Tag #117754 - Interview #82830 (Sylvia Segenreich)

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Als die Rumänen Czernowitz besetzt hatten, hat ein Rumäne, Ion Radulescu hieß er, die Bierbrauerei übernommen, in der mein Vater unter den Russen gearbeitet hatte. Sie haben sofort miteinander Freundschaft geschlossen. Obwohl die Rumänen Juden in dieser Zeit nicht besuchen durften, war er oft bei uns und hat uns auch geholfen. Mein Vater hat gesagt: Gehen wir zu einer öffentlichen Telefonzelle, schauen wir im Telefonbuch nach Ingenieur Ion Radulescu, ob seine Adresse drinsteht. Ich habe geschaut und den Namen gefunden. Weil mein Rumänisch wesentlich besser war, als das meines Vaters, habe ich angerufen und gesagt, wer ich bin. ‚Sylvia, bist du es, wo bist du?’ Ich habe ihm gesagt, dass ich in Bukarest bin. ‚Wieso, seit wann, mit wem, ist der Papa auch da?’ Ich habe gesagt, der Papa, die Mama sind da und die kleine Schwester ist auch da. Dass mein Bruder erschossen wurde, hat er schon gewusst. Das war vorher passiert. Er hat gesagt, dass wir alle sofort zu ihm kommen sollen. Er hat gesagt, dass er eine wunderschöne Villa hinter dem königlichen Palais hat. Aber mit uns waren doch noch die anderen, die auch im Zug waren. Ich habe gesagt, dass wir nicht alleine sind, und er sagte, dass wir alle kommen sollen. Wir kamen an eine wunderschöne Villa, aber es gab keine richtige Einfahrt, nur ein kleines Tor. Damals war es so, wenn wir die Pferde auf der Strasse hätten stehen lassen, hätten die Russen sie sofort mitgenommen. Und das ging doch nicht! Er hat uns gesagt, dass wir den Zaun niederreißen und mit den Pferden und dem Wagen hereinfahren sollen. Bukarest war von den Alliierten bombardiert worden, und seine Frau und die Kinder waren aufs Land geflüchtet. Er musste beruflich in Bukarest bleiben. Wir haben dann alle 1-2 Monate bei ihm gewohnt.
Interview
Sylvia Segenreich
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