Tag #117752 - Interview #82830 (Sylvia Segenreich)

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Anfang 1944 haben die Russen uns befreit, und wir konnten nach Czernowitz zurück.
Dann wollten die Russen uns zum Militär nehmen, meinen Vater und mich auch. Da haben wir uns herausgewunden, haben einen Russen bestochen und sind geflüchtet nach Dorohoi. Dorohoi ist eine kleine Stadt in Rumänien, gegenüber der Bukowina. Wir sind mit einem russischen Wagen zu Viert geflüchtet. Wir haben auch meinen Cousin mitgenommen, den Tuvie, der heute in Israrel lebt. Er hat die Papiere meines Bruders bekommen. Wir haben gesagt, dass er mein Bruder ist. Irgendwelche Papiere brauchte man, wenn man dort angekommen ist. Gut, wir haben ein bissl die Namen geändert, als wir nach Rumänien kamen. Von Mai 1944 bis September 1944 haben wir in Dorohoi gelebt. Ich bekam dort Bauchtyphus, aber das sind nur so Kleinigkeiten. Wir hatten Angst vor den Russen, weil wir ja geflüchtet waren mit den falschen Papieren. So sind wir immer hinter der Front hergezogen. Unser Ziel war Bukarest. Mein Vater hat das organisiert. Wir waren 12 Familien mit Wagen und Pferden. Zwei, drei Familien haben sich immer zusammen ein, zwei Pferde und einen Wagen gekauft, und das bissl Hab und Gut was man mitgehabt hatte, hat man dort raufgelegt und ist gefahren. Aber Bukarest war noch nicht befreit. So sind wir hinter der Front gegangen. Überall lagen tote Pferde, und ich weiß, die Russen wollten uns unsere Pferde wegnehmen. Aber wir wollten sie natürlich nicht hergeben. Als wir in Vakau, einer kleinen Stadt nahe Bukarest ankamen, konnten wir schon kaum noch.

Wir haben schon nicht mehr können, soviel Tage und Nächte waren wir mit den Pferden unterwegs. Mein Vater ist in Vakau zum Bahnhof gegangen. Damals sind schon Züge wieder von Vakau nach Bukarest gefahren. Das waren aber keine Personenzüge. Er ist zum Bahnhofsvorstand gegangen und hat ihm vorgeschlagen, dass er uns einen Viehwaggon zur Verfügung stellt. Der sagte, dass er das nicht machen könne, weil er alles eintragen müsse. Mein Vater sagte: Dann wirst du diesen Waggon nicht eintragen! Er hat ihm eine schöne Summe gegeben. Wir hatten noch ein bisschen Schmuck, den haben wir verkauft und für das Geld hat er uns einen Waggon zur Verfügung gestellt. Er hat den Waggon nicht eingetragen und uns gesagt, das sei in Bukarest dann unsere Sache. Er wisse jedenfalls dann nichts von uns.

Wir haben einen Wagen und ein paar Pferde mitgenommen. In dem Waggon waren der Wagen und die Pferde und viele Leute. Die anderen Pferde und Wagen haben wir vor der Fahrt nach Bukarest verkauft. Mein Vater war ja Pferde gewöhnt, und er hat gedacht, dass er die Pferde in Bukarest vielleicht noch brauchen kann. ‚Ich weiß ja nicht, was ich machen werde, also warum soll ich sie jetzt verkaufen, ich nehme sie mit’, hat mein Vater gesagt. Er hat sie mit Müh und Not in den Waggon hereingebracht. Aber es gab eine Rampe, da sind wir mit dem Wagen herein gegangen. Wir haben dann sogar die eine Nacht mit den Anderen auf dem Wagen geschlafen. Wir hatten Stroh und haben uns hingelegt. Auf einem Bahnhof vor Bukarest kam der Bahnhofsvorsteher und sagte, dass wir aussteigen müssen. Mein Vater sagte, er steige nicht aus, er fahre nach Bukarest. Der Bahnhofsvorsteher hat ihm dann gesagt, dass er dort nicht aussteigen könne. Aber die Rumänen hatten den Juden gegenüber ein bissl ein schlechtes Gewissen, denn wir haben gesagt, dass wir aus dem Lager kommen. Sie waren am Tod von sehr vielen Juden beteiligt, denn sie waren die Verbündeten der Deutschen. Also konnten wir weiterfahren.

Wir kamen in Bukarest auf dem Hauptbahnhof an, und der Bahnhofsvorsteher hat gesehen, dass unser Waggon nicht eingetragen ist. Er hat uns gefragt, wo wir eingestiegen sind. Mein Vater hat gesagt: ‚Ich weiß nicht, wir kommen aus dem Lager. Wir waren auf irgendeinem Bahnhof, ich weiß nicht, wo das war. Der Waggon war leer, und wir sind einfach eingestiegen.’ Aber ihr könnt hier nicht aussteigen’, sagte der Bahnhofsvorsteher. ‚Das können wir doch’, sagte mein Vater. Mein Vater und mein Cousin haben mit Hilfe der Seitenbretter des Wagens die Pferde und den Wagen auf den Bahnsteig hinunter geschafft, und noch heute sehe ich den Bahnhofsvorsteher vor mir, wie er da steht und höre, wie er sagt: So etwas habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen - Pferde und Wagen auf dem Bahnhof in Bukarest. Das war noch nicht da! Ja, so haben wir uns durchgeschlagen.
Interview
Sylvia Segenreich
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