Tag #116539 - Interview #79580 (Timothy Smolka)

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Nach der sechsten Klasse trat ich aus dem Gymnasium aus und fand eine Stelle als Praktikant in einer Eisenwarenfabrik. Während der dortigen Lehrzeit besuchte ich Abendkurse der Handelsschule, ich war aber im ganzen zweimal dort. Als ehemaliger Gymnasiast lehnte ich mich gegen das „du“ eines nervösen Professors in frecher Weise auf, worauf er die Türe öffnete, meinen Hut in weitem Bogen hinauswarf und unter großem Hohngelächter meiner ‚Kameraden’ mich aufforderte, dem Hut schleunigst zu folgen. Hut und Smolka sah er niemals wieder. Ich habe mir meine kaufmännischen Wissenschaften später durch Privatstudium angeeignet, lernte fleißig deutsche Stenographie, die tschechische konnte ich zur Genüge, und begann mit dem Studium fremder Sprachen, die mich ganz besonders interessierten. Mein Chef war ein sehr tüchtiger Mann, aber nicht sehr fortschrittlich. Er fand es unerhört, als ich eines Tages mit einem auf Raten gekauften Fahrrad vor dem Geschäft abstieg und verbat mir derartige Neueinführungen. Hingegen duldete er es recht gern, wenn man täglich bis acht Uhr Abend im Büro saß, sonntags bis Mittag und an Feiertagen den ganzen Tag arbeitete. Diesbezüglich hat es nie einen Anstand gegeben. Als besonderes Merkmal blieb mir ein Sprachfehler von ihm in Erinnerung und seine Schrift, die kein Mensch entziffern konnte, hingegen hielt er auf eine kalligraphische Schrift bei seinen Angestellten. Die Fabrik war in Cenkov, das Büro in Prag. Es war eine mittelgroße Eisenwarenfabrik mit circa 300 Arbeitern, Praktikanten hatten damals nur eine geringe Bezahlung. Nach dreimonatlicher [sic] Probezeit rief der Chef mich in sein Privatbüro und überreichte mir mit feierlicher Miene ein geschlossenes Kuvert, aus dem ich später eine Zehnguldennote entnahm, mein erstes verdientes Geld; ich war damals sechzehn Jahre alt.

Zu meinen größten Vergnügungen zählten in meinem damaligen Alter Theaterbesuch und Billardspiel. Um mir die Mittel zum Besuch des Theaters zu beschaffen, habe ich mich als Statist verdungen, wofür ich anstelle des Honorars Freikarten bekam. Diese Statisterei musste ich daheim natürlich streng verheimlichen, ebenso meine fleißige Betätigung als Mitglied der Theaterclaque. Die Ausgaben, die meine Kaffeehausbesuche mit sich brachten, deckte ich aus den Verdiensten, die mir aus Stundengeben zuflossen. Ich konnte mir sogar aus dem Überschuss selbst erst italienischen, dann französischen Unterricht bezahlen. Eine weitere große Leidenschaft war mir die Musik. Schon in Caslau bekam ich meine erste Geige, und den ersten Musikunterricht gab mir ein dortiger Mauteinnehmer. Viel habe ich bei ihm zwar nicht erlernt, doch setzte ich in Prag dieses Studium mit großer Hingabe fort, und es gab Tage, wo es mir gelang, trotz meiner vielfachen Beschäftigungen vier bis fünf Stunden zu üben. Ich wurde dann Mitglied eines Orchestervereins und verdiente mir auch ab und zu durch Mitwirkung in kleinen Kapellen, die sich in obskuren Wirtshäusern produzierten, ein weiteres Taschengeld.

Mein Chef konnte mich nicht leiden, ich weiß bis heute nicht warum eigentlich. Einst tat er mir einen großen Affront an, indem er, als er während seine Familie auf Urlaub war, einen zweiten Praktikanten bei sich schlafen ließ, um nicht allein zu sein. Diese Bevorzugung des anderen konnte ich ihm in kindischer Weise lange nicht vergessen. Nach dreijähriger intensiver Lehrzeit trat ich wegen zu geringer Bezahlung, ich hatte damals monatlich dreißig Gulden Gehalt, aus, um eine Stelle als Beamter bei der Assicurazione Generali anzunehmen. Ich hatte dort gleich um zehn Gulden mehr Gehalt (Entlohnung). Ich blieb auch dort nicht lange, denn gegenüber von meinem Bürofenster lockte mich eines Tages eine neue Firmentafel der ‚Berlitz School of Languages’ an. Ich riskierte den Weg über die Straße, sprach dort beim Direktor Mayour vor, um zu erforschen, wie teuer englische Stunden seien. Mayour, ein erst kürzlich aus Frankreich zugereister lebhafter Mann, frischer Mathematikprofessor, sprach nur wenige Brocken deutsch, gar nicht tschechisch. Seine Unbeholfenheit gab mir Mut zu der Frage, ob er einen kaufmännischen Leiter zu seinem Unternehmen benötige und bot ihm meine Dienste als eine Art Sekretär an. Er fand an mir scheinbar Gefallen und engagierte mich sofort mit 25 Gulden pro Woche mit der Verpflichtung auch tschechischen und deutschen Unterricht zu geben, natürlich auch mit der Berechtigung, die englischen Kurse gratis zu besuchen.
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Interview
Timothy Smolka