Tag #115437 - Interview #78532 (Franziska Smolka)

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Mein Vater war ein sehr bewusster Österreicher, ein wirklicher Patriot im besten Sinne. Er saß oft mit meiner Schwester und mir auf dem Diwan und sang mit uns Volkslieder. Es war ihm sehr wichtig, dass wir österreichische Volkslieder lernen. Als wir nach Österreich zurückkamen, kannte ich eine Menge österreichischer Volkslieder, aber die Kinder hier konnten sie nicht, weil die in der Zwischenzeit ganz andere Dinge gelernt hatten. Er hat uns auch deutsche Kinderbücher vorgelesen. Wir hatten ein entzückendes Buch mit Jugendstilillustrationen mit den Kindergedichten von Christian Morgenstern [16], die konnten wir natürlich alle auswendig. Und selbstverständlich gab es den Struwelpeter, ein schreckliches Buch! Ich habe das meinen Kindern nicht vorgelesen. Ich habe mich sehr gefürchtet, weil ich Daumen gelutscht habe, denn da wird dem Buben, der Daumen lutscht, der Daumen abgehackt.

Wir hatten kein Radio, aber es gab so etwas wie einen Lautsprecher. Ich glaube, das war eine Haus-Radioanlage. An der Wand hing eine große Landkarte und die Eltern markierten den Verlauf der Front mit roten Fähnchen. Wenn aus dem Lautsprecher irgendwelche Mitteilungen kamen, dann standen die Eltern an der Landkarte und haben genau studiert, wo diese Ortschaften sind, das musste dann fest gehalten werden. Ansonsten kann ich mich an politische Dinge überhaupt nicht erinnern, ich war zu klein damals. Ich weiß, dass meine Eltern kaum Informationen über die Situation des Krieges hatten. Sie konnten nur die russische Presse lesen, aber was auf der Welt geschah, wussten sie nicht. Ab Juni 1943, nach unserer Rückkehr nach Moskau, arbeitete aber meine Mutter in der Abhörabteilung des Rundfunks. Alle Sendungen in deutscher Sprache, auch die deutschen Sendungen der BBC, wurden von ihr und einer Kollegin mitstenographiert. Ab dieser Zeit war sie besser informiert. Aber über die Massenvernichtung der Juden in den Konzentrationslagern erfuhr sie erst im Jahre 1945, als ein befreundeter Soldat, der bei der Befreiung des KZ Auschwitz dabei war, auf Urlaub in Moskau war. Mein Vater unterrichtete in dieser Zeit in der so genannten Antifa-Schule. Das war eine Schule für Kriegsgefangene, in der die Leute politisch umerzogen wurden.

Meine Schwester wurde mit sechs Jahren eingeschult. Damals begannen dort die Kinder mit acht Jahren in die Schule zu geben, aber mein Vater sagte, wir werden zurückfahren und er möchte nicht, dass sie zwei Schuljahre verliert. Ich glaube, das war eine Höllenidee, denn sie war um einiges jünger und kleiner als die anderen. Das war für sie ein ziemlicher Stress. Die Schule war im Nachbarhaus und eine sehr bekannte Schule, denn Stalins und Molotows [17] Töchter gingen auch in diese Schule. In der Schule trug sie ein schwarzes Kleid mit weißem Kragerl und das rote Pioniertuch. Das weiße Kragerl musste immer gebügelt werden. Außerdem hatte sie eine weiße Masche in ihr Haar bekommen. Ich wollte so gerne auch eine bekommen.

Häufig besuchten am Abend Onkel Walter und Tante Magda, die im Nachbarhaus wohnten, meine Eltern. An diese Besuche erinnere ich mich genau, weil ich die beiden sehr gern hatte. Tante Magda war gelernte Kindergärtnerin und sie beschäftigte sich immer mit mir. Sie hatte schwarze, in Wellen gelegte Haare, wunderschöne mandelförmige schwarze Augen und sehr schlanke, schöne Hände. Auch kam oft eine Dame, die strickte für uns aus Baumwolle Unterwäsche und Tilde Brüll, über die ich viel später erfuhr, dass ihr Mann einer der Schutzbündler war, die verhaftet wurden und nie wieder zurückkamen. Sie besuchte des Öfteren am Abend meine Eltern mit noch einer anderen Dame, deren Namen ich vergessen habe. Auch Leute aus dem Haus besuchten meine Eltern. Sicher wurde bei diesen Besuchen über die politische Situation, über die Verhaftungen gesprochen. Diese Treffen waren die Informationsquelle. Von den anderen hörte man, dass der oder jener nicht mehr da war oder was sonst vorgefallen war. Meine Mutter erzählte in einem Interview, dass sie gab, dass sie selbstverständlich wussten, das Leute abgeholt wurden und sich den Kopf zermarterten, welche Ursachen das haben könnte, weil viele der Verhafteten politisch überhaupt keine politischen Ambitionen hatten.

Ich habe versucht, später mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Was ich aus ihr herausgekriegt hab, bis zum Schluss ist, dass sie gesagt hat: ‚Du darfst nie vergessen, dass dieses Land uns das Überleben ermöglicht hat.’ Ich glaube nicht, dass meine Eltern bewusst etwas zugedeckt haben.
Tatsache ist nun einmal: Wären meine Eltern nicht aus Österreich weggegangen, wäre mein Vater aufgehängt worden. Es war Standrecht, und er war auf der Liste. Ob meine Mutter als Jüdin überlebt hätte, weiß ich nicht. Dieses Gefühl der Dankbarkeit kann ich schon verstehen. Aber dass das einen gleichzeitig völlig stumpf und kritiklos macht, das kann ich nicht verstehen.
Ich habe die Situation nicht erlebt, obwohl ich dort aufgewachsen bin. Ich bin in den Kindergarten gegangen, habe dort gut zu essen bekommen, ich hatte Freunde. Zweifellos hat es in dieser Zeit viel gegeben, das ich überhaupt in keiner Form wahrgenommen hab. Mir ist es gut gegangen. Ich kann mir auch vorstellen, dass Menschen, die älter als ich damals waren, in einer ähnlichen Situation gelebt haben. Sie waren froh, dass sie ihre Familie über Wasser halten konnten und wollten gar nicht zuviel wissen.
Interview
Franziska Smolka