Tag #117739 - Interview #82830 (Sylvia Segenreich)

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Mein Vater ist nie auf Urlaub gefahren, weil er durch die Arbeit nicht weg konnte. Um G’tteswillen, man hatte damals keine Zeit, man konnte das Geschäft nicht allein lassen, das gab es nicht! Es waren soviel Arbeiter, die bei uns gewohnt haben, und die Pferde mussten versorgt werden. Mein Vater hat zum Beispiel das Getreide für die Pferde, den Hafer, immer in zwei bis drei sehr großen Wagen beim Großhändler gekauft. Wir hatten zehn riesengroße Magazine. Ein Mal hatte er keine Zeit, den Hafer zu holen, und es war schon wenig da. Nicht weit von uns gab es einen Getreidehändler, Sonntag hieß er. Er war auch Jude. Da hat mein Vater einen Arbeiter und mich zum Herrn Sonntag geschickt. Ich sollte auf die Waage aufpassen. Ich war damals vielleicht sechs Jahre alt. ‚Papa, ich kenn mich doch nicht aus,’ habe ich gesagt. ‚Ich weiß’, sagte mein Papa ‚du brauchst nichts machen. Nur schauen, dass der Herr Sonntag nicht den Fuß hinten auf die Waage stellt, und du musst schauen, dass die zwei Zeiger sich decken. Sonst brauchst du nichts machen.’ Und weil der Papa gesagt hat, ich soll schauen, habe ich geschaut, ob der Herr Sonntag den Fuß hinten auf die Waage legt. Als ich schon älter war, vielleicht zwölf, hat der Herr Sonntag, wenn ich dabei war, wenn das Futter für die Pferde bei ihm gekauft wurde, immer gesagt: ‚Nu Mädele kommst schauen, ob ich die Waage richtig eingestellt habe? Er hat mich sehr gern gehabt, der Herr Sonntag. Das sind so Erinnerungen…
Location

Czernowitz
Ukraine

Interview
Sylvia Segenreich