Tag #117724 - Interview #82830 (Sylvia Segenreich)

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Meine Familie war religiös. Mein Vater hat Tefillin [5] gelegt und mein Bruder nach seiner Bar Mitzwa [6] auch einige Zeit. Wir haben Pessach gefeiert und ganz traditionell den Seder [7] begangen. Wir lebten streng koscher und wenn das Dienstmädel ein Mal ein Messer, das für milchig war für fleischig benutzt hatte, wurde das Messer sofort draußen in die Erde gesteckt und musste drei Tage in der Erde sein. Mein Vater ist aber nicht dauernd mit einer Kipa [Kopfbedeckung] gegangen. Aber zu den Feiertagen trug er natürlich eine Kopfbedeckung und den Schabbat [8] haben wir auch gefeiert, und da wurde der Kiddusch [9] gesprochen. Manchmal waren wir zu den Feiertagen bei Verwandten , aber meisten sind sie zu uns gekommen, denn in unserem Haus waren so viele Arbeiter, da ist meine Mutter lieber zu Hause geblieben. Am Samstag wurde trotz Schabbat gearbeitet. Was hätte man denn machen sollen? Das wäre ein zu großer finanzieller Verlust gewesen. Zu den Hohen Feiertagen [10] bekamen wir Kinder immer neue Kleider, und die Feiern waren sehr traditionell. In unserer Umgebung gab es ungefähr 15 Schils [jiddisch für Synagogen], es waren viele. Es war sogar in unserer Nähe eine kleine Schil, da hatten wir Plätze, aber zu den Feiertagen sind wir nicht dort hingegangen. Dort war ein Dajan [rabbinischer Richter], nicht ein Rebbe [jiddisch für Rabbiner]. Zu den Feiertagen wurde die Tombey Halle gemietet. Die war sehr groß, und da sind sehr viele hingegangen. Wir haben nicht im jüdischen Viertel gewohnt, aber meine Großmutter lebte nicht weit vom jüdischen Viertel. Sicher hat man dort Kaftan [traditionelles Kleidungsstück] und Pejes [11] gesehen, auch am Schabbes. Das war alles in der jüdischen Gasse, so hat es geheißen. In den vier Häusern meiner Großmutter haben zwanzig Parteien gewohnt, alle waren Juden. Sie hat nur an Juden vermietet. Da gab es auch ebenerdige Wohnungen, die billiger waren. Da lebten fromme Leute mit sechs, sieben oder acht Kindern. Das habe ich gesehen. Die Männer trugen immer einen Hut, und auch Pejes. Aber sie trugen keine weißen Socken, das waren arme Leute. Die hat man unterstützt! Aber der Oberrabbiner vom Großen Tempel, der Mark, war ein moderner Rabbiner. Der hatte dasselbe Schicksal wie mein Bruder.
Interview
Sylvia Segenreich