Tag #116433 - Interview #78548 (Emilia Ratz)

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Wir gingen die ganze Nacht. In der Früh kamen wir in ein Städtchen, das heißt Przemyslany [heute: Ukraine]. In diesem Ort wollten wir uns ausruhen. Ich klopfte an das erste Häuschen. Das war ein Schuster, und es waren wahnsinnig arme Leute. Das war eine Armut, die ich nicht kannte. Wir benahmen uns fast wie Okkupanten - wir brauchten Platz, um zu schlafen. Nach ein paar Stunden gingen wir in die Stadt und sahen einen Bus, um den wahnsinnig viele sowjetischen Parteiangestellte mit Sack und Pack standen. Wir hatten jeder einen Rucksack, und im Rucksack war fast nichts. Man kam nur in den Bus hinein, wenn man auf einer Liste stand. Der Bus sollte nach Kiew fahren. Auf normale Weise hatten wir überhaupt keine Chance mitzufahren. Aber wir waren jung und stark, und Gewalt rettete uns. Wir haben die anderen gestoßen und uns vorgedrängelt, um in den Bus zu kommen. Während der Fahrt hörten wir keine Bomben, es war Ruhe. Als wir in eine Stadt kurz vor Tarnopol [heute: Ukraine] kamen, war ein schrecklicher Bombenangriff. Vom Wald schoss man pausenlos auf die russischen Truppen, das waren die Ukrainer.

Als es wieder ruhig wurde, fuhren wir nach Tarnopol. Dort machte der Bus eine Pause. In dem Moment beschloss ich, in Tarnopol zu bleiben und auf Martin zu warten, denn mein Herz sagte mir, nur dort könne ich ihn noch treffen, denn Tarnopol war die letzte polnische Stadt vor der ehemaligen polnischen Grenze.

In der Nacht wurde ziemlich stark gebombt, aber wir schliefen im Rathaus auf dem Boden. In der Früh überlegten wir, was wir tun können. Wir hatten schon wenig Kraft, und dann traf ich meinen Mann, der einige Stunden später nachgekommen war. Martin trug seinen Herbstmantel aus Wien und um den Hals eine lange blaue Männerunterhose, die unten an den Hosenbeinen zugebunden war. In den Hosenbeinen befand sich Zucker, den er neben zerbombten Militärfahrzeugen gefunden hatte. Von diesem Moment an blieben mein Mann und ich zusammen.

Auf einem Güterzug flüchteten wir in Richtung Osten. Wir wussten nicht, wo wir uns befinden, wo der Zug stehen bleibt. Wir wussten einfach nichts, es war ein totales Chaos. Wir wollten nur weg von den Deutschen! Wir beschlossen, nach Kiew zu fahren. Da hörten wir Kiew sei schon eingekreist, Odessa sei schon eingekreist. Wir wollten aber unbedingt in eine große Stadt an eine Universität, um weiter zu studieren. Ich glaube, wir bestiegen zehn verschiedene Züge. Wir kamen in Dnepropetrowsk, einer ziemlich großen Stadt an und dachten, hier bleiben wir. Und in der Nacht wurde die Stadt das erste Mal bombardiert. Wir beschlossen, da wir kein Geld hatten, in irgendeiner Kolchose zu arbeiten. Der Ort hieß Kotelnikowo [heute: Russland], später tobten dort ziemlich harte Kämpfe.

Ich verdarb mir da meinen Magen mit einer fetten Schafsuppe, ich hatte niemals im Leben Schaffleisch gegessen. Alle glaubten, ich hätte Typhus, aber Martin beschloss, mich zu retten und mit mir in ein Spital zu fahren - in dem Ort gab es nämlich keinen Arzt. Wir fuhren mit einem Fuhrwerk zu einem Arzt, und als wir beim Arzt ankamen, war ich eigentlich schon gesund - ausgehungert, aber gesund. Da mein Mann eine gute Erziehung hatte, musste immer alles ordentlich zugehen, und so verkaufte er seine Uhr, das einzig Wertvolle, was er noch besaß. Auf dem Markt hätte er wahrscheinlich das Zehnfache bekommen, aber er ging in ein staatliches Geschäft, verkaufte die Uhr, und für das Geld kaufte er Fahrkarten für den Zug nach Stalingrad. Wir waren dann die Einzigen in der ganzen Sowjetunion, die mit Fahrkarten in einen Zug stiegen. Als ich das später Freunden erzählte, erzielte ich immer große Lacherfolge.

Mein Mann hatte eine kleine Verletzung am Bein durch Feldarbeiten mit einer Sense. Das wurde so schlimm, dass er in Stalingrad ins Spital musste. Durch eine falsche Diagnose wurde er unter Quarantäne gestellt. Ich blieb in einem Flüchtlingslager, wo man theoretisch aber nur 24 Stunden bleiben durfte.
Interview
Emilia Ratz
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