Tag #116426 - Interview #78523 (Vera Stulberger)

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In Tiszacsege gab es eine orthodoxe Glaubensgemeinde, es gab eine Synagoge und auch eine Mikve (Ritualbad). Einen Schames gab es, aber einen Rabbi nicht, aber meinen Geschwistern wurde die Religion zu Hause beigebracht. Der Lehrer hatte es nicht so schwer, denn es gab wenig jüdische Familien, also kam er immer zu uns nach Hause. Mein Bruder wollte sich vor ihm immer verstecken. Meine Eltern waren früher sehr religiös, aber in ihren letzten Jahren haben sie sogar Schweine geschlachtet. Meine Großeltern führten einen koscheren Haushalt. Aber es war nie ein Problem, ich habe nie gehört, dass man etwas nicht machen darf. In der Schule war es überhaupt kein Thema, ob man Jude oder Christ ist. Ich hatte Freundinnen, die in derselben Gegend wohnten wie wir, wenn sie im Mai zur Litanei gingen, begleitete ich sie ein Stück, oder sie kamen samstags nach der Kirche bei uns vorbei, oder ich ging zu ihnen, und wir spielten zusammen.

Ich kann es bis heute schätzen, wenn jemand seiner Religion und den Sitten treu ist, ich bin selber religiös gesinnt. Ich kann lesen, aber das jüdische Schreiben hat man mir nie beigebracht, aber ich weiß die Bedeutung aller Feiertage, und ich halte es auch ein. Soviel halte ich auf jeden Fall ein, dass ich samstags nicht koche, das heißt nicht, dass ich gar nicht koche, von ein paar Kartoffeln wird schon nichts passieren.

Es war bei uns nie ein Thema, wer Jude ist. Meine Eltern hielten sich für ungarische Juden. Man diskutiert, ob jetzt das Judentum ein Volk oder eine Religion ist, aber wir waren Ungarn, ungarische Juden. Zu Hause sprachen wir ungarisch, auch mein Mann, obwohl er auch Jiddisch konnte, er hatte es in der Talmudschule gelernt. Meine Eltern konnten keine andere Sprache, nur ungarisch.
Interview
Vera Stulberger