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Als Erstes wurde das Geschäft meiner Mutter arisiert, das heißt das Lehrmädchen übernahm die Geschäftsführung. Die Auslage wurde mit antisemitischen Parolen beschmiert: "Kauft nicht bei Juden", "Juden nach Palästina" u. s. w. Die "Ariseurin" verlangte von meiner Mutter, sie solle das Fenster abwaschen, doch meine Mutter sagte, die Aufschriften würden sie nicht stören! Das Mädchen lief immer ins "Deutsche Haus", wo das Hauptquartier der Gestapo war, um neue Instruktionen zu erhalten. Wir mussten täglich die ganze Losung an die Deutschen abliefern. Jeden Tag kamen neue Gesetze, die uns Juden zu Bürgern dritten Grades machten und später dann zu "Untermenschen".
Mein Vater war Direktor einer großen Textilfabrik und wurde sofort gekündigt. Die Leitung der Fabrik übernahm der frühere Schlosser. Nach einigen Tagen sah man, dass es so nicht funktioniert, und man rief meinen Vater wieder zurück. Da aber Juden nicht mehr die Straßenbahn benutzen durften, verlangte mein Vater eine Transportmöglichkeit. So kam es, dass täglich zwei SS-Männer mit ihrem "Kübelwagen" meinen Vater abholten und abends wieder zurückbrachten. Das war natürlich sehr riskant, denn man sperrte Juden ganz grundlos ein. Wir hatten ein großes Zimmer mit sechs Fenstern und weitem Ausblick, ich sehe meine Mutter gegen Abend von einem Fenster zum anderen gehen und Ausschau halten, ob mein Vater auch wieder nach Hause kommt! Von all diesen Aufregungen bekam meine Mutter einen Stimmbänderkrampf und verlor ihre Stimme. Es war eine sehr aufregende Zeit, und wir alle wurden sehr eingeschüchtert und verschreckt. Das war aber erst der Anfang, und G’tt sei Dank blieben mir und meiner Familie die weiteren Schrecken erspart! Denn schon im Mai kam ein Brief an einige Textilfabriken in Brünn, man suche einen Fachmann zwecks Errichtung eines Werkes in Palästina. Mein Vater meldete sich sofort, und nun begann die bange Zeit des Wartens! Inzwischen kamen immer neue Gesetze, und wir wurden immer mehr unserer bürgerlichen Rechte beraubt. Als es soweit war und wir alle nötigen Bestätigungen beieinander hatten, mussten wir alle Schmuck und Wertsachen an die Deutschen abgeben. Auf alles was wir ausführen wollten mussten wir 1oo Prozent Abgaben zahlen, außerdem eine Reichsfluchtsteuer, Judenvermögensabgabe, usw. Geld durften wir sowieso keines mitnehmen, so kauften meine Eltern alles, was sie dachten in nächster Zukunft brauchen zu können.
Als alle unsere Sachen eingepackt waren, übersiedelten wir zu meiner Tante - der Schwester meiner Mutter - nach Königsfeld, einem Vorort von Brünn. Die Schule ging zu Ende. Es waren immer weniger Schüler da, denn wer konnte, reiste aus. Es war ein sehr heißer Sommer, aber wir durften weder in einen Park gehen, noch in eine Badeanstalt, auch war uns das Benützen von Straßenbahn und anderen Verkehrsmitteln verboten. So schlichen wir in der Umgebung der Stadt herum, und die Nervosität unserer Eltern übertrug sich auch auf uns. Der Vater von Ruth, der als Präsident der Kultusgemeinde als einer der Ersten verhaftet worden war, wurde entlassen. Er kam als gebrochener, total veränderter Mann zurück und durfte nie erzählen, was ihm zugestoßen war.
Endlich kam der Tag unserer Abreise. Die Schwestern meines Vaters begleiteten uns noch bis Prag, dort wohnten wir noch zwei drei Tage im Hotel Paris, dann kam der Abschied auch von den letzten Familienmitgliedern. Besonders in Erinnerung ist mir der Abschied von meinen Großeltern. Unser Verhältnis war immer sehr distanziert. Ich erinnere mich nicht, mit ihnen gespielt oder Zärtlichkeiten oder Geschenke bekommen zu haben. Wir gingen hin, weil wir die Mama begleiteten. Doch an dem Tag, als ich mit meiner Mutter mich verabschieden ging, weinte mein Großvater bitterlich und suchte in einer Schachtel nach einem Geschenk für Kurt. Er wusste, wir würden einander nie mehr wieder sehen!
