Selected text
Ich wuchs in dem Bewusstsein auf, dass wir eine jüdische Familie sind, aber nicht religiös. Das hatte zur Folge, dass mein Bruder und ich für die jüdische Gesellschaft nicht jüdisch waren und nicht dazu gehörten, aber jüdisch genug waren für die Antisemiten. Das Judentum für uns war eigentlich nur negativ beladen, denn über den Holocaust wurde sehr viel in der Familie gesprochen, darüber, dass viele Verwandte ermordet wurden. Wir hatten auch Verwandte und Bekannte in England, die nach Palästina gegangen waren, um für den Staat Israel zu kämpfen, und manche verloren dabei ihr Leben. Mit Israel waren meine Eltern immer solidarisch. Mein Vater verleugnete nie seine jüdische Herkunft, seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, wohl aber die Religion - bis zu seinem Tode. Als kleiner Junge sagte ich immer: ‚Wir sind keine Juden, denn wir glauben nicht an Gott, aber mein Großvater ist Jude, denn der geht immer in die Synagoge in der Abbey Road.’ Dass auch ich jüdisch bin, war mir in den ersten Tagen in Wien noch nicht bewusst, aber es wurde mir dann schnell bewusst gemacht: Ich spielte oft mit einem Buben auf der Straße vor dem Haus. Als wir einmal zu streiten begannen, kam ihm seine Großmutter zu Hilfe und sagte zu mir: ‘Geh ham, du Jud’. Das war das erste Zusammentreffen mit der Tatsache, dass ich Jude bin, dass ich anscheinend etwas anderes bin als die anderen. Als ich das zu Hause meinem Vater erzählte, sagte er: ‚Wenn dir das noch einmal jemand sagt, dann verprügel ihn.’ Und ich sagte: ‚Aber wenn er größer und stärker ist als ich?’ ‚Dann verprügelst du ihn trotzdem’, sagte mein Vater. Und genau so praktizierte ich das dann.
Ich war in der Klasse der einzige Jude. Wir wohnten in Mauer, und ich ging in Wien im 1. Bezirk in die Oberstufe der Stubenbastei [Anm. Gymnasium]. In den fünfziger Jahren begann man in Amerika schwarze Kinder in die Schulen zu integrieren, in die bisher nur Weiße gingen. Da waren große Aufregungen, besonders in Little Rock in Arkansas, und schwarze Kinder wurden verprügelt. Wir hatten einen Biologieprofessor in der Schule, er war Kriegsinvalide, und der sagte, was sich in Amerika an Rassismus abspiele sei furchtbar, so etwas wäre in Österreich nie möglich. Und ich sagte: ‚Aber Herr Professor, es sind doch erst 12 Jahre her, dass in Österreich jüdische Kinder aus den Schulen hinausgeschmissen wurden.’ Daraufhin sagte er, ich würde an Verfolgungswahn leiden, so etwas hätte es in Österreich nie gegeben. Ein Mann, der im Krieg war und sehr wohl wusste, was passiert war, nicht hatte wegschauen können, log einfach.
Oder wenn ich auf Schikurs mit der Klasse fuhr, erzählten Lehrer von ihrer herrlichen Kriegszeit, und ich wusste sehr genau, dass ich auf der anderen Seite stehe. Ich hatte wenig Kontakt zu meinen Mitschülern und glaubte immer, das läge daran, dass ich sofort nach der Schule nach Hause nach Mauer fuhr, daher wenige Berührungspunkte mit den anderen Kindern hatte.
Anlässlich des 25sten Matura-Jubiläums machte ich einen Schulkollegen ausfindig, der inzwischen in Berlin lebt. Er war von sudetendeutschem Adel, und nach der Maturafeier übernachtete er bei meiner Frau und mir. In der Früh beim Frühstück sagte ich:
‚Weißt du, ich war ja nie in die Klasse integriert, weil ich in Mauer gewohnt hab und alle anderen Kinder im 1. und 3. Bezirk.’ Und er sagte:
‚Das kann doch nicht dein Ernst sein!’
‚Na sicher, wieso nicht?’
‚Lebst du hinterm Mond?’ Und dann erzählte er, dass alle wussten, dass ich ein jüdisches Kind war, und die anderen Kinder waren zum Beispiel Kinder eines Nazianwaltes, eines Ariseurs usw. ‚Deswegen hast du nie dazugehört!’
Es dauerte also 25 Jahre, bis ich drauf kam, warum ich nicht dazugehörte. Das war ein perfekter Verdrängungsmechanismus! Der Antisemitismus, den ich von meinen Mitschülern erlebte, war in Österreich zu dieser Zeit völlig normal, und ich glaube, er hat nie aufgehört, obwohl meine Kinder behaupten, dass sie in der Schule keine antisemitischen Erfahrungen gemacht haben.
Als ich 12 Jahre alt war, kam mein mütterlicher Großvater aus London zu Besuch nach Österreich, verbrachte den Sommer mit uns auf einem Bauernhof in Tirol und fragte mich:
‚Kannst du dir vorstellen, eine Nichtjüdin zu heiraten?’ Ich sagte: ‚Selbstverständlich, es sind doch alle Menschen gleich, ich mache keinen Unterschied.’
Und da sagte er: ‚Dort in der Bücherstellage sind Gedichte von Heine, gib sie mir!’
Ich brachte sie ihm und er suchte das Gedicht von der Donna Klara heraus, die mit dem Heiß geliebten Ritter zusammen ist, und sie sagt ständig etwas über die gottverdammten Juden und darauf sagt er nach der gemeinsamen Liebesnacht zu ihr: ‚Ich, Sennora, Eur Geliebter, bin der Sohn des vielgelobten, großen, schriftgelehrten Rabbi Israel von Saragossa.’
