Tag #117937 - Interview #78532 (Franziska Smolka)

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Meine Eltern haben alles für unsere Erziehung im Bereich Bildung getan und sich wirklich bemüht, uns alles zu bieten, was damals möglich war. Zuerst ging ich aufs Gymnasium in die Waltergasse, also um die Ecke, wo meine Eltern gelebt haben, weil das Gymnasium dort einquartiert war. Im Krieg war es ausgebombt worden, und dann übersiedelte es in den 10. Bezirk hinter dem Amalienbad. Außer mir gab es noch ein Mädchen in meiner Klasse, Vera Rabinowitz, das jüdische Eltern hatte. Ich besuchte keinen Religionsunterricht. In der dritten Klasse erzählte jemand, ich hätte gesagt, der liebe Gott könnte genauso gut ein Fisch sein, die Leute würden dran glauben. Ich bin überzeugt, dass ich so etwas nie gesagt habe, denn wenn ich etwas von meinen Eltern, insbesondere von meinem Vater, auf den Lebensweg mitbekommen habe, dann ist es Respekt vor dem Glauben anderer Menschen. Später hat mein Klassenvorstand immer wieder gesagt: Vera und du, ihr müsst ‚das’ ja wissen! Und für mich war 'ihr müsst das ja wissen' ganz klar, denn die Vera und ich kamen aus intellektuellen Häusern, und der Rest der Klasse nicht. Also wurden an uns andere Erwartungen gestellt. Erst viel später habe ich mir zusammengereimt, was damit wirklich gemeint war: Wir waren beide Jüdinnen!

Als ich 14 oder 15 Jahre alt war, in der 7. Klasse der Mittelschule, kam die erste Ausstellung über Ravensbrück nach Wien. Gleichzeitig lief im Wienzeile Kino die Vox Wochenschau über Hitler. Das war ein Zusammenschnitt aus Wochenschauen aus der Nazizeit. Da wurden wir mit der Schule hingebracht, um uns das anzuschauen. Dann begannen die ersten Diskussionen in der Klasse. Über die Ausstellung war ich sehr schockiert! Ich ging nach Haus und fragte meine Mutter, die sehr kurz angebunden darauf sagte: ‚Ja aber du weißt doch, dass die Großmutter jüdisch ist.’ Ich wusste gar nichts! Ich wusste nur, dass ‚Mitglieder der Familie meiner Großmutter umgekommen sind’, genau mit dieser Diktion! Meine Mutter hat immer gesagt, sie stammt aus einer jüdischen Familie. Manchmal hat sie auch gesagt, sie ist jüdischer Abstammung, mehr hat sie aber nicht gesagt. Ich wusste, dass ich aus einer Familie stamme, die jüdisch ist, aber ich wusste auch, mit mir hatte das nichts zu tun. Dass es sehr wohl auch etwas mit mir zu tun hat, habe ich erst viel später begriffen. Ich begann dann, mir selbst Informationen zu suchen.

In der 8. Klasse gab es dann schon sehr wilde Diskussionen über Politik. Meine Sitznachbarin war eine blond gebleichte Person, die die Nazis verteidigte. Sie bleichte ihre Haare deshalb blond, weil ihr Vater so gern eine blonde und blauäugige Tochter hatte. Er war aus Znaim [Tschechien] nach Österreich gekommen, Mitglied einer singenden Burschenschaft und sicher ein Nazi. Die Diskussionen spielten sich im Philosophieunterricht ab. Der Professor war eindeutig ein Linker, der das sehr souverän leitete. Trotzdem flogen manchmal die Fetzen. Einmal erzählte mir mein Klassenvorstand, dass Jahre später die Tochter vom Simon Wiesenthal [18] und die Tochter des Naziverbrechers Radakovic, die damals Rada hieß, in eine Klasse gingen. Da prallten die Dinge wirklich aufeinander. Aus der Stubenbastei [Anm.: Schule im 1. Bezirk] weiß ich, dass ein ehemaliger Schüler, der Tommy Rothschild erzählt hat, dass dort ein Schüler mit schwarzen Stiefeln und braunem Hemd in die Schule gekommen ist und dass da richtige Prügeleien stattgefunden haben. Soweit ging es bei uns nicht, wir waren eine Mädchenschule.

Mit 16 kam ich an das Buch von Wolfgang Leonhard [19] und war erschüttert. Und da machte ich die gleiche Erfahrung, wie mit der Ausstellung über Ravensbrück.
Interview
Franziska Smolka