Tag #116786 - Interview #79580 (Timothy Smolka)

Selected text
Ich wuchs in dem Bewusstsein auf, dass wir eine jüdische Familie sind, aber nicht religiös. Das hatte zur Folge, dass mein Bruder und ich für die jüdische Gesellschaft nicht jüdisch waren und nicht dazu gehörten, aber jüdisch genug waren für die Antisemiten. Das Judentum für uns war eigentlich nur negativ beladen, denn über den Holocaust wurde sehr viel in der Familie gesprochen, darüber, dass viele Verwandte ermordet wurden. Wir hatten auch Verwandte und Bekannte in England, die nach Palästina gegangen waren, um für den Staat Israel zu kämpfen, und manche verloren dabei ihr Leben. Mit Israel waren meine Eltern immer solidarisch. Mein Vater verleugnete nie seine jüdische Herkunft, seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk, wohl aber die Religion - bis zu seinem Tode. Als kleiner Junge sagte ich immer: ‚Wir sind keine Juden, denn wir glauben nicht an Gott, aber mein Großvater ist Jude, denn der geht immer in die Synagoge in der Abbey Road.’ Dass auch ich jüdisch bin, war mir in den ersten Tagen in Wien noch nicht bewusst, aber es wurde mir dann schnell bewusst gemacht: Ich spielte oft mit einem Buben auf der Straße vor dem Haus. Als wir einmal zu streiten begannen, kam ihm seine Großmutter zu Hilfe und sagte zu mir: ‘Geh ham, du Jud’. Das war das erste Zusammentreffen mit der Tatsache, dass ich Jude bin, dass ich anscheinend etwas anderes bin als die anderen. Als ich das zu Hause meinem Vater erzählte, sagte er: ‚Wenn dir das noch einmal jemand sagt, dann verprügel ihn.’ Und ich sagte: ‚Aber wenn er größer und stärker ist als ich?’ ‚Dann verprügelst du ihn trotzdem’, sagte mein Vater. Und genau so praktizierte ich das dann.
Period
Interview
Timothy Smolka