Tag #118125 - Interview #78298 (Gerda Feldsberg)

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Im habe Wien 1939 mit dem letzten Kindertransport [5] der Kultusgemeinde nach England verlassen. Die Eltern durften die Kinder nicht bis zum Zug bringen, aber mein Vater war schon damals im Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde und hat mich und meine drei jüdischen Freundinnen aus der Porzellangasse zum Bahnhof begleiten können. Meine Mutter musste zu Hause bleiben, in der Nacht war es sehr gefährlich.

Ich werde den Abschied nie vergessen: Meine Mutter konnte nicht reden. Sie hat nicht gewusst, ob sie mich je wiedersehen wird. Ich kann es heute noch nicht glauben, ich sehe noch immer, wie ihre Tränen rinnen. Meine Eltern hatten gesagt, dass sie nachkommen würden.

Aber als der Zug losgefahren und mein Vater am Bahnsteig gestanden ist, war es schrecklich. Meine Eltern hatten ein Permit [6] für England beantragt und hätten es wahrscheinlich auch bekommen, aber am 1. September 1939 begann der 2. Weltkrieg, und die Grenzen wurden geschlossen. Mein Vater war Sozialdemokrat, aber den Holocaust konnte er nicht voraussehen.

In England sollte mich ein Freund meiner Mutter vom Bahnhof abholen, aber ich musste zwei Stunden auf ihn warten. Einige Leute haben mich angesprochen und wollten mir helfen, aber ich habe ja nichts verstanden. Den ganzen Tag hatte ich nichts gegessen. Endlich kam der Bekannte meiner Mutter, ging mit mir Essen, und ich konnte auf die Toilette gehen.

Dann setzte er mich in einen Zug nach Liverpool. Im Zug von Wien nach London waren wir nur Kinder gewesen, in diesem Zug war ich aber vollkommen allein. Das waren vier schreckliche Stunden. Ich war ein achtjähriges Kind! Mitten in der Nacht kam ich in Liverpool an.

Ein sehr netter Mann holte mich vom Bahnhof ab, er sprach Jiddisch. Wir sind zu einer großen Villa gefahren. Der Mann hatte eine Frau und zwei Söhne, es war eine sehr fromme Familie. Ein Sohn war elf, der andere vierzehn Jahre alt. Aber nur der Mann sprach mit mir. Es war seine Idee gewesen, ein Kind aufzunehmen, die Frau war damit nicht einverstanden gewesen.

Ich war nach der langen Reise so müde, dass ich überhaupt nichts mehr gesehen habe. Ich weiß nur, einer der Burschen zeigte mir mein Zimmer. Ich musste Stiegen hinauf gehen, und man gab mir meinen Koffer hinein. Niemand kümmerte sich mehr um mich, ich bekam nicht einmal ein Glas Wasser.

Die Engländer sind sehr höflich; auch zum Briefträger sind sie sehr freundlich, sie sind zu jedem freundlich. Aber eine Mutter von zwei Söhnen, die einem kleinen Mädchen nach einer langen Reise nicht einmal ein Glas Wasser bringt, die ist schon sehr kaltherzig. Außer dem Gärtner, dem Chauffeur und dem Ehemann dieser Frau, der fast nie da war, hat niemand in diesem Haus mit mir gesprochen.

Ich schlief die erste Nacht sehr gut, weil ich so müde war. Am nächsten Morgen kam ein Hausmädchen in Uniform und zeigte mir das Badezimmer. Ich habe mich gewaschen und angezogen - meine Mutter hatte mir so schöne Sachen mitgegeben.

Dann aber wusste ich nicht, was ich tun sollte: hinuntergehen oder nicht. Ich bin hinuntergegangen; das Hausmädchen servierte das Frühstück; ich habe gegessen. Ich weiß nicht mehr, was ich danach gemacht habe, wahrscheinlich nichts.
Location

Liverpool
United Kingdom

Interview
Gerda Feldsberg