Tag #116530 - Interview #78523 (Vera Stulberger)

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Mein Mann wusste sehr viel, denn er hatte die Talmud Schule besucht, er war ein großer Talmud Hochem. Wir gingen in ein kleines Gebetshaus beten, denn mein Mann fuhr samstags nicht, und im Haus wohnte ein älteres Ehepaar, mit dem gingen wir zu Fuß über die Friedensbrücke, denn dort stand ein kleines Gebetshaus, und dorthin gingen wir beten. Mein Mann wurde in der Synagoge sehr geschätzt, denn die Juden müssen ja immer über etwas diskutieren, und er wurde immer um Rat gebeten, weil man wusste, dass er sehr lange Talmud gelernt hat. Leider ist er schon längst tot. Ich weiß nicht mehr, wann er gestorben ist, aber es war in den Achtzigern irgendwann.

Ich hatte zwei Kinder: einen Sohn, György, und eine Tochter, Agnes. Mein Sohn wurde 1948 geboren, er lebt leider nicht mehr. Meine Tochter wurde 1952 geboren. Sie wurde in Hajdúnánás geboren, aber den Kindergarten hat sie schon hier in Wien besucht. Sie spricht perfekt ungarisch, aber ungarisch lesen und schreiben kann sie nicht, das hat sie nie gelernt. Und meine Enkelin Daniela wollte nie ungarisch lernen. Ági erhielt eine religiöse Erziehung, sie hat sogar Abitur in Religionslehre gemacht. Jetzt arbeitet sie als medizinische technische Assistentin im pathologischen Labor des AKHs. Daniela ist noch religiöser als ich. Wir sagen ihr immer, dass sie die Rebecin (Frau des Rabbiners) in der Familie ist. An Feiertagen fährt sie nicht einmal mit dem Fahrstuhl. Aber das wäre schon zuviel für mich. Die großen Feiertage halte ich ein, ich fahre an diesen Tagen nicht, ich gehe dann zu meiner Tochter rüber, und am nächsten Tag komme ich nach Hause. Zu Jom Kippur fasten alle, zu Pessah isst keiner Chomez (Zu Pessach darf man nur Ungesäuertes essen, alles andere nennt man Chamez – in jiddisch: Chomez), das halten wir immer anständig ein. Ich kaufe aber kein koscheres Fleisch. Bei meiner Tochter wird gar kein Schweinefleisch gekauft, aber nicht nur weil es nicht koscher ist, sondern auch weil das Fleisch fett ist. Meine Enkelin zum Beispiel isst gar kein Schweinefleisch.
Interview
Vera Stulberger