Tag #117719 - Interview #78532 (Franziska Smolka)

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Nach dem Krieg [1. Weltkrieg 1914-1918] fuhr mein Großvater regelmäßig nach Wien auf die Landesproduktenbörse im 2. Bezirk in der Taborstraße. Heute beherbergt das Gebäude das Theater ‚Odeon’, denn die Landesproduktenbörse existiert schon lange nicht mehr. In diesem Theater ‚Odeon’ trat zweimal, seit seinem Bestehen, der ‚Wiener Jüdische Chor’, deren Mitglieder mein Mann und ich sind, auf. Der Großvater schickte seinen Kindern immer Postkarten von diesen Aufenthalten in Wien. Auf einer Postkarte, die in meinem Besitz ist, schreibt er: ‚Lernts gut, sonst kommt ihr in die Urania.’ Seine Kinder waren überzeugt, dass die Urania eine Anstalt für schwererziehbare Kinder sei. Dabei war das die erste Volkshochschule in Wien, und er war der Meinung, wenn sie in der Schule nicht gut sind, können sie noch immer in die Volkshochschule gehen.

Die Großmutter sagte, der Großvater sei kein sehr glückvoller Geschäftsmann gewesen. In Wirklichkeit war sie die Seele des Geschäftes. Er hatte zum Beispiel große Probleme, mit seinen Geschäftspartnern zu irgendeinem Abschluss zu kommen. Wenn es zu lange dauerte, erschien sie im Zimmer und sagte: ‚Pepi, wann kommt denn der Herr Sof? Sof heißt auf jiddisch das Ende. Sie konnte kein jiddisch, aber dieses Wort kannte sie.

Es hieß immer: ‚Hotel Bendiner arbeitet gut’, weil in der Wohnung täglich mindestens zehn Leute zum Mittagstisch waren. Die Urgroßmutter, die Kinder, und es war damals üblich, dass man selbstverständlich die Kinder von Verwandten, die eine Ausbildung, zum Beispiel in unserem Fall, in Graz machen wollten, aufnahm. Lisl Dembsky, die Tochter vom Onkel Schmieder, dem Bruder meiner Großmutter, ging zusammen mit meiner Tante Irma auf die Schneiderei-und Modefachschule. Oder zum Beispiel die Kinder vom Alois, dem Bruder meines Großvaters. Alois war ein Spieler und verspielte sein Geschäft. Meine Großmutter sagte:
‚Geld kriegt er keines von mir, aber die Kinder- Alois hatte ja fünf Kinder- können jederzeit kommen, und ich werde sie durchfüttern.’ Das tat sie auch und daher entstanden die sehr nahen Beziehungen der Cousins und Cousinen zueinander. Meine Mutter und ihre Geschwister verstanden sich sehr gut. Es gab, wie in jeder Familie eine Hackordnung, das ist klar! Aber ich habe nie gehört, dass es irgendwelche groben Zwistigkeiten gab, im Gegenteil. Der Großmutter ist es gelungen und darauf war sie sehr stolz, zu erreichen, dass ihre Kinder alle wie Kletten zusammenhielten, obwohl sie durch den Holocaust in alle Welt verstreut waren. Mein Mann hat das als ein fast pathologisches Geschwistergefühl bezeichnet, weil den meisten der Geschwister meiner Mutter, ihre Geschwister und deren Kinder wichtiger waren, als die eigenen Ehepartner.
Interview
Franziska Smolka