Mein Vater war Direktor einer großen Textilfabrik und wurde sofort gekündigt. Die Leitung der Fabrik übernahm der frühere Schlosser. Nach einigen Tagen sah man, dass es so nicht funktioniert, und man rief meinen Vater wieder zurück. Da aber Juden nicht mehr die Straßenbahn benutzen durften, verlangte mein Vater eine Transportmöglichkeit. So kam es, dass täglich zwei SS-Männer mit ihrem "Kübelwagen" meinen Vater abholten und abends wieder zurückbrachten. Das war natürlich sehr riskant, denn man sperrte Juden ganz grundlos ein. Wir hatten ein großes Zimmer mit sechs Fenstern und weitem Ausblick, ich sehe meine Mutter gegen Abend von einem Fenster zum anderen gehen und Ausschau halten, ob mein Vater auch wieder nach Hause kommt! Von all diesen Aufregungen bekam meine Mutter einen Stimmbänderkrampf und verlor ihre Stimme. Es war eine sehr aufregende Zeit, und wir alle wurden sehr eingeschüchtert und verschreckt. Das war aber erst der Anfang, und G’tt sei Dank blieben mir und meiner Familie die weiteren Schrecken erspart! Denn schon im Mai kam ein Brief an einige Textilfabriken in Brünn, man suche einen Fachmann zwecks Errichtung eines Werkes in Palästina. Mein Vater meldete sich sofort, und nun begann die bange Zeit des Wartens! Inzwischen kamen immer neue Gesetze, und wir wurden immer mehr unserer bürgerlichen Rechte beraubt. Als es soweit war und wir alle nötigen Bestätigungen beieinander hatten, mussten wir alle Schmuck und Wertsachen an die Deutschen abgeben. Auf alles was wir ausführen wollten mussten wir 1oo Prozent Abgaben zahlen, außerdem eine Reichsfluchtsteuer, Judenvermögensabgabe, usw. Geld durften wir sowieso keines mitnehmen, so kauften meine Eltern alles, was sie dachten in nächster Zukunft brauchen zu können.
Als alle unsere Sachen eingepackt waren, übersiedelten wir zu meiner Tante - der Schwester meiner Mutter - nach Königsfeld, einem Vorort von Brünn. Die Schule ging zu Ende. Es waren immer weniger Schüler da, denn wer konnte, reiste aus. Es war ein sehr heißer Sommer, aber wir durften weder in einen Park gehen, noch in eine Badeanstalt, auch war uns das Benützen von Straßenbahn und anderen Verkehrsmitteln verboten. So schlichen wir in der Umgebung der Stadt herum, und die Nervosität unserer Eltern übertrug sich auch auf uns. Der Vater von Ruth, der als Präsident der Kultusgemeinde als einer der Ersten verhaftet worden war, wurde entlassen. Er kam als gebrochener, total veränderter Mann zurück und durfte nie erzählen, was ihm zugestoßen war.
Endlich kam der Tag unserer Abreise. Die Schwestern meines Vaters begleiteten uns noch bis Prag, dort wohnten wir noch zwei drei Tage im Hotel Paris, dann kam der Abschied auch von den letzten Familienmitgliedern. Besonders in Erinnerung ist mir der Abschied von meinen Großeltern. Unser Verhältnis war immer sehr distanziert. Ich erinnere mich nicht, mit ihnen gespielt oder Zärtlichkeiten oder Geschenke bekommen zu haben. Wir gingen hin, weil wir die Mama begleiteten. Doch an dem Tag, als ich mit meiner Mutter mich verabschieden ging, weinte mein Großvater bitterlich und suchte in einer Schachtel nach einem Geschenk für Kurt. Er wusste, wir würden einander nie mehr wieder sehen!
Period
Year
1939
Location
Brno
Czechia
Interview
Edith Landesmann