Tag #116774 - Interview #79580 (Timothy Smolka)

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Wenige Wochen nach der Geburt kehrte die Großmutter dann zum Großvater nach Wien zurück. Fünf Jahre später wurde am 18. Juli 1918 meine Tante Anita und dreizehn Jahre später, am 16. März 1926, wurde Siegfried Michael in Wien geboren. Die Familie wohnte in Hietzing, wo der Großvater in der Jagdschlossgasse 27 ein Haus gekauft hatte. Berta hatte ihrem Vater bei ihrer Hochzeit versprochen, ein ordentliches jüdisches Haus zu führen und das befolgte sie auch. Es wurde mit viel Aufwand koscheres Fleisch besorgt, denn das war damals in Lainz [Teil des 13. Bezirkes] nicht so leicht: Man kaufte es in Mariahilf [6. Bezirk], übergab es dem Fahrer der Straßenbahnlinie 59, der es bis zur Endstation Lainz mitnahm, wo es dann vom Hauspersonal abgeholt wurde. Machmal war es auch so, dass die Aufgabe des Lehrlings, den mein Großvater im Geschäft hatte, unter anderem darin bestand, das koschere Fleisch nach Lainz ins Haus der Großeltern zu bringen. Als ein Verehrer meiner Mutter einmal am Jom Kippur [7], dem höchsten jüdischen Feiertag, zu Besuch kam und auf Befragen sagte, er wäre mit der Tramway gekommen, wurde er hinausgeworfen, denn am Jom Kippur ist es unter anderem auch verboten, mit der Straßenbahn zu fahren. Andererseits war Berta nach der letzten Mode gekleidet, hatte einen modernen Haarschnitt, einen Bubikopf, und war mitunter blondiert. Sie liebte es auch, im Sommer nackt im Garten in der Sonne zu liegen - sie war also nicht in allem das Bild einer frommen jüdischen Frau.
Interview
Timothy Smolka