Mein Großvater sagte: ‚Wenn du eine Nichtjüdin heiratest, wird immer dieses Thema aufkommen. Wenn man streitet, wirst du plötzlich der Jude sein!’ Ich hielt das für Unsinn, aber ich liebte den Großvater sehr, also widersprach ich ihm nicht, und als ich älter war, verstand ich sehr genau, was er gesagt hatte.
Meine Frau lernte ich als 14jähriger auf einer Geburtstagspartie kennen. Damals waren meine Freunde größtenteils jüdische Kommunistenkinder, die vielleicht nicht mehr Kommunisten und noch nicht wieder Juden waren. Franzi war gerade 12 Jahre alt, die Nichte von Ernst Fischer, der ja bis 1951 ein Freund der Familie war, und sie verehrte mich sofort. Wir fuhren nach unserer ersten Begegnung auf einen Schikurs zusammen, sahen uns dann aber eher zufällig höchstens einmal im Jahr.
Ich war in der Klasse der einzige Jude. Wir wohnten in Mauer, und ich ging in Wien im 1. Bezirk in die Oberstufe der Stubenbastei [Anm. Gymnasium]. In den fünfziger Jahren begann man in Amerika schwarze Kinder in die Schulen zu integrieren, in die bisher nur Weiße gingen. Da waren große Aufregungen, besonders in Little Rock in Arkansas, und schwarze Kinder wurden verprügelt. Wir hatten einen Biologieprofessor in der Schule, er war Kriegsinvalide, und der sagte, was sich in Amerika an Rassismus abspiele sei furchtbar, so etwas wäre in Österreich nie möglich. Und ich sagte: ‚Aber Herr Professor, es sind doch erst 12 Jahre her, dass in Österreich jüdische Kinder aus den Schulen hinausgeschmissen wurden.’ Daraufhin sagte er, ich würde an Verfolgungswahn leiden, so etwas hätte es in Österreich nie gegeben. Ein Mann, der im Krieg war und sehr wohl wusste, was passiert war, nicht hatte wegschauen können, log einfach.
Oder wenn ich auf Schikurs mit der Klasse fuhr, erzählten Lehrer von ihrer herrlichen Kriegszeit, und ich wusste sehr genau, dass ich auf der anderen Seite stehe. Ich hatte wenig Kontakt zu meinen Mitschülern und glaubte immer, das läge daran, dass ich sofort nach der Schule nach Hause nach Mauer fuhr, daher wenige Berührungspunkte mit den anderen Kindern hatte.
Anlässlich des 25sten Matura-Jubiläums machte ich einen Schulkollegen ausfindig, der inzwischen in Berlin lebt. Er war von sudetendeutschem Adel, und nach der Maturafeier übernachtete er bei meiner Frau und mir. In der Früh beim Frühstück sagte ich:
‚Weißt du, ich war ja nie in die Klasse integriert, weil ich in Mauer gewohnt hab und alle anderen Kinder im 1. und 3. Bezirk.’ Und er sagte:
‚Das kann doch nicht dein Ernst sein!’
‚Na sicher, wieso nicht?’
‚Lebst du hinterm Mond?’ Und dann erzählte er, dass alle wussten, dass ich ein jüdisches Kind war, und die anderen Kinder waren zum Beispiel Kinder eines Nazianwaltes, eines Ariseurs usw. ‚Deswegen hast du nie dazugehört!’
Es dauerte also 25 Jahre, bis ich drauf kam, warum ich nicht dazugehörte. Das war ein perfekter Verdrängungsmechanismus! Der Antisemitismus, den ich von meinen Mitschülern erlebte, war in Österreich zu dieser Zeit völlig normal, und ich glaube, er hat nie aufgehört, obwohl meine Kinder behaupten, dass sie in der Schule keine antisemitischen Erfahrungen gemacht haben.
Als ich 12 Jahre alt war, kam mein mütterlicher Großvater aus London zu Besuch nach Österreich, verbrachte den Sommer mit uns auf einem Bauernhof in Tirol und fragte mich:
‚Kannst du dir vorstellen, eine Nichtjüdin zu heiraten?’ Ich sagte: ‚Selbstverständlich, es sind doch alle Menschen gleich, ich mache keinen Unterschied.’
Und da sagte er: ‚Dort in der Bücherstellage sind Gedichte von Heine, gib sie mir!’
Ich brachte sie ihm und er suchte das Gedicht von der Donna Klara heraus, die mit dem Heiß geliebten Ritter zusammen ist, und sie sagt ständig etwas über die gottverdammten Juden und darauf sagt er nach der gemeinsamen Liebesnacht zu ihr: ‚Ich, Sennora, Eur Geliebter, bin der Sohn des vielgelobten, großen, schriftgelehrten Rabbi Israel von Saragossa.’
Mein Großvater sagte: ‚Wenn du eine Nichtjüdin heiratest, wird immer dieses Thema aufkommen. Wenn man streitet, wirst du plötzlich der Jude sein!’ Ich hielt das für Unsinn, aber ich liebte den Großvater sehr, also widersprach ich ihm nicht, und als ich älter war, verstand ich sehr genau, was er gesagt hatte.
Meine Frau lernte ich als 14jähriger auf einer Geburtstagspartie kennen. Damals waren meine Freunde größtenteils jüdische Kommunistenkinder, die vielleicht nicht mehr Kommunisten und noch nicht wieder Juden waren. Franzi war gerade 12 Jahre alt, die Nichte von Ernst Fischer, der ja bis 1951 ein Freund der Familie war, und sie verehrte mich sofort. Wir fuhren nach unserer ersten Begegnung auf einen Schikurs zusammen, sahen uns dann aber eher zufällig höchstens einmal im Jahr.
Interview
Timothy Smolka