Tag #118347 - Interview #78289 (Gertrude Kritzer)

Selected text
Man muss unbedingt einen Kreis von Freunden haben. Das ist wichtig, weil
man sich geschützter fühlt. Mein Kreis ist einfach abhanden gekommen, ich
habe heute niemanden mehr. Meine guten Bekannten sind alle am vierten Tor
[Jüdischer Friedhof].
Sonntags gehe ich immer ins Maimonides Heim [Jüdisches Altersheim] zum
Mittagessen, weil ich dort eine gute Bekannte habe. Ich begrüße alle, die
ich kenne. Ich habe aber Angst, dass ich eines Tages hin muss. Ich möchte
es wirklich nicht. Ich habe meine angenehmen vier Wände, und ich will nicht
ins Heim. Den Gluskin, der ist hundert Jahre alt, den liebe ich. Es ist ein
Vergnügen mit ihm zusammen zu sein. Aber wenn mir einer erzählt, er habe im
Cheder gelernt und dann in seinem späteren Leben nur geschaut, viel Geld zu
verdienen, passt das für mich nicht zusammen. Ich werde immer einsamer,
aber auch im Heim kann man einsam sein. Als mein Bruder Ignatz dort war,
hatte er Glück, es gab eine nette Gesellschaft. Das waren Leute, die er
schon aus der Emigration in England kannte. Es war ein angenehmer Kreis,
aber alle sind schon gestorben.
Interview
Gertrude Kritzer