Tag #116333 - Interview #78548 (Emilia Ratz)

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Ich terrorisierte von außen meine Eltern und sagte, ich käme nur dann zurück, wenn sie wenigstens mich gehen ließen. Ich war noch nicht volljährig, aber es fehlten nur ein paar Monate.
Bereits kurze Zeit nach dem Einmarsch der Deutschen nach Warschau sah ich, wie man auf einem Markt einem Juden den Bart abschnitt. Ich sagte zu meinen Eltern: ‚Ich weiß, ich habe hier keine Chance. Ihr habt auch keine Chance, aber ich kann euch nicht zwingen mitzukommen.’ Mein Vater blieb stur, es kam für ihn nicht in Frage, mich gehen zu lassen, und in dem Moment sagte meine Mutter zu meinem Vater, sie brachte wahrscheinlich ihren ganzen Mut auf: ‚Weißt du was, ich kann für Mila die Verantwortung nicht übernehmen, ich weiß nicht, was passieren wird.’ Daraufhin stimmte mein Vater zu. Seine Bedingung war, ich dürfe nicht mit allen ‚Verrückten’ gehen, er besorgte ein Taxi für mich. Mit dem Taxi sollte ich zum Bruder meiner Mutter, Onkel Joel, nach Bialystok fahren, und der werde sich schon um mich kümmern. Mein Vater steckte noch 100 Zloty in meine Schuhe, was überhaupt keinen Sinn hatte, denn mit dem Geld konnte ich überhaupt nichts mehr anfangen.

Ich besitze kein einziges Foto von meinen Eltern und meiner Schwester, denn mein Vater kontrollierte noch meinen Rucksack, und er fand ein Kuvert mit Fotos, das ich eingesteckt hatte. Er nahm alle Fotos aus dem Kuvert, nur Fotos von mir ließ er drinnen und sagte: ‚Wenn du dich gefährden willst, bitte, aber du wirst nicht die ganze Familie gefährden.’ Darum besitze ich kein einziges Familienfoto.

Mit mir fuhr eine Frau mit einem Baby, ihr Mann war schon auf der russischen Seite. Aber wir wussten nicht, dass am 17. Oktober 1939 die Teilung Polens durch den Hitler-Stalin-Pakt [14] in deutsches und russisches Gebiet stattgefunden hatte. Das Taxi kam gerade mal ganze 20 Kilometer. Dann konfiszierten es die Deutschen. In diesem Durcheinander sagte die Frau mit dem Baby zu mir, sie gehe wieder zurück. Ich bat sie, zu meinen Eltern zu gehen und ihnen zu erzählen, sie habe mich aus den Augen verloren. Ich schloss mich daraufhin absolut fremden Leuten an, und wir gingen zu Fuß weiter. Ich glaube, es waren ungefähr 300 Kilometer bis nach Bialystok [heute Weißrussland]. Das war ein bisschen ein Schafgefühl - alle gehen, ich gehe auch. Manchmal nahm uns irgendein Bauer mit seinem Fuhrwerk mit, Autos fuhren kaum, denn erstens gab es nur wenige Autos, und diese wenigen Autos hatten die Deutschen requiriert.

Wie viele Tage wir unterwegs waren, weiß ich nicht. Halb verhungert und halb verdurstet bekamen wir manchmal etwas Milch von Bauern. Geld spielte überhaupt keine Rolle mehr. Aber wenn man ein Stück Seife hatte, und ich hatte ein paar Stück Seife - das hatte mein Vater richtig erkannt - konnte man sie gegen Lebensmittel eintauschen.

Wir kamen an die Demarkationslinie und bei meiner Gesinnung damals glaubte ich, dass die Sowjets an der Grenze stehen und auf mich warten. Zufällig war gerade kein deutscher Posten da, und wir liefen schnurstracks auf die sowjetische Seite. Der russische Grenzsoldat nahm den Karabiner, hielt ihn auf uns und sagte: ‚Stoi! Zurück!’

Dreimal versuchten wir herüber zu kommen, dreimal übergaben uns die Russen zum Glück nicht den Deutschen, das war so ein neutraler Streifen. Dann beschlossen wir - ich war die Jüngste - wir gehen ins Dorf und versuchen, einen Bauern zu finden, der uns über die grüne Grenze fährt. Der Bauer, den wir fanden, gehörte zu einer deutschen Minderheit, die sehr arm war. Er fuhr uns ein Stück mit seinem Boot. ‚Zur Sicherheit’, wie er sagte, nahm uns dieser Bauer allen Schmuck, auch meine Uhr und meinen Ring, den mir mein Onkel Ignatz aus Südamerika geschenkt hatte, ab. Diese Flucht missglückte, aber wir schafften es dann doch, illegal die Grenze zu passieren. Ich verkühlte mich, es war Oktober und die Nächte waren schon kalt. Mit 17 Jahren denkt man nicht so viel an Krankheiten, denn ich hatte einen Mantel, den ich aber vergessen hatte anzuziehen. Als ich in Bialystok bei meinen Verwandten ankam, öffnete die Frau von Onkel Joel die Tür, schaute mich an und wollte mich nicht hereinlassen, weil sie mich nicht erkannte - in so einem schrecklichen Zustand war ich. Sie hat geglaubt, vor ihr steht eine Bettlerin.

Am nächsten Tag hatte ich Fieber, aber als ich ein bisschen zu mir kam, übernahm mein Onkel Joel, im Namen meines Vaters, die Führung. Er sagte, dass seine liebe Schwester Marija immer so wahnsinnig tolerant ist und das sei nicht gut für die Kinder, und jetzt werde er mir zeigen, was Ordnung sei. ‚Du bleibst hier, arbeiten kommt überhaupt nicht in Frage, wir werden schon einen Partner für dich finden.’ Als ich dann gesund war, habe ich gesagt: ‚Weißt du was, ich bin ein Mensch, und du bist auch nicht mein Vater, und außerdem bin ich fast volljährig!’ Und er sagte: ‚Du bist ein Kind!’ Ich wollte mit ihm keinen großen Streit, also ging ich den nächsten Tag ins Zentrum der Stadt und fand eine Flüchtlingsorganisation. Ich hatte kein gültiges Geld, und meine Schuhe waren zum wegschmeißen. Von der Flüchtlingsorganisation erhielt ich kostenlos ein Ticket nach Lemberg, ging zu meinem Onkel und sagte: ‚Morgen fahre ich nach Lemberg!’ Selbstverständlich gab es wieder einen ähnlichen Skandal wie zu Hause. Aber ich ließ mich nicht abhalten, ich wollte studieren und in Bialystok gab es keine Möglichkeit dazu. Der Onkel sagte: ‚Du kennst doch dort keinen Menschen!’ Ich sagte: ‚Aber ich gehe doch nicht in die Wüste!’

Als ich am Abend in Lemberg aus dem Zug stieg, stand ich auf dem Bahnhof wie eine arme Waise. Ich war niemals vorher in dieser Stadt. Ich wusste, dass Lemberg ein kulturelles Zentrum ist, mehr aber auch nicht. Eine Frau sprach mich an und sagte zu mir:
‚Mädchen du bist sicher ein Flüchtling!’
‚Ja!’
‚Hast du jemandem, wo du schlafen kannst?’
‚Nein!’
‚Du kannst bei mir schlafen. Ich habe leider nur eine sehr kleine Wohnung, aber ich lege dir eine Matratze in die Badewanne, und dort kannst du schlafen.’
Ich sagte: ‚Wissen Sie, ich will auf die Uni!’ Meine Wohltäterin war eine Lehrerin. Ich sagte: ‚Ich habe überhaupt kein Geld, aber auf der Uni habe ich vermutlich sehr viele Freunde.’ Ich kannte ja aus Warschau viele junge Leute, auch ältere Studenten.
Location

Lviv
Ukraine

Interview
Emilia Ratz
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