Tag #118056 - Interview #78276 (Renate Jeschaunig)

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Meine Mutter hatte die Matura und war eine ausgebildete Steuerfachfrau. Sie hatte lange für eine große jüdische Firma in der Buchhaltung gearbeitet und war für die Steuerangelegenheiten zuständig.

Mein Vater arbeitete mit dem berühmten Universitätsprofessor Doktor Wagner-Jauregg an der Behandlung der Syphilis mit Malaria. Wir besitzen noch die wissenschaftlichen Arbeiten, und mein Vater sollte habilitieren und Dozent werden.

Aber sein Professor starb, und der Professor Finger, der nach ihm das Amt übernahm, erklärte, er lasse einen Juden nicht habilitieren. Und das war lang, bevor der Hitler kam. Das war Anfang der 1920er-Jahre.

Die ersten Jahre nach meiner Geburt wohnten meine Eltern im 6. Bezirk in der Gumpendorfer Straße in dem Eckhaus vis-a-vis der Amerlingstraße. Dort war auch die Ordination meines Vaters.

Meine Mutter arbeitete nach der Hochzeit für meinen Vater als Ordinationshilfe und kümmerte sich um die Verrechnungen mit der Krankenkasse. Die Wohnung war aber sehr klein und nach ein paar Jahren übersiedelten wir in eine andere Wohnung im 5. Bezirk, und der Papa behielt die Wohnung in der Gumpendorfer Straße als Praxis.

1929 gelang es meinen Eltern ein Stockwerk des Bankhauses Liebig in der Wipplingerstraße 4 zu kaufen. In dem Stock ließ mein Vater eine Ordination und ein Wohnung für uns bauen.

Die Ordination bestand aus einem Damen Wartezimmer japanisch eingerichtet, einem Herren Wartezimmer eingerichtet a la Tonet, aber bestimmt waren die Tonetmöbel nicht echt, einem normalen Ordinationszimmer und einem Elektroordinationszimmer mit Höhensonne und Diatermie Apparat [Anm.: Unterwassermassage Apparat] und vielem anderen mehr, darunter auch einem sehr wertvollen Mikroskop.

Das Mikroskop ist das einzige, was die Mama retten konnte, als wir aus der Wohnung hinaus geschmissen wurden. Sie nahm einen weißen Polsterüberzug und steckte das Mikroskop hinein.
Period
Location

Austria

Interview
Renate Jeschaunig