren sehr hungrig, gingen wir wieder los. Schön langsam, schön langsam!

Wir trafen einen alten und einen jungen Mann, die trugen eine Hacke und eine Säge und wollten von uns Geld, damit sie uns über den Bach bringen. Wir hatten kein Geld, und sie ließen uns stehen. Nach ungefähr 20 Minuten begegneten wir zwei deutschen Soldaten. Die schrieen: 'Halt, wer da?' Wir blieben stehen. 'Wer seid ihr?' Ich sagte: 'Juden!' 'Woher kommt ihr?' Ich sagte nicht, dass wir aus dem Lager geflohen waren, sondern: 'Aus Wien!' Einer war Österreicher und fragte: 'Sag mal, ist Wien noch ganz?' 'Ja, Wien ist noch ganz' sagte ich, aber ich wusste ja gar nichts über Wien seit ich nicht mehr dort war. 'Meine Mutter wohnt nämlich in Wien. Wohin geht ihr?' 'Zum Nachbarn' antwortete ich. 'Also geht,' sagte er 'aber wenn ihr zurück kommt, werden wir auf euch schießen.' Wir gingen durch den Bach. Am Rand war hohes Schilf. Wir krochen durch das Schilf, kamen hinaus, kletterten die Böschung hinauf. Auf einmal sahen wir sechs Rotarmisten, die Patrouille mit dem Bajonett liefen. Wir warfen uns hin und warteten eine halbe Stunde. Wir waren ganz nass, und wir froren furchtbar. Als sie weg waren, liefen wir in den Wald.

Der Deutsche war mir sehr dankbar, gab mir die Hand und sagte: 'Ich gratuliere dir! Wir sind in Russland!' Wir kamen zu einem kleinen Dorf mit drei, vier Holzhütten. In den Hütten wohnten Menschen, die waren so furchtbar arm, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich sagte nur: 'Schlafen!' Einer brachte uns in eine Scheune mit Stroh und Heu. Unsere Sachen wurden nicht trocken, und wir zitterten die ganze Nacht. Am nächsten Tag bekamen wir Brot und Molke. Uns schmeckte das sehr gut, so hungrig waren wir. Dann gingen wir weiter. Die Sonne schien und wärmte uns ein bisschen.

Wir waren frei! Da kamen zwei Juden mit Gewehren. Sie trugen Hüte mit roten Bändern. Einer sagte uns in gebrochenem Deutsch: 'Seid herzlich Willkommen! Ihr seid in Sowjetrussland!' Aber er warnte uns auch vor den russischen Soldaten, weil wir illegal die Grenze passiert hatten. Wir kamen zu einem Markt, dort waren Ukrainer, Polen und Juden. Man kaufte und verkaufte. Wir halfen einer alten Jüdin Kartoffeln nach Hause bringen, die sie gekauft hatte, und sie lud uns zu Tee und Gebäck ein. Wir durften bei ihr übernachten. Sie hatte keine Angst vor uns, und wir waren ihr sehr dankbar. Am nächsten Tag gab sie uns Brot auf den Weg, und wir gingen mit anderen Leuten zusammen in eine Stadt, und fuhren mit dem völlig überfüllten Zug nach Lemberg.

Lemberg war die Zentralstelle für alle Flüchtlinge. Lemberg hatte ursprünglich 360 000 Einwohner, und als ich dort lebte, waren es 1 ½ Millionen. Wir kamen am Abend des 11. November 1939 in Lemberg an und setzten uns auf eine Bank. Leise und bedächtig fiel Schnee, es war sehr schön. Ein Milizionär führte uns in eine Schule, Menschen lagen auf der Erde und schliefen. Wir übernachteten dort und bekamen Läuse. Ungefähr zwei Monate schlief ich dort. Jede Woche wurden wir zur Entlausung geführt, aber das war sinnlos, solange wir dort schliefen. Außerdem zogen wir nach der Entlausung wieder unsere schmutzigen Sachen an.
Interview
Richard Kohn
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