Tag #116538 - Interview #79580 (Timothy Smolka)

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Mein Abgangszeugnis von der Schule händigte mir mein gutartiger Lehrer Strießnig mit den Worten aus: ‚Ich will Gnade vor Recht ergehen lassen und habe dir lauter Einser gegeben; auch in Sitten, trotz deiner Streiche’. Onkel Isidor entließ mich, den 9½-jährigen, und wünschte mir fürs Gymnasium in Caslau, das ich nun besuchen sollte, viel Glück. Er gab mir einen großen Sack Kirschen, den ich meiner Mutter heimbringen sollte, und ich begab mich auf den Weg zum ungefähr 30 Minuten entfernten Bahnhof. Ich weiß nicht, wie es geschah, als ich an den Bahnhof kam, war der Sack leer; ich muss die Kirschen wohl in meinem Abschiedsschmerz in Gedanken allein aufgegessen haben. Das mitgebrachte Zeugnis hat meine Mutter sichtlich erfreut. Jetzt hieß es, für die Aufnahmeprüfung ins tschechische Gymnasium, von der deutschen Volksschule kommend, umlernen. Ich wurde von der Lehrerin Plackova in acht Wochen einem unerhörten Drill unterzogen und bestand die Prüfung. Zähneklappernd vor Aufregung kam ich dann nach Hause, um bald darauf mit dem Besuch des Gymnasiums zu beginnen. Gleichzeitig mit mir begann auch ein in Caslau ansässiger Vetter, Max Smolka, diese Schule zu besuchen. Unser Klassenvorstand, Professor Marek, ein stattlicher Mann mit blondem Vollbart, dem Aussehen nach mehr Germane als Tscheche, rief mich und meinen Vetter beim Vornamen, um uns zu unterscheiden. Von nun ab war ich nur Vojtech, zu Hause aber nach wie vor Bertjik gerufen. Vojtech stellte sich im Nu aufs Tschechische um und ging dann so weit, dass er unter dem Einfluss der Umgebung, ein glühender Patriot wurde. Ich brachte ein Semester nach dem anderen recht gute Zeugnisse heim; vier Jahre vergingen ziemlich ereignislos. Ich lernte herzlich wenig, entsprach fast immer und wenn ich zum Beispiel in Geschichte oder Geographie hängen blieb, nahm ich die frühen Morgenstunden zu Hilfe, um das Fehlende einzupauken. Auf einem solchen, dem Studium gewidmeten, Morgenspaziergang, es war wohl im Juni und etwa vier oder fünf Uhr Früh, traf ich unseren Direktor Müller. Er war sehr empört, mich so zeitlich [sic] auf zu sehen und meinte, ich gehörte um diese Zeit noch ins Bett, was meinen Männerstolz sehr verletzte.
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Interview
Timothy Smolka