Tag #116336 - Interview #78548 (Emilia Ratz)

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Und wirklich, ich hatte auf der Uni viele Bekannte. Ich war die Jüngste von allen, und alle fühlten sich verpflichtet, mir zu helfen. Es war Anfang November und die Prüfungen waren schon vorbei. Aber es gab ein Studentenkomitee, denn es war ein außergewöhnlicher Jahrgang. Es waren viele Leute, die niemals die Uni hätten betreten dürfen, Juden und Kommunisten. Und sie hatten erkämpft, dass wir eine außerordentliche Prüfung ablegen durften, um zu studieren.

Mit dem Wohnen allerdings war es kompliziert. Im Studentenheim herrschte ein so genannter ‚Kommandant’, das war ein älterer Student. Zu meinem Unglück besaß ich einen Mantel, den mir meine Mutter zur Matura hatte anfertigen lassen. Dieser Mantel hatte einen Persianerkragen. Der ‚Kommandant’ des Studentenheimes beschloss, wer einen Mantel mit einem Persianerkragen trägt, ist reich. Ich hatte überhaupt kein Geld und konnte mir keine Wohnung leisten. So lebte ich zwei Monate illegal, da wo ich schlief, eine Nacht hier, eine Nacht dort, gab man mir auch etwas zu essen. Ich musste viel lernen und die Prüfungen schnell absolvieren. Im Juni hatte ich maturiert, jetzt musste ich Mathematik-, Chemie-, und Physikprüfungen ablegen. Alle meine Freunde lernten mit mir, damit ich die Prüfungen gut bestehe, und ich schaffte es. Mein Traum erfüllte sich, ich konnte mit dem Chemiestudium beginnen.

Durch einen Trick bekam ich nach zwei Monaten doch einen Platz im Studentenheim. Nach den Prüfungen bekam ich auch ein Stipendium, aber von diesem Stipendium konnte man nicht leben und nicht sterben. Ich arbeitete neben dem Studium - Böden waschen und Pullover für ein Geschäft stricken. Eine Geschäftsfrau hatte Wolle versteckt, und ich strickte für das Geschäft die Pullover, was verboten war. Übrigens hasse ich stricken. Meine dritte Arbeit war die verwegenste, weil ich überhaupt kein Talent zum freien Zeichnen habe. Ich zeichnete für die englische Fakultät Tafeln zum Veranschaulichen der Vokabeln für den Sprachunterricht. Körper brachte ich irgendwie aufs Papier, aber die Köpfe zeichnete ein Freund, der Architektur studierte, der kam jeden Abend, um mir zu helfen.
Interview
Emilia Ratz